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Das Bilderbuch gilt seit geraumer Zeit als ausgesprochen innovative kinderliterarische Gattung. Neue Erzählformen, vielfältige Kombinationsmöglichkeiten von Bild- und Textebene, thematische Erweiterungen und künstlerisch ambitionierte Bildwelten haben zur Emanzipation dieses Archetyps literarischer Erstsozialisation maßgeblich beigetragen (vgl. Sipe/Pantaleo 2008, Thiele 2011, Oetken 2017, Kurwinkel 2017). In der Vielfalt der grenzüberschreitenden Tendenzen im Bilderbuch ist es gerade der immer fadenscheinigere Übergang zwischen der traditionell analogen Buchkultur und den Strukturen sog. 'neuer Medien' (Bertschi-Kaufmann/Härvelid 2007, S. 34), der zur Spielfläche der aktuellen Bilderbuchkunst avanciert. Angefangen von an Fernseh- und Computerästhetik orientierten Bildwelten, kameratypisch veränderten Perspektiven in Zoom- und Rezoombewegungen, Bilddynamisierungen durch Scriptpanels bis hin zu interaktiven Elementen, Bildanimationen, Tonspurbeifügungen und Ausflügen in die Dreidimensionalität (z.B. in Pop-up-Bilderbüchern) zeigen sich Bilderbücher heute vielgestaltig als Kunst im Zwischenraum von traditionell 'analoger' und 'neuer' Medienkultur (vgl. Ritter/Ritter 2014).
Diese Entwicklungen können als Drang von Bilderbuchgestaltenden gelesen werden, die Grenzen der eigenen medialen Kultur durch die Hybridisierung des Bilderbuchs zu überwinden; auch wenn diese Bilderbücher von ihrer Substanz her analoge Bilderbücher bleiben. Welche weiteren Möglichkeiten versprechen dann erst digitale Formen von Literatur, wie sie bereits seit einigen Jahren in der Diskussion sind?
Als relativ junges Phänomen ergänzen seit einiger Zeit digitalisierte Bilderbücher im Format der Anwendungssoftware für Mobilgeräte wie Smartphones und Tablets, sogenannte Apps, das Spektrum medialer Varianten des Bilderbuchs (ausführlich zum Phänomen: Ritter 2013; Fahrer 2014, Ritter 2016a). Diese basieren in den meisten Fällen auf bereits analog veröffentlichten Büchern und stellen demnach eine erweiterte Sekundärverarbeitung dar. Es gibt aber auch Primärproduktionen, die speziell als App-Anwendung konzipiert wurden. Mit der erfolgten Transformation ins digitale Medium verbunden ist die Erwartung, dass das Verlassen der Buchseite ganz grundsätzlich neue Möglichkeiten bei der literarästhetischen Konzeption von Bilderbüchern eröffnet. Als Vordenkerin der aktuellen technologischen Tendenzen ist in diesem Kontext z.B. auf die US-amerikanische Bilderbuchillustratorin Jean Gralley zu verweisen, die in ihrem Aufsatz "When Books Leave the Page" (2006) in der Digitalisierung von Bilderbuchliteratur die Chance zur Überwindung buchkultureller Traditionen erkennt, die sie als 'paper-thinking' (Papierdenken) bezeichnet. In ähnlichem Kontext sprechen Colin Lankshear und Michele Nobel sogar von "post-typographic forms of textual practice" (Lankshear/Knobel 2003, zit. n. Wood 2006, S. 16). Erwartet wird demnach von der digitalen Neukonzeption des Bilderbuchs nicht weniger als ein gravierender Bruch mit buchwissenschaftlichen Traditionen und eine neue Entwicklungsstufe der 'Gutenberg-Evolution'.
