2 Explikat

Kinderliteratur wird nicht nur gelesen bzw. vorgelesen, sondern auch gesehen, gehört und gespielt. Kinder begegnen Stoffen wie Pippi Langstrumpf, Momo oder Der kleine Ritter Trenk häufig zuerst in Filmen, (Zeichentrick-)Serien, Hörspielen, Audiobooks, Computerspielen und Apps. Den regelmäßig erscheinenden repräsentativen KIM-Studien zur Mediennutzung von Kindern ist zu entnehmen, dass ein breit gefächertes Medienensemble zu ihrem Alltag gehört. Erste Forderungen nach einer fachspezifischen Integration von Medien in den Deutschunterricht gab es schon in den 1970er-Jahren (vgl. Denk 1977). Jutta Wermke hat mit ihrem Konzept eines medienintegrativen Deutschunterrichts (1997) maßgeblich zur Integration mediendidaktischer Fragen innerhalb der Deutschdidaktik beigetragen. Ziel der medienintegrativen Deutschdidaktik ist die Loslösung von einem einseitig buchdominierten Unterricht und die Ausbildung von Medienkompetenzen. Schon Wermke plädierte für die Integration von Medienverbünden in den Deutschunterricht, ein Vorschlag, der verschiedentlich aufgegriffen und weitergedacht wurde (vgl. u.a. Frederking/Josting 2005; Josting 2007) und auf dem auch das Konzept der IML basiert.

Das hohe didaktische Potenzial kinderliterarischer Medienverbünde gründet vor allem auf dem komplexen intermedialen Verweisnetz. Bei aller Varianz in den unterschiedlichen medialen Fassungen sind die Einzelmedien – Hörspiele, Filme, Bücher, hypermediale Bearbeitungen – miteinander verbunden. Diese grundstrukturelle Kongruenz ist in unterschiedlichen Ausprägungsgraden in den zentralen Strukturmomenten literarischen Erzählens (Handlung, Figur, Raum und Zeit) verortet. Sie konstituiert innerhalb eines Verbundes ein vielfältiges Verweissystem aus inhaltlichen, formalen, ästhetischen und produktionslogischen „Knotenpunkten“, die für Kinder nutzbar gemacht werden sollen.

Bei aller möglichen und notwendigen Kritik an den zum Teil populärkulturellen Verarbeitungen eines Medienverbundes bieten die auditiven und audiovisuellen Medien, so Kruse, eine Chance für grundlegende literarästhetische Erfahrungen. Die IML will an die Rezeptionsgewohnheiten der Kinder anknüpfen, der schulische Umgang mit Literatur soll als Fortsetzung medialer ästhetischer Erfahrungen erlebt und diese dadurch erweitert werden (vgl. Kruse 2013, 76). Im wiederholten Medienwechsel sollen die Kinder durch die Narration geführt werden.

Hierbei ist die Annahme leitend, dass intermedial und medienintegrativ ausgerichtete Lehr- und Lernarrangements gerade für Kinder aus buch- und leseferner Sozialisation die Anschlussfähigkeit und damit die Adaptivität (vgl. Weinert 1997) von außerschulischen Medienerfahrungen an die schulisch initiierten Lernprozesse zu sichern vermögen. Getragen wird das Konzept von einem kognitionspsychologisch inspirierten Lernbegriff, demzufolge schulisches Lernen weniger ein sukzessiver und hierarchisch angeordneter Aufbau von Wissen ist als vielmehr die Fortsetzung, Erweiterung und Umstrukturierung von durch vor- und außerschulische Erfahrungen erworbenen Schemata (vgl. Neisser 1979, Dehn 2005). Die literarästhetischen Lernchancen in der unterrichtlichen Arbeit mit kinderliterarischen Medienverbünden sieht Kruse darin, "dass der mit der Erfahrung gewonnene mediale 'Quasitext' auf Grund seiner Mehrfachverwertung jeweils neu und anders rezipiert werden kann" (Kruse 2014b, 13). Dabei sind Übergänge zu höheren Komplexitätsgraden und Anspruchsniveaus möglich, besonders bei Medienverbünden mit hoher Komplexitätsvarianz der jeweiligen Einzelmedien. So könne der Vergleich bspw. eines (trivialen) Serienformats mit einer (komplexen) Buchvorlage desselben Verbundes Wiedererkennungsmöglichkeiten bieten, "literarästhetische Lernprozesse herausfordern und rezeptive Übergänge zu höherer narrativer und ästhetischer Komplexität stiften" (Kruse 2018, 197).

