Explikat
Die Disability Studies sind ein transdisziplinärer Wissenschaftsansatz, der Behinderung nicht als eine natürliche Tatsache versteht, sondern nach Ideologien und Diskursen fragt, die bei der Klassifikation und Definition von Behinderung eine Rolle spielen. Dabei wird Behinderung als eine gesellschaftlich negativ bewertete und sozial konstruierte Differenzkategorie begriffen und muss demzufolge immer auch in ihrem jeweiligen sozialen, kulturellen und historischen Kontext analysiert, interpretiert und verständlich gemacht werden. Gegenstand soll dabei nicht die Behinderung an sich sein, sondern die Konstruktion von Normalität, also welche Bedeutungen ihr auf kultureller, gesellschaftlicher und politischer Ebene zugeschrieben werden und welche Auswirkungen sich daraus für Menschen mit Behinderung ergeben.
Auch in den Disability Studies wird immer wieder darüber diskutiert, was genau unter Behinderung zu verstehen ist. Im Folgenden soll ein kurzer Überblick über die wesentlichen Modelle innerhalb der Disability Studies gegeben werden.
Das individuelle Modell
Das individuelle (oder auch medizinische) Modell wurde nicht als eigenes Konzept ausgearbeitet, sondern rückblickend aus den kritischen Diskursen über Behinderung rekonstruiert. Demnach wird Behinderung als das Ergebnis eines körperlichen Zustands definiert, der untrennbar mit einer Person verbunden ist und sowohl deren Lebensqualität maßgeblich einschränkt als auch Nachteile für die betroffene Person verursacht. Ziel ist die Verbesserung des körperlichen Zustandes und Rehabilitation.
Die Stärke dieses Modells liegt darin, dass konkret auf die Bedürfnisse der einzelnen Person durch Behandlungen, Förderungen oder Therapien eingegangen werden kann. Allerdings ist damit auch eine Fokussierung auf individuelle Abweichungen und Störungen verbunden. Damit wird Behinderung "auf einen (biologischen) Tatbestand reduziert und nur verkürzt betrachtet" (Rathgeb 2020, S. 60). Insbesondere "die Vielschichtigkeit der Behinderungskategorie, ihre Historizität, Kulturalität und gesellschaftliche Bedingtheit" (Waldschmidt 2020, S. 60) wird mit dem individuellen Modell nicht erfasst. Vielmehr wird Behinderung als "persönliches Unglück" (Brehme 2020, S. 9) bewertet, welches es individuell zu bewältigen gilt.
Auch heute noch findet die medizinische Sichtweise auf Behinderung Ausdruck in zahlreichen wissenschaftlichen und institutionellen Praktiken und ist die Grundlage für die Unterstützungs- und Versorgungsstrukturen für Menschen mit Behinderung.
Das soziale Modell
Das soziale Modell ist eine Reaktion auf das nach wie vor dominierende individuelle Modell von Behinderung. Dieses Modell besagt, dass Menschen durch Barrieren in der Gesellschaft behindert werden, nicht durch ihre Beeinträchtigung. Barrieren können physischer Natur sein, wie z. B. nicht zugängliche Toiletten in Gebäuden, oder sie können durch die Einstellung der Menschen zu ihrer Andersartigkeit verursacht werden, z. B. durch die Annahme, dass Menschen mit Behinderung bestimmte Dinge nicht tun können. Grundlegend ist dabei die Unterscheidung zwischen den Begriffen Beeinträchtigung (impairment) und Behinderung (disability). Beeinträchtigung meint die funktionelle Einschränkung einer Person aufgrund einer körperlichen, geistigen oder sensorischen Beeinträchtigung, während Behinderung die Einschränkung oder den Verlust meint, gleichberechtigt am Gemeinschaftsleben teilzunehmen.
Somit verlagert das soziale Modell die Ursache von Behinderung von individuellen Defiziten auf gesellschaftliche Verhältnisse: Es versteht Behinderung als Folge sozialer Unterdrückung und Diskriminierung, die als kollektives Problem sozialpolitischer Unterstützung und gemeinschaftlichen Handelns bedarf.
