Inhalt
Die etwa 17jährige Ich-Erzählerin Tess betrauert den Verlust ihres Seelen- und Online-Freundes Jonah, flüchtet zu ihrem hippie-esken Vater und muss sich plötzlich der Frage stellen, ob sie Jonah tatsächlich gekannt hat oder nicht vielmehr sein digitales Ich. Die zwei Jugendlichen haben eine Online-Beziehung geführt, denn sie trafen sich nur ein einziges Mal auf einer Party, unterhielten sich und setzten dann die Gespräche via Email, in Chatrooms etc. fort. Hier vertrauten sie sich Wünsche und Geheimnisse an und wirkten wie verliebte Teenager. Dennoch hat Jonah über seine Depressionen geschwiegen, wirkte immer gut gelaunt, zwar nachdenklich, aber auch schlagfertig. Tess' Wünsche nach Treffen hatte er trotz der Pläne für eine gemeinsame Zukunft, abgelehnt, aber auch das erschien Tess nicht verdächtigt. Die Beziehung war zumindest für Tess perfekt, denn mit Jonah konnte sie über alles reden und auch das Spiel 'Things I'm Seeing Without You', das im Englischen auch der Titel des Romans ist, spielen. Nichts deutet in den Posts, die Tess immer wieder liest und die typografisch abgesetzt werden, auf seine Krankheit hin. Doch dann stirbt Jonah plötzlich, für Tess unerwartet und ihre Welt gerät aus den Fugen. Traurig und wütend, wirft sie ihren Laptop ins Wasser und muss am alten Rechner ihres Vaters, denn so ganz ohne kann Tess nicht existieren, immer wieder nach alten Posts von und an Jonah sehen. Plötzlich meldet sich Jonah mit dem Post "Ich muss mit dir reden, Tess. Es ist wichtig." (S. 61) zurück.
Erst langsam bemerkt das verunsicherte Mädchen, dass sie die letzten Monate nicht mit Jonah im Chat verbracht hat, sondern mit seinem Mitbewohner Daniel. Das heißt, dass ein für sie Fremder ihre Geheimnisse und Wünsche gelesen hat. Tief verletzt, bricht sie den Kontakt zu Daniel ab, löscht alles und dennoch taucht Daniel, der sich während der Chats in Tess verliebt hat, plötzlich auf. Auch er versucht, Jonahs Tod zu verstehen.
Kritik
Der Jugendroman kombiniert zwei wichtige Themen miteinander, was äußerst originell gelingt. Einerseits werden die unterschiedlichen Stadien der Trauer beschrieben, die Tess erlebt und als ein Haufen unvollkommener Momente betrachtet. Sie setzt sich mit Erinnerungen auseinander, liest immer wieder Nachrichten von Jonah und weiß, dass sie nur Dinge sieht, die er niemals sehen wird. Sie ist traurig, wütend, verlässt das Haus nicht und denkt über ihr Leben nach. Andererseits erzählt der Roman von Beziehungen im digitalen Zeitalter. Tess ist schockiert, als 'Jonah' einen Monat nach seinem Tod plötzlich wieder Nachrichten schickt. Im ersten Moment überlegt sie, ob Jonah im Internet weiterleben kann. Ein Programm könnte seine Gedanken weiterschreiben oder seine Sprache übernehmen. Oder führen die digitalen Accounts ein Eigenleben und können uns perfekt imitieren? Spannende Fragen, zumal Daniel, der ebenfalls voller Trauer ist, an einer App arbeitet, die selbst dann postet oder tweetet, wenn der Besitzer des Accounts bereits verstorben ist. Hilft es den Angehörigen oder Freunden? Immer wieder diskutieren Tess und Daniel diese Aspekte ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Zugleich muss sich Tess auch der Frage stellen, was in der digitalen Welt 'echt' ist. Sie war sicher, immer nur mit Jonah zu sprechen bzw. zu schreiben, erkennt aber, dass Jonah durch Daniel ersetzt wurde und dieser gekonnt den leicht-witzigen Ton zwischen den beiden fortsetzt. Dieser leicht-witzige Ton offenbart noch etwas: Tess vertraute Jonah ihre Geheimnisse, er selbst verschwieg seine Krankheit. Dies führt zu der Frage, wie ernsthaft Online-Freundschaften sein können. Kann man sich vertrauen, auch, was die Person, die hinter den Posts steckt, betrifft? Tess und mit ihr die Leserinnen und Leser erkennen die Fragilität der Online-Beziehungen.