Beschreibung des Konzeptes

Zur Beschreibung des Konzeptes der intermedialen Lektüre (IML) wird an dieser Stelle von einer üblichen Mehrfachverwertung eines Stoffes ausgegangen: in einem erzählenden Buch, in einem Hörspiel und in einem Film (vgl. u.a. Kruse 2015; Unterrichtsprojekt zu dem Medienverbund um Luis Sepúlvedas Wie Kater Zorbas der kleinen Möwe das Fliegen beibrachte). Das Vorlesen des Buchtextes wird vom Vorspielen des Hörspiels und dem Vorführen des Films abgelöst. Hierbei kann entweder überschneidungsfrei in der Narration vorangeschritten werden oder einzelne Inhaltssequenzen werden zunächst in einem und anschließend noch einmal wiederholend im anderen Medium rezipiert. Die Verwobenheit der Verbundmedien soll so unmittelbar erfahrbar werden; die Singularität ihrer Rezeption wird aufgehoben zugunsten eines intermedialen Lektüreerlebnisses.

Mit welchem Medium begonnen wird, ist dabei nicht maßgeblich, ebenso wenig von welchem weiteren Medium es zu welchem Zeitpunkt abgelöst wird. Alle Medien sollten in ungefähr gleichgewichtigen Anteilen eine Rolle spielen und narrativ bedeutsame Szenen wiederholt werden, empfiehlt Kruse. Die Herausforderung der IML besteht in einer geschickten Montage der jeweiligen Auszüge, die so miteinander verbunden werden müssen, dass sich eine kohärent erzählte Geschichte auf Basis intermedial verwobener Differenzerfahrungen ergibt. Die jeweiligen Text- bzw. Medienpräsentationen werden von impulsbasierten Begleitgesprächen flankiert, die die Kinder zu erweiternden Imaginationen und vertiefenden Reflexionen anregen sollen. Mit dem Begleitgespräch knüpft Kruse an vorhandene Basiskonzepte an: das Vorlesegespräch nach Spinner (2004), das literarische Sehgespräch nach Möbius (2008) sowie die Übertragung dieser Modelle auf das Hörspiel (vgl. hierzu Hüttis-Graff 2008). Die Entfaltung literarischer Rezeptionskompetenz ist allen drei medienadäquaten Begleitkommunikationen gemeinsam. Impulstypen, die Vorwissen aktivieren, Antizipationen abrufen, Perspektivübernahme und Empathie herausfordern, Anstöße zur Reflexion von Figurenverhalten liefern und Anregungen zur deutenden Herstellung von Bezügen im Text geben, sind zu allen medialen Erscheinungsformen eines literarischen Stoffes denkbar (vgl. Kruse 2010, 182). In den Begleitgesprächen können Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Verbundmedien thematisiert werden, der Medienvergleich ermöglicht die Entfaltung einer intermedialen Rezeptionskompetenz.

Als Anschlusshandlungen empfiehlt Kruse:

  • ein Hör-Lese-Seh-Heft (vergleichbar dem Lesetagebuch-Konzept von Bertschi-Kaufmann (1998)) oder, als klassenöffentliche Variante, ein Hör-Lese-Seh-Plakat; in/auf dem Aufgabenvorschläge aus dem Bereich der offenen Produktionsorientierung bearbeitet werden können. Die Offenheit der Aufgabenformate ermöglicht den Kindern eine individuelle Schwerpunktsetzung im Zugriff auf Themenaspekte, Figuren und Medienformate.
  • das intermediale Lektüregespräch – eine medienintegrative Form des offenen literarischen Unterrichtsgesprächs nach dem Heidelberger Modell (vgl. Härle 2004, Wiprächtiger-Geppert 2009), dessen Ziel ein möglichst freier Dialog mit Bezugnahme auf den intermedialen Text in Inhalts- und Formaspekten und auf eigene Lebens-, Welt- und Medienerfahrungen ist (vgl. Kruse 2012, 45).
  • Gedankenhöhlenprotokolle; introspektive Verbalprotokolle, die dadurch entstehen, dass die Kinder sich im Anschluss an eine Präsentationsphase allein an einen geschützten und gemütlichen Ort – die Gedankenhöhle – zurückziehen und in einer vorgegebenen Zeit ein Diktiergerät mit sämtlichen Assoziationen besprechen, die ihnen, angeregt durch die jüngst gemachten Rezeptionserfahrungen, durch den Kopf gehen.

Die IML ermöglicht unterschiedliche und variantenreiche Unterrichtsformen. Sie ist für Verbünde unterschiedlicher Medienausstattung und Struktur geeignet; auch weniger fragmentierende und segmentierende Begegnungsformen mit Medienverbünden sind denkbar. Das Konzept wird in Unterrichtsprojekten mit kinderliterarischen Medienverbünden, die im Rahmen des von Kruse geleiteten Forschungsprojektes Medienverbundrezeption und Unterricht (seit 2011) in Grundschulen in Hamburg, Kassel und Paderborn durchgeführt werden, erprobt; inwieweit es sich als tragfähig erweist, steht aufgrund ausreichender empirischer Befunde noch aus.

Fußnoten

[1] Um Begriffsverwirrungen zu vermeiden: Hans Lösener stellt in seinem Aufsatz Die intermediale Lektüre. Wege zur Inszenierung im Text (Lösener 2009) ein "Konzept der intermedialen Lektüre" für die Dramendidaktik vor. Was Lösener in diesem Kontext als „intermediale Lektüre“ bezeichnet, steht in keinem Zusammenhang mit dem Modell von Kruse; die Benennung wurde auch nicht aufrechterhalten. Stattdessen hat Lösener den Begriff  inszenierendes Lesen für die von ihm vorgeschlagene Leseweise von Dramentexten im Unterricht etabliert (vgl. u.a. Lösener 2017).

Literaturverzeichnis

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    Lösener, Hans (2009): Die intermediale Lektüre. Wege zur Inszenierung im Text. In: Marion Bönnighausen / Gabriela Paule (Hrsg.): Theater intermedial. Schriftenreihe Jahrbuch Medien im Deutschunterricht. München: kopaed, 67–82.
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  • Möbius, Thomas (2008): Das "literarische Sehgespräch" als sprachlich-kommunikative Vermittlungsweise bilddominierter Medienangebote. In: Volker Frederking / Matthis Kepser / Matthias Rath (Hrsg.): LOG IN! Kreativer Deutschunterricht und neue Medien. München: kopaed, 141-156.
    Neisser, Ulric (1979): Kognition und Wirklichkeit. Stuttgart: Klett Cotta.
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  • Wermke, Jutta (1997): Integrierte Medienerziehung im Fachunterricht: Schwerpunkt: Deutsch. München: kopaed.
  • Wiprächtiger-Geppert, Maja (2009): Literarisches Lernen in der Förderschule. Eine qualitativ-empirische Studie zur literarischen Rezeptionskompetenz von Förderschülerinnen und -schülern in literarischen Unterrichtsgesprächen. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.

Internetquellen

  • Kruse, Iris (2014b): Brauchen wir eine Medienverbunddidaktik? Zur Funktion kinderliterarischer Medienverbünde im Literaturunterricht der Primar- und frühen Sekundarstufe. In: Leseräume – Zeitschrift für Literalität in Schule und Forschung 1/1, 1-30, unter: www.leseräume.de/wp-content/uploads/2015/10/lr-2014-1-kruse-pdf (12.02.2019)