Die Stärke des sozialen Modells besteht in seiner Fähigkeit, sowohl an wissenschaftliche Diskurse als auch an Interessensvertretungen und persönlichen Lebenspraxen anzuknüpfen und bietet damit die Grundlage für Identitätspolitik und differenzierte Forschung zu Behinderung. Kritik am Modell wird vor allem hinsichtlich der Zweiteilung in Beeinträchtigung und Behinderung geäußert und hinsichtlich der starken Fokussierung auf die soziale Dimension. Auf diese Weise wird die Dimension des Physischen allein dem medizinischen Bereich überlassen. Gleichzeitig berücksichtigt das Modell keine Unterschiede hinsichtlich Geschlecht, Sexualität, Alter oder Ethnie, sodass Menschen mit Behinderung als eine einheitliche Gruppe dargestellt werden. Darüber hinaus nimmt der Ansatz Behinderung vorrangig als ein Problem wahr, das gelöst werden müsste. "Letztendlich handelt es sich sowohl bei dem individuellen als auch bei dem sozialen Modell um operative Strategien, anwendungsorientierte Programme, die Lösungsvorschläge formulieren für etwas, was offenbar ›stört‹ und deshalb ›behoben‹ werden soll" (Waldschmidt 2005, S. 23).
Das kulturelle Modell
Die Kritik am sozialen Modell kann als Grundlage des kulturellen Modells verstanden werden. Es wird davon ausgegangen, dass Behinderung nicht nur eine Form gesellschaftlicher Benachteiligung ist, sondern auch gesellschaftlich und historisch bedingt ist. Demzufolge wird Behinderung als eine sich stetig verändernde Konstruktion angesehen. Dabei soll nicht nur die Dekonstruktion des Begriffs Behinderung eine Rolle spielen, sondern darüber hinaus auch der Diskurs um den Begriff Normalität. Untersuchungsgegenstand sind demnach nicht Menschen mit Behinderung als eine Minderheit oder Randgruppe der Gesellschaft, sondern die Mehrheitsgesellschaft. Kritisiert wird eine gesellschaftliche Praxis, die darauf abzielt, Gruppen als einheitlich zu konstruieren und diese entlang normativer Maßstäbe zu bewerten und zu hierarchisieren, anstatt die bestehende Vielfalt und Unterschiedlichkeit innerhalb der Gruppen anzuerkennen und zu würdigen (vgl. ebd., S. 27). Ziel ist die kulturelle Repräsentation von Menschen mit Behinderung und deren Anerkennung und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Dafür dürfen Menschen mit Behinderung nicht als eine zu integrierende Minderheit verstanden werden, sondern als ein integraler Bestandteil der Gesellschaft.
Nach Waldschmidt zeigt sich die Stärke des Modells, "wenn es um ein kritisch-reflexives Denken des spannungsreichen Wechselverhältnisses von (Un-)Fähigkeit, Beeinträchtigung und (Nicht-)Behinderung"[1] (Waldschmidt 2020, S. 68) gehe. Kritik wird vor allem hinsichtlich der Bedeutungsüberschätzung der Kultur geäußert. Es bestehe die Gefahr, sich lediglich auf Kultur im engeren Sinn zu beziehen und somit künstlerische Ausdrucksformen wie bildende Kunst, Theater, Film oder Literatur Vorrang erhalten, während alltägliche Lebenspraktiken nur unzureichend untersucht werden.
Das menschenrechtliche Modell
Die vielfältige Diskussion der verschiedenen Modelle von Behinderung in den Disability Studies wurde in den letzten Jahren um einen zusätzlichen Ansatz erweitert. Das menschenrechtliche Modell orientiert sich im Wesentlichen an den Zielsetzungen der UN-Behindertenrechtskonvention und steht für einen Paradigmenwechsel im Verständnis von Behinderung. Der Ansatz geht davon aus, dass die Situation von Menschen mit Behinderung nicht durch individuelle Beeinträchtigungen zu erklären ist, sondern durch die Vorenthaltung von Rechten. Das Modell basiert auf der Überzeugung universeller Menschenrechte, die auch Menschen mit Behinderung von vornherein zustehen. Sie können weder durch Status noch durch Leistung erworben oder durch zugeschriebene oder persönliche Merkmale oder Eigenschaften abgesprochen werden. Behinderung wird als Teil menschlicher Vielfalt formuliert und geht damit, ebenso wie das kulturelle Modell, über das soziale Modell hinaus und kann als dessen Weiterentwicklung gedeutet werden.