Die Untersuchung des aktuellen Marktes an Bilderbuch-Apps zeigt jedoch folgende Phänomene:
(1) Eindimensionalität: Nichtlinearität und Vernetzung als typische Charakteristika der sogenannten ,neuen Medien‘, die sich in der Textstruktur des Hypertextes manifestieren, finden in Bilderbuch-Apps nahezu nirgendwo eine Entsprechung. Vielmehr bleiben Apps in ihrer Erzählweise linear strukturiert. Interaktive Elemente dienen i.d.R. der fakultativen Ergänzung oder der Illustration der Handlung; oder aber ihrer Progression. Dabei ergeben sich aber keine Handlungsoptionen. Interaktiv vorangetrieben werden kann im hard-rail-Format lediglich der vorherbestimmte und entsprechend programmierte Handlungsverlauf.
(2) Sequenzialität: In Kombination mit der starren Linearität fällt auch die starke Strukturierung der Bilderbuch-Apps in einzelne Szenen, Bilderbuchseiten gleich, auf. Bei den Sekundärverarbeitungen verwundert das weniger, arbeiten diese doch mit einem entsprechend strukturierten Material. Primärproduktionen zeigen aber ebenso eine deutliche Abgrenzung vom Medium Film, der mit (realen oder im Zeichentrickfilm animierten) Kameraschwenks in einer Szene die Kulisse wechseln kann. Das geschieht in der Bilderbuch-App in aller Regel nicht. Die Kulissenbilder, wieder dem Bühnenraum gleich, bleiben bestehen und können nur durch den Szenenwechsel, das imaginierte Umblättern, gewechselt werden. Ganz offensichtlich steht hier ein Raumkonzept in Anlehnung zur Buchstruktur im Hintergrund. Die Papierseite als tradiertes Strukturmuster der Erzählung bleibt auch in der digitalen Übersetzung maßgeblich.
(3) Buchillusion: Die Seitenstruktur ist an vielen Stellen nicht nur implizites Strukturmuster, sondern auch explizit wird das Umblättern als Illusion animiert. In manchen Apps werden das Buch und ggf. auch die Konstruktion der Geschichte selbst zur metafiktionalen Vorlage der Handlung mit zum Teil kuriosen Effekten.
(4) Lesetext: Trotz des elektronischen Erzählers findet sich in fast allen Apps wenigstens die Möglichkeit, den Text zum Bild sicht- und lesbar anzuzeigen. Es ist in der Bilderbuch-App durchaus konventionell, das Buch selbst und aktiv zu lesen. Was im analogen Buch technologische Notwendigkeit ist – abgesehen vom modernen Lesestift gibt es ja keine Vorlesefunktion –, was im Film aber im Untertitel bestenfalls der multilingualen Synchronisierung dient, ist in der App normal. Auch diese Charakteristik verstärkt den Eindruck einer digitalen Buchseite.
Tendenz 1: Medienkonvergente Intermedialität
So wie das Bilderbuch seit jeher von medialen Neuentwicklungen beeinflusst wird und auch im analogen Bilderbuch immer schon Tendenzen der sog. ,neuen Medien‘ genreprägend wirkten, so setzen sich im digitalisierten Bilderbuch diese Tendenzen nahtlos fort. Unter den Bedingungen der veränderten materiellen und technologischen Möglichkeiten der digitalen Virtualität werden die Darstellungs- und Erzählkonzepte der Bilderbücher vielfältiger. In Bilderbuch-Apps sind Entwicklungstendenzen hin zur freieren Wählbarkeit und Manipulation der literarischen Inhalte erkennbar. Es existieren z.B. fakultative Animationen von Bildelementen, interaktive (Spiel-)Angebote, die aber in der Regel die Handlung nicht vorantreiben, sondern lediglich illustrativ ergänzen und spielerische Elemente. Allerdings bleiben diese i.d.R. eher ein Zusatzangebot, ohne dass die Lektüre der App durchaus auch realisiert werden kann. Ausnahmen davon sind selten anzutreffen (vgl. Ritter 2016b).