Vor ein paar Jahren habe ich mal einen Bericht über einen Typen gesehen, der zehn Jahre lang in eine Frau verliebt war und dann feststellen musste, dass sie gar nicht existierte. Ein ganzes Jahrzehnt lang dachte er, er sei mit einem Fitnessmodel aus L.A. zusammen, einem hübschen mit blondem Pferdeschwanz, festen Titten und Lycra-Sportoutfit. In Wirklichkeit hatte ihn eine gelangweilte Hausfrau aus West-Virginia verarscht. (S. 83)
Tess denkt beiläufig über diese Beziehung, die eine "digitale Collage" sowie ein "Frankenstein-Monster auf Facebook" (S. 83) war, nach und weiß noch die Antwort des Mannes, der einfach nur verliebt war. Auch Tess muss viele Augenblicke neu überdenken und sich selbst hinterfragen, mit ihren Gefühlen zurechtkommen und wieder vertrauen können. Sie erinnert an die Mädchenfiguren aus Romanen von John Green oder Holly Goldberg Sloan, denn sie ist trotz des Verlustes und der Trauer schlagfertig, kennt u. a. Flaubert und hat auch die Verrücktheit ihrer Eltern samt Scheidung gut überstanden. Damit setzt der Autor eine Tradition von Mädchenfiguren fort, die seit einigen Jahren den Buchmarkt prägen.
Es sind nicht nur die jugendlichen Figuren Tess und Daniel, die ihren Weg ins Leben finden müssen. Die erwachsenen Figuren werden ebenfalls mit zahlreichen Problemen ausgestattet. Tess' Vater kämpft seit der Scheidung ums Überleben, wirkt in seiner Jugendlichkeit verloren und gründet immer neue Unternehmungen - u. a. organisiert er Beerdigungen für Haustiere -, scheitert immer wieder und lernt schließlich Grace kennen, die alternative Bestattungen anbietet, und so den Verlust ihrer Tochter sowie die Scheidung verarbeitet. Tess' wohlhabende Mutter verbringt ihre Zeit in Indien auf der Suche nach ihrer Identität, gibt Tess immer wieder per Telefon Ratschläge, ohne ihre Tochter wirklich zu kennen. Auch hier folgt der Romanen einem narrativen Muster, zeigt Elternteile, die verloren wirken und nicht in der Lage sind Verantwortung zu übernehmen.
Verlust und Trauer sind im Roman in unterschiedlichen Situationen präsent, aber aufgrund Tess' Schlagfertigkeit sowie der unterschiedlichen Beerdigungsrituale, die zum Teil schräg sind und damit den Zeitgeist einfangen, bekommt der Roman auch eine Leichtigkeit, was vor allem an der Hauptfigur liegt. Erzählt wird aus Tess' Perspektive, die nicht chronologisch ihre Gedanken schildert, sondern in Rückblenden sich an die erste und einzige Begegnung mit Jonah erinnert und auch ihre Chatverläufe immer wieder rekonstruiert und so den Leserinnen und Lesern ihre subjektive Sicht auf Jonah vermittelt. Besonders hier flackert der Humor der beiden Jugendlichen auf, der zugleich auch die Tragik des Geschehens unterstreicht.
Fazit
Trauer wirkt lange nach: Diese Erkenntnis machen die Figuren im Roman, lernen aber langsam sich dieser zu stellen und sehen so einen Weg für ihr weiteres Leben. Peter Bognanni ist ein Roman gelungen, der komplexe Themen verarbeitet, diese mit einer spannenden Handlung kombiniert und die Leserinnen und Leser mit vielen Fragen zurücklässt. Er eignet sich für jugendliche Leserinnen und Leser ab dem 14. Lebensjahr, die den leichten, aber keineswegs banalen Ton der US-amerikanischen Literatur mögen und bereit sind, sich auch komplexen Fragen zu stellen.
- Name: Bognanni, Peter
- Name: Anja Hansen-Schmidt