Explikat

Geschlechtersensibilität im Literaturunterricht bezieht sich auf die verwendete Literatur, auf die Unterrichtsmethoden sowie den Umgang mit dem Geschlecht der Schülerinnen und Schüler. Zudem kann das Geschlecht auf der Meta-Ebene selbst zum Thema des Literaturunterrichts werden.  Die zumeist vorgenommene Einteilung der Schülerinnen und Schüler anhand ihres vermeintlichen biologischen Geschlechts stellt zwangsläufig eine starke Vereinfachung dar. Denn Unterschiede zwischen den Geschlechtern lassen sich nicht auf ein biologisches Geschlecht (sex) zurückführen, sondern sind Ergebnis eines Sozialisationsprozesses, bei dem aus dem sozial konstruierten Geschlecht (gender) bestimmte Erwartungen, Rollen- und Selbstbilder erwachsen. Werden Mädchen und Jungen von ihrer Umgebung einem Geschlecht zugeordnet, können damit gesellschaftliche Vorstellungen darüber verbunden sein, wie sie sich als weibliche bzw. männliche Personen typischerweise verhalten sollten (Geschlechterrollen). Die entsprechenden Erwartungen beeinflussen oft das Handeln von Schülerinnen und Schüler (doing gender), so dass stereotype Geschlechterrollen das Miteinander – auch in der Schule – prägen.

Ein Ziel des geschlechtersensiblen Literaturunterrichts ist es, geschlechterstereotype und -differenzierende Zuschreibungen und (vermeintliche) Kompetenzunterschiede zu reflektieren und gegebenenfalls zu relativieren. Zu diesem Zweck sind Methoden und Inhalte des Literaturunterrichts so zu wählen, dass Interessen und Bedürfnisse aller Schülerinnen und Schüler Berücksichtigung finden. Zudem muss darauf geachtet werden, dass durch den Sprachgebrauch oder das Verhalten der Lehrkräfte nicht unbeabsichtigt Geschlechterstereotype unterstützt bzw. hervorgerufen werden. Trotzdem kann es sinnvoll sein, statistische Geschlechterunterschiede reflektiert in der Unterrichtsplanung zu berücksichtigen, wenn dabei bedacht wird, dass diese Untersuchungen auf ein vereinfachendes, binäres Geschlechterverständnis zurückgreifen.

Auch auf der Meta-Ebene kann das Geschlecht im Literaturunterricht eine Rolle spielen, indem es selbst zum Unterrichtsthema gemacht wird. Jedoch muss dabei beachtet werden, dass das Sprechen über Geschlechterdifferenzen diese auch immer erzeugt (vgl. König 2020, S. 16-17). Daher ist es wichtig, nach jeder Dramatisierung von Geschlechterunterschieden eine mindestens ebenso deutliche Entdramatisierung vorzunehmen, indem auf Ähnlichkeiten von Männern und Frauen eingegangen, andere Differenzkategorien und ihre Wirkmacht dargestellt bzw. auf die Individualität jedes Menschen eingegangen wird. Geschlechtersensible Didaktik kann aber auch bedeuten, im Sinne einer Nicht-Dramatisierung‘ bewusst das Geschlecht nicht als Differenzkategorie in die Planung einzubeziehen und nur bei Bedarf darauf einzugehen (Debus 2012, S. 150-157).

Besonderheiten im Kontext mit KJM

Die Wahl einer alle Schülerinnen und Schüler ansprechenden Lektüre kann für den Erfolg des Literaturunterrichts ein entscheidender Faktor sein. Eine optimale Text-Leser-Passung kann aber nur bei einer individuellen Lektürewahl gewährleistet werden. Sollen verallgemeinernde Lektürepräferenzen berücksichtigt werden, kann nur auf statistische Vorlieben von Jungen und Mädchen zurückgegriffen werden, unterteilt durch ihr so genanntes biologisches Geschlecht. Dabei werden immer wieder große Überschneidungen der Lektürepräferenzen wie Spannung und Action festgestellt, doch es bestehen auch Unterschiede: So scheint es für Jungen wichtig zu sein, geeignete, in der Regel männliche Identifikationsfiguren in ihrer Lektüre zu finden, während Mädchen statistisch eher eine innere Handlung und einen Bezug zum eigenen Leben bevorzugen (Schilcher und Hallitzky 2