Tendenz 2: Remediation
Gleichzeitig zeigen sich die von ihrer papiernen Materialität befreiten Bild-Text-Erzählungen mit der Digitalisierung von Bilderbüchern, entgegen der oben formulierten Erwartung, einen neuen Typus des Literarischen zu schaffen, als verhältnismäßig konservative Phänomene. Vielmehr werden in den aktuellen Bilderbuch-Apps interessante Artefakte der Rückbindung an das analoge Medium Bilderbuch erkennbar, die in starkem Bezug zu dieser alten medialen, strukturellen und literarästhetischen Tradition stehen. Bilderbuch-Apps scheinen sich nicht primär von papierförmigen Publikationen emanzipieren zu wollen, sie suchen vielmehr die Nähe und die Ähnlichkeit zu ihren Wurzeln; den analogen Büchern. Der seitenartige Sequenzaufbau, die Beibehaltung einer linearen Struktur der Narration, der zurückhaltende Umgang mit interaktiven und dynamisierenden Elementen sind nur einige Beispiele dafür. Bis hin zur audiovisuellen Illusion der Materialität eines Buches verorten sich Bilderbuch-App-Gestaltende offenkundig in der Tradition der analogen Buchkultur, auf die explizit rekurriert wird.
Literaturverzeichnis
- Bertschi-Kaufmann, Andrea/Härvelid, Frederic (2007): Lesen im Wandel – Lesetraditionen und die Veränderungen in neuen Medienumgebungen. In: Bertschi-Kaufmann, Andrea (Hrsg.): Lesekompetenz – Leseleistung – Leseförderung: Grundlagen, Modelle und Materialien. Seelze: Kallmeyer, S. 29–49.
- Fahrer, Sigrid (2014): Bilderbuch und digitale Medien: E-Books, Apps & Co. In: Knopf, Julia/Abraham, Ulf (Hrsg.): BilderBücher. Theorie. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S. 117–124.
- Gralley, Jean (2006): When Books Leave the Page. In: Horn Book Magazine, H. 1, S. 35–39.
- Kurwinkel, Tobias (2017): Bilderbuchanalysde. Narrativik – Ästhetik – Didaktik. Tübingen: Francke.
- Lankshear, Colin/Knobel, Michele (2003): New Literacies. Changing Knowledge and Classroom Learning. Buckingham.
- Oetken, Mareile (2017) Wie Bilderbücher erzählen -- Analysen multimodaler Strukturen und bimedialen Erzählens im Bilderbuch. Oldenburg: Carl von Ossietzky Universität. URL: http://oops.uni-oldenburg.de/3204/1/oetken_bilderbuecher_habil_2017.pdf (Stand: 25.04.2019).
- Ritter, Alexandra/Ritter, Michael (2014): Aus dem Rahmen gefallen?! Bilderbücher im Medienverbund. In: Landesinstitut für Schulqualität und Lehrerbildung (Hg.): Lesefutter 2014, Magdeburg: Kultusministerium Sachsen-Anhalt, S. 7–21.
- Ritter, Michael (2013): Innovative Grenzgänge oder oberflächliche Effektheischerei? Tendenzen der Transformation literarischer Welten in Kinderbuch-Apps. In: Zeitschrift für ästhetische Bildung, H. 1. URL: http://archiv.zaeb.net/index.php/zaeb/article/view/70/65 (Stand: 25.04.2019).
- Ritter, Michael (2016a): Übergangsphänomene. Neue Bilderbücher im Spannungsfeld analoger und digitaler Medienformate. In: Russegger, A. (Hrsg.): Das Bilderbuch. Geschichte – Ästhetik – Medien. Klagenfurt, o.S.
- Ritter, Michael (2016b): Märchen-Apps zwischen Spiel und Erzählung. Eine Spurensuche. In: kjl&m Heft 2, S. 23–32.
- Sipe, Lawrence R./Pantaleo, Sylvia (ed.) (2008): Postmodern Picturebooks. Play, Parody, and Self-Referentiality. New York: Routledge.
- Thiele, Jens (2011): Das Bilderbuch. In: Lange, Günther (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Grundlagen, Gattungen, Medien, Lesesozialisation und Didaktik. Ein Handbuch. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S. 217–230.
- Wood, Ruth (2006): The Design and Development of a Multimedia Text for Children. In: International Journal of Learning, H. 4, S. 15–22.