Begriffsbestimmung
Es gibt keine allgemeingültige Definition des Begriffs Behinderung; "Behinderung ist […] kein statisches, immer gleiches, oder medizinisch 'objektiv' beobachtbares Phänomen, sondern ganz im Gegenteil kontinuierlich Veränderungen und Verschiebungen innerhalb der gesellschaftlichen Wahrnehmungen ausgesetzt, durch die sie immer wieder neu konstruiert wird" (Nowicki 2019, S. 22).
Erst im letzten Jahrhundert hat sich der Begriff Behinderung zur Bezeichnung einer bestimmten Gruppe von Menschen durchgesetzt. In der Vergangenheit wurde Behinderung entweder mit dem Begriff Krankheit gleichgesetzt oder mit Hindernissen in Bewegungs- oder Prozessabläufen in Verbindung gebracht. Mit dem Aufkommen der ersten Normalitätskonzepte im 19. Jahrhundert rückte auch die Orientierung an der Leistungsfähigkeit und Nützlichkeit des Menschen ins Zentrum der Betrachtung. Vorherrschend wurde die "Konstruktion des Abweichenden: Krankheit als Abweichung von Gesundheit oder Behinderung als Abweichung von Funktionsfähigkeit" (Hirschberg 2020, S. 14). Demnach ist Behinderung antithetisch zur Normalität zu verstehen, "wobei der Maßstab ›normal‹ – der Norm entsprechend – wiederum relativ gesehen werden muß, da er in unterschiedlichen Gesellschaften und zu verschiedenen Zeiten variiert" (Elbrechtz 1979, S. 81). Gleichzeitig werden aus derzeitiger Sicht unter dem Begriff Behinderung viele verschiedene Merkmale subsumiert. Die daraus resultierenden Unterschiede hinsichtlich Funktions- und Erlebniszustände erschweren die Konzipierung eines gemeinsamen Konzepts. Im Folgenden soll ein Überblick über verschiedene Definitionen gegeben werden, um die Vielschichtigkeit des Begriffs zu verdeutlichen.
Behinderungsklassifikation der WHO
Das wohl bedeutendste Bezugssystem bietet die Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Diese wurde 1980 erstmalig als International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps (ICIDH) veröffentlicht, da zunehmend deutlich wurde, dass Behinderung nicht mit dem Konzept von Krankheit (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, kurz: ICD) gleichzusetzen ist (Hirschberg 2020, S. 14). Die ICIDH wurde 2001 von einer neuen Fassung, der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF), abgelöst. Die WHO unterschied damals impairment (Schädigung), disability (Fähigkeitsstörung) und handicap (soziale Benachteiligung) (WHO 2005, S. 144). Kritisiert wurde insbesondere, dass die individuelle Schädigung als alleinige Ursache für die Fähigkeitsstörung und die soziale Benachteiligung angesehen werde (Waldschmidt 2005, S. 16). In der neuen Fassung wurde der Begriff handicap durch den Begriff disability (jetzt: Behinderung) als Überbegriff für alle drei Aspekte (Körper, Individuum und Gesellschaft) ersetzt und versteht damit Behinderung als Interaktion zwischen einer Person und ihrer Umwelt (WHO 2005, S. 5 f.). Im Gegensatz zur älteren Version liegt der Fokus nun auf der Funktionsfähigkeit eines Menschen und damit zusammenhängend auf dem Einbezug der Konzepte der Körperfunktionen, Körperstrukturen, Aktivitäten, Partizipation (Teilhabe) an Lebensbereichen und umwelt- und personbezogenen (persönlichen) Faktoren und deren Wechselwirkungen im Rahmen eines bio-psycho-sozialen Modells. Demnach begreift die ICF Behinderung als eine Einschränkung in der Teilhabe, die das negative Resultat der Wechselwirkung zwischen einer Person mit einem gesundheitlichen Problem und ihren Kontextfaktoren (umwelt- und personbezogene Faktoren) widerspiegelt (WHO 2005, S. 145 f.). Damit ist Behinderung nicht nur als ein biologisches, sondern vor allem auch als ein soziales Problem zu verstehen. Das Ziel der WHO ist es, mit der ICF eine international einheitliche Kommunikation über die Folgen von gesundheitlichen Problemen unter Berücksichtigung des gesamten Lebenshintergrunds eines Menschen zu schaffen (WHO 2005, S. 11).
Kritisiert wird, dass zwar die gesellschaftliche Dimension von Behinderung betont werde, "dies […] jedoch nicht die generelle Konstruktion von Behinderung als Abweichung von Funktionsfähigkeit bzw. Nichtbehinderung" (Hirschberg 2020, S. 16) verändere. Auch Cloerkes merkt an, dass der "Ausgangspunkt […] die Schädigung als eine objektivierbare Abweichung von der Norm" (Cloerkes 2001, S. 5) sei. Unklar bleibe, woran sich diese Normabweichung bemesse.
Bestimmung von Behinderung in der UN-Behindertenrechtskonvention
Obwohl die verabschiedeten Menschenrechtsabkommen der Vereinten Nationen (UN) für alle Menschen gelten und dementsprechend auch für Menschen mit Behinderung, wurde beschlossen, die Rechte von Menschen mit Behinderung noch einmal ausdrücklich herauszustellen und deren Möglichkeiten der Rechtsausübung zu stärken. Dabei umfasst die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) "eine Antwort auf die systematische und strukturelle Benachteiligung behinderter Menschen weltweit" (Hirschberg 2020, S. 16).