Der menschenrechtliche Ansatz geht über die Behindertenpolitik der Antidiskriminierung hinaus, da er durch die Menschenrechte einen umfassenderen rechtstheoretischen Rahmen bietet. Gleichzeitig schafft das Modell einen konzeptionellen Rahmen für eine Behindertenpolitik auf nationaler, europäischer und globaler Ebene, beispielsweise wenn es darum geht, Barrierefreiheit zu gewährleisten, Armut zu bekämpfen und inklusive Bildung zu realisieren. Jedoch besteht die Gefahr, dass das Modell zu einem unreflektierten 'UN-BRK-Modell' wird, da die überwiegende inhaltliche Übereinstimmung zwischen der UN-Behindertenrechtskonvention und dem menschenrechtlichen Modell eine differenzierte und kritische Analyse der Stärken und Schwächen der menschenrechtlichen Behindertenpolitik erschwert (vgl. ebd., S. 70). Denn ebenso wie Normalität und Behinderung müssen Menschenrechte als kulturelle, soziale und historische Konstruktionen verstanden und demensprechend analysiert werden. Darüber hinaus fehlt es dem Modell an einem theoretischen Fundament aufgrund seines Pragmatismus. Besonders Gerechtigkeits-, Gleichheits- und Menschenrechtstheorien sowie postkoloniale Ansätze verdienen stärkere Berücksichtigung, da sie ermöglichen, die westlich-individualistische Prägung der Menschenrechte kritisch zu reflektieren und die gewonnenen Einsichten produktiv in die Forschung einzubeziehen.
Kinder- und Jugendmedien als Forschungsgegenstand
In den Disability Studies kommt den Kinder- und Jugendmedien eine doppelte Funktion zu: Einerseits sind sie Medien, in denen Vorstellungen von Normalität und Differenz ausgehandelt werden, andererseits stellen sie ein empirisches Feld dar, in dem die Wirkungen dieser Vorstellungen auf Repräsentation, Identitätsbildung und soziale Praxis untersucht werden können. Gerade weil Kinder- und Jugendmedien zentrale Sozialisationsinstanzen darstellen, kommt ihrer Analyse aus Sicht der Disability Studies besondere Bedeutung zu. Die Untersuchung kann sich entlang der theoretischen Modelle der Disability Studies orientieren:
- Individuelles Modell: In Kinder- und Jugendmedien zeigt sich dieses Modell in Narrativen, die Behinderung als individuelles Schicksal oder Defizit inszenieren, wie etwa in der 'Wunderheilung'. Analytisch lässt sich untersuchen, wie Figurenentwürfe, narrative Strukturen sowie sprachliche und bildliche Markierungen diese Problematisierung von Behinderung stützen.
- Soziales Modell: Dieses Modell wird sichtbar in Texten, die gesellschaftlich erzeugte Barrieren thematisieren, etwa schulische Ausgrenzung, mangelnde Barrierefreiheit oder diskriminierende Haltungen gegenüber Figuren mit Behinderung. Untersuchbar sind die institutionellen und sozialen Kontexte sowie Interaktionsmuster, die Inklusion oder Exklusion verdeutlichen.
- Kulturelles Modell: Kinder- und Jugendmedien reflektieren und reproduzieren kulturelle Vorstellungen von Normalität und Differenz, beispielsweise durch bildsprachliche Metaphern in Illustrationen, narrativen Tropen oder kontrastierende Figurenkonzeptionen von 'fähig' und 'nicht-fähig'; im Zentrum der Analyse stehen dabei die zugrunde liegenden ästhetischen Verfahren, symbolischen Codes und diskursiven Rahmungen.
- Menschenrechtliches Modell: Dieses Modell ist in medialen Kontexten dort anschlussfähig, wo Fragen von Teilhabe und Inklusion explizit verhandelt werden, etwa durch Repräsentationen gleichberechtigter Figuren oder durch die Bereitstellung zugänglicher Formate (Audiodeskription, Leichte Sprache, taktile Bilderbücher). Analytisch relevant ist die Frage, inwiefern Kinder- und Jugendmedien universelle Rechte sichtbar machen und an politische bzw. bildungspolitische Diskurse anschließen.
