Fisch und Fleisch

Der abendfüllende norwegische Dokumentarfilm Die Zungenschneider (Tungeskjærerne) von Solveig Melkerraaen, mit dem das Festival programmatisch eröffnet wurde, greift beide genannten Aspekte auf. Die neunjährige Ylva aus der Großstadt Oslo soll auf Wunsch der Mutter die Tradition der Familie fortsetzen und wie einst die Mutter ihren Mut als Zungenschneiderin beweisen. Dafür reist sie mitten im Winter für einige Tage 1500 Kilometer nach Norden auf die im faszinierenden Dämmerlicht liegenden Vesteralen, um zusammen mit anderen Kindern im Alter ab sechs Jahren in einer Fischfabrik den bereits abgeschnittenen Kabeljau-Köpfen die Zunge herauszuschneiden. Diese gilt auf der ganzen Welt als Delikatesse. Was hierzulande womöglich als bezahlte Kinderarbeit bezeichnet werden könnte, ist für die Kinder in Norwegen eine Art Hobby mit eingebundenem Wettbewerb, wobei diese ihren ganzen Mut und ihre Geschicklichkeit gleichermaßen unter Beweis stellen müssen. Unumstritten ist diese Herausforderung für die Kinder keineswegs und "eingefleischte" Veganer und Tierfreunde sollten bei einigen Szenen am besten die Augen verschließen. Der Film zeigt allerdings auch klar und deutlich, dass vielen Kindern in der traditionellen Fischfänger-Nation Norwegen eine weitaus größere Selbstständigkeit und Eigenverantwortung zugestanden wird als bei uns. Auch das Bewusstsein darüber, woher die bei uns in den Supermarkt-Regalen sauber und steril abgepackten Fisch- und Fleischportionen in Wirklichkeit stammen, ist dort noch allgegenwärtig und integraler Bestandteil ihrer täglichen Lebenswirklichkeit.

Noch einen Schritt weiter geht Patrick Bresnan in Die Kaninchenjagd (The Rabbit Hunt). Hier jagen Jugendliche in Florida aus offensichtlich einfachen ärmlichen Verhältnissen jeweils zur Zuckerrohrernte Kaninchen, die vor dem eigens gelegten Bodenfeuer flüchten, das die Ernte erleichtern soll. Sie verfolgen und greifen die Tiere, erschlagen sie mit ihren Stöcken, weiden sie aus, verkaufen das Fleisch und ernähren sich auch selbst davon. Mit einer rein beobachtenden Kamera zeigt der Film diese Jagd, die für die Jugendlichen ähnlich wie im norwegischen Film auch zu einem Initiationsritus geworden ist, sowie die "Verwertung" der toten Tiere. Das hat bei den anwesenden Schülern heftige Diskussionen über den "pädagogischen Wert" ausgelöst – aber eben auch zur Reflexion über unseren oft bedenkenlosen Umgang mit Tieren, die der Nahrungsproduktion dienen, und unseren immensen Fleischkonsum angeregt.

Vom Umgang mit Ängsten

Welcher junge Mensch hat keine Probleme und keine Ängste? Aber wie soll man damit umgehen? Alles am besten für sich behalten, sei es, um anderen keine Angriffspunkte zu liefern, oder aus Scham und dem erwarteten Unverständnis der anderen? Der überwiegende Teil der für das Programm ausgewählten Dokumentarfilme kreiste um solche Fragestellungen und lieferte positive und Mut machende Beispiele, wie sich die jungen Protagonisten ihren eigenen Ängsten stellten und ihre Scheu überwanden, darüber offen vor der Kamera zu reden.

Für die deutsche TV-Serie Schau in meine Welt! drehte Bernadette Hauke ihren Film Vi im schwimmenden Dorf. Die 13-jährige Vietnamesin Vi wohnt in einem künstlichen Dorf mitten auf dem Wasser, das nur mit Booten erreichbar ist, kann aber noch nicht schwimmen und ist daher schon mehrfach in große Gefahr geraten. Die Menschen im Dorf leben alle von der Fischzucht. Offenherzig erzählt das Mädchen vor laufender Kamera, wie sie in einem Schwimmkurs langsam ihre Angst vor dem Wasser überwindet.

In Raffaelo in der Natur (Raffaelo in het wild) von Rachel Visscher möchte der achtjährige Protagonist wie sein großes Vorbild Freek Vonk, der mit seinen Fernsehreportagen über die Tierwelt in Holland berühmt ist, später einmal Biologe werden. Dumm nur, dass er nicht so gerne reist und große Angst vor Fröschen hat. Wie soll man da Biologe werden? Mit Unterstützung seines Großvaters fasst Raffaelo den Mut, seinen Traum dennoch weiterzuverfolgen.

Vor ganz andere Probleme gestellt sieht sich die 17-jährige Naomi, die ebenfalls in Holland wohnt. Ihre Mutter ist seit vielen Jahren drogenabhängig und leidet unter einer Psychose. Saskia Gubbels zeigt in ihrem Film Naomis Geheimnis (Naomi's geheim), wie das Mädchen, das vor einigen Jahren noch Angst hatte, allein das Haus zu verlassen, sich endlich durchringt, ihr Schweigen zu brechen und mit ihrem besten Freund die Mutter in der Klinik zu besuchen.

Während zwei niederländische Jungen in Hallo Salaam von Kim Brand ziemlich nervös vor der ersten Begegnung mit geflüchteten Kindern sind, die in einem Flüchtlingscamp auf der Insel Lesbos untergebracht sind, in dem die Mutter der beiden tätig ist, sieht sich die 14-jährige Rokhsar in Dänemark selbst unmittelbar betroffen. Denn Rokhsar flüchtete bereits 2010 mit ihren Eltern und Geschwistern aus Afghanistan, der Asylantrag wurde abgelehnt und sie lebt nun in ständiger Angst vor der möglichen Abschiebung. Wie es dem perfekt integrierten Mädchen dabei ergeht, vermittelt The Wait (Mon de kommer om natten) von Emil Langballe in seinem knapp einstündigen Beitrag, der mitunter die Grenzen zwischen Dokumentation und Nachinszenierung verwischt.

Zwei weitere Filme haben eine außergewöhnliche künstlerische Form gefunden, um ihr Thema visuell ansprechend umzusetzen. In Thea von Halvor Nitteberg steht ein zwölfjähriges Mädchen aus Norwegen im Mittelpunkt, die schwer krank ist, obwohl man ihr das äußerlich nicht ansieht. Sie leidet unter einer besonderen Form von Epilepsie, bei der jeder Anfall unmittelbare Lebensgefahr bedeutet. Thea kommentiert ihre Gefühle aus dem Off, wobei der Film aus vielen perfekt fotografierten und ausgewählten Standfotos in edlem Schwarzweiß besteht, die ein genaues Hinsehen ermöglichen und zugleich vermitteln, dass die Zeit für Thea jederzeit stillstehen könnte.

Ebenfalls mit Off-Kommentaren bzw. hier mit Originalinterviews von Kindern und Jugendlichen aus einem Frauenhaus arbeitet der Animationsfilm Die Zuflucht (Det trygge huset) von Robin Jensen. Diesen auf diese Weise anonymisierten Kindern bleib oft keine Zeit mehr, um zusammen mit ihren Müttern vor der Gewalt des Vaters zu flüchten. Im Frauenhaus lernen sie gemeinsam, dass sie an dieser Situation nicht schuldig sind. Mit wenigen Strichen gelingt es den animierten Zeichnungen, die dahinter stehenden Einzelschicksale sehr genau zu charakterisieren, ohne voyeuristisch oder gar abschreckend zu wirken. Für diese Leistung erhielt der Film den ECFA-Dokumentarfilmpreis der dreiköpfigen internationalen Fachjury. (Auszüge aus dem Film finden Sie hier.)

Neben den zahlreichen skandinavischen und niederländischen Dokumentarfilmen im Programm beeindruckte ein deutscher Film besonders. Er entstand im Rahmen der vom Sender 3sat geförderten DOKU.Klasse und wurde komplett in den USA gedreht. Der Berliner Filmemacher Florian Baron porträtiert in seinem halbstündigen Film Joe Boots einen jungen Mann aus der von hoher Arbeitslosigkeit geprägten Kohlestadt Pittsburgh, der als 20-Jähriger voller Patriotismus in die US-Army ging, in den Irak-Krieg zog und nach der Explosion einer Mine schwer traumatisiert in die USA zurückkehrte. Dort machte er die bittere Erfahrung, dass die Armee ihn lediglich mit Psychopharmaka ruhigstellen wollte und er mit seinen Erlebnissen wie viele andere Heimkehrer vollkommen allein blieb. Eine Jugendjury vergab für diesen herausragenden Film, der Joes Erlebniswelt mit in Zeitlupe gedrehten Aufnahmen aus seiner Heimatstadt visualisiert, den von der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb gestifteten Dokumentarfilmpreis "Große Klappe". (Weitere Informationen zu dem Film finden Sie hier.)

festivalbericht doxs2016 abb

Florian Baron mit dem Protagonisten seines gleichnamigen Films Joe Boots vor dem Filmforum Duisburg © Holger Twele