Die UN-BRK wurde 2006 durch die UN-Generalversammlung in New York verabschiedet und trat 2009 auch in Deutschland in Kraft. Definiert wird dabei nicht Behinderung selbst, sondern die Gruppe von Menschen mit Behinderung: "Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können" (Organisation der Vereinen Nationen 2014, S. 7). Dabei unterscheidet die UN-BRK maßgeblich zwischen Behinderung und Beeinträchtigung. Beeinträchtigt ist eine Person, der eine bestimmte Körperfunktion fehlt, wie beispielsweise die Seh- oder Hörfähigkeit, oder wenn bestimmte Körperfunktionen eingeschränkt sind, z. B. die Geh- oder Kommunikationsfähigkeit. Dem gegenüber wird Behinderung nicht als eine individuelle Eigenschaft eines Menschen betrachtet, sondern, anknüpfend an die ICF, als "Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren […], die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern" (ebd., S. 4) verstanden. Darüber hinaus wird das Behinderungsmodell nicht als statische oder finale Größe angesehen, sondern bleibt gegenüber kulturellem und sozialem Wandel offen. So heißt es in der Präambel: „in der Erkenntnis, dass das Verständnis von Behinderung sich ständig weiterentwickelt" (ebd.).
Neukirchinger kritisiert, dass dieser "Menschenrechtsansatz […] sich prinzipiell gegen jede Wettbewerbs- und Verwertungslogik" (Neukirchinger 2020, S. 77) wende. Es werde der "strukturelle[-] Zwang zur Funktionalisierung im Kapitalismus als grundsätzliches Problem" (ebd.) verkannt. Nach ihr bedeute "Ökonomisierung und Wettbewerbsorientierung in nahezu allen Lebensbereichen […] immer eine Benachteiligung von behinderten Menschen, wenn sie sich nicht unter diesen Rahmenbedingungen ‚verwerten‘ lassen" (ebd.).
Behinderungsdefinition des Sozialgesetzbuchs IX
Zweck des Sozialgesetzbuchs (SGB) IX ist es, Leistungen zur Teilhabe von Menschen mit Behinderung zu definieren und zuzuweisen. Infolgedessen ist die dem Sozialgesetzbuch vorangehende Definition von Behinderung von zentraler Bedeutung.
Bereits der 2001 eingeführte Behinderungsbegriff im SGB IX basierte auf der Grundlage der ICF, da ein Zusammenhang zwischen gesundheitlichen Problemen und den daraus folgenden Einschränkungen in der Teilhabe hergestellt wurde. Von 2001 bis 2017 definierte das SGB IX Behinderung wie folgt: "Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist" (§ 2 Abs. 1 SGB IX; Fassung bis Ende 2017). Dadurch hat die Legislative das Ziel der Teilhabe an den verschiedenen Lebensbereichen zwar in den Vordergrund gerückt, kritisiert wurde jedoch – insbesondere von Vertreterinnen und Vertretern der Behindertenbewegung –, dass, anders als in der ICF, Schädigung und Behinderung im Sinne einer Beeinträchtigung der Teilhabe in einen Kausalzusammenhang gestellt wurden. Zudem bleibe offen, was ein Zustand sei, "der von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweiche[-]" (ebd.) und woran sich dieser bemessen würde.
Im Dezember 2016 wurde die Definition von Behinderung mit der Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) überarbeitet und an die der UN-BRK angepasst. Außerdem wurde nun ebenfalls die "Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren" (§ 2 Abs. 1 SGB IX), in Anlehnung an das der ICF aufbauende bio-psycho-soziale Modell von Behinderung, mitaufgenommen. In der Neufassung des SGB IX lautet die Definition von Behinderung nun: "Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist" (ebd.).
Nach Hirschberg wird jedoch auch in der Neufassung des SGB IX eine starke Orientierung an einem "individualistischen Verständnis von Behinderung" (Hirschberg 2020, S. 16) deutlich. Sie kritisiert, dass trotz der Bezugnahme auf die Wechselwirkung zwischen Beeinträchtigungen und Barrieren der Behinderungsbegriff immer noch als "Abweichung der individuellen Funktion, Fähigkeit oder Gesundheit vom für das Lebensalter eines Menschen typischen, als normal angesehenen Zustand" (ebd., S. 16) charakterisiert wird.
Bewertung der Begriffsdefinitionen
Bereits diese wenigen Definitionen zeigen unterschiedliche und sich wandelnde Verständnisse des Behinderungsbegriffs und verdeutlichen, dass es eine abschließende, einheitliche Definition von Behinderung nicht gibt. Stattdessen sind die verschiedenen Definitionsansätze immer im Zusammenhang mit dem jeweiligen Standpunkt und den damit zusammenhängenden Zielsetzungen der Betrachtenden zu sehen. So wird der Begriff Behinderung aus pädagogischer, medizinischer, psychologischer, soziologischer, ökonomischer und juristischer Sicht jeweils unterschiedlich akzentuiert. Neben der fachspezifischen Auslegung ist der Begriff auch von gesellschaftlichen Vorstellungen geprägt. Demzufolge ist Behinderung "keine absolute, sondern eine relative Größe […], die jeweils abhängig ist von den kulturellen Erwartungen und der sozialen Reaktion" (Grenz 2003, S. 102) zu einer gegebenen Zeit.
Bibliografie
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Nowicki, Anna-Rebecca: Raus aus der semiotischen Falle. Die Herausforderungen und Potenziale einer Disability Studies-Perspektive in der Germanistik. In: Literary Disability Studies. Theorie und Praxis in der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Matthias Luserke-Jaqui. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2019, 9–44.
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