Indem die Modelle auf unterschiedliche Analyseebenen bezogen werden, lassen sie sich als mehrdimensionales Instrumentarium nutzen, das sowohl qualitative Fallanalysen als auch empirische Untersuchungen unterstützen kann. Analytisch fruchtbare Ebenen sind dabei (1) die Darstellung von Figuren, Narrativen und Tropen, (2) mediale Formen und Zugänglichkeiten, (3) Produktions- und Verbreitungskontexte sowie (4) Rezeptionsprozesse, die Rückschlüsse auf Inklusions- und Exklusionsdynamiken ermöglichen. Neuere Forschungsinitiativen (vgl. Conrad 2024) zeigen, dass sich an der Schnittstelle von Disability Studies und Kinder- und Jugendmedienforschung ein interdisziplinäres Forschungsfeld abzeichnet, das sowohl theoretische als auch empirische Fragestellungen zur Darstellung von Differenz, Inklusion und Normalitätskonstruktionen fruchtbar erschließt.
[1] Um dieses Wechselverhältnis zu kennzeichnen, wird häufig auch der Ausdruck dis/ability verwendet. Nach Auffassung der Disability Studies beruht der Begriff Behinderung auf einem „Akt der Unterscheidung“ (Dederich 2007, S. 48). Ausschlaggebend dafür ist das zentrale Merkmal der Fähigkeit (ability). Erst der fähige und gesunde Körper markiere den Maßstab. Parallel zu den Begriffen Sexismus und Rassismus wird in diesem Kontext häufig von Ableismus gesprochen. Der Begriff verdeutlicht die Kritik an der Reduzierung der Menschen nach ihren körperlichen und geistigen Fähigkeiten.
Bibliografie
Brehme, David u. a.: Einleitung. Zwischen Emanzipation und Vereinnahmung. Disability Studies im deutschsprachigen Raum. In: Disability Studies im deutschsprachigen Raum. Zwischen Emanzipation und Vereinnahmung. Hrsg. von David Brehme u. a. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, 2020, S. 9–21.
Conrad, Maren: (Nicht-)Markierte Körper. Beobachtungen zum Potenzial eines weiten Inklusionsbegriffes in der Kinder- und Jugendliteraturforschung. In: Körper erzählen. Embodiment in Kinder- und Jugendmedien. Hrsg. Von Andre Kagelmann, Heidi Lexe und Christine Lötscher. Berlin/Heidelberg: J. B. Metzler, 2024, S. 69–82 (= Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien; 14).
Dederich, Markus: Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies. Bielefeld: transcript Verlag, 2007 (= Disability Studies. Körper – Macht – Differenz; 2).
Degener, Theresia: Die UN-Behindertenrechtskonvention – ein neues Verständnis von Behinderung. In: Handbuch Behindertenrechtskonvention. Teilhabe als Menschenrecht – Inklusion als gesellschaftliche Aufgabe. Hrsg. von Theresia Degener und Elke Diehl. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2015, S. 55–74 (= Schriftenreihe; 1506).
Rathgeb, Kerstin: Disability Studies als kritische kulturwissenschaftliche Perspektive. In: Behinderung. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Hrsg. von Susanne Hartwig. Stuttgart: J. B. Metzler, 2020, S. 19–27.
Waldschmidt, Anne: Disability Studies. Individuelles, soziales und/oder kulturelles Modell von Behinderung? In: Psychologie und Gesellschaftskritik 29 (2005) 1, S. 9–31.
Waldschmidt, Anne: Macht – Wissen – Körper. Anschlüsse an Michel Foucault in den Disability Studies. In: Disability Studies, Kultursoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld. Hrsg. von Anne Waldschmidt und Werner Schneider. Bielefeld: transcript Verlag, 2007, S. 55–77.
Waldschmidt, Anne: Jenseits der Modelle. Theoretische Ansätze in den Disability Studies. In: Disability Studies im deutschsprachigen Raum. Zwischen Emanzipation und Vereinnahmung. Hrsg. von David Brehme u. a. Weinheim/Basel: Beltz Juventa, 2020, S. 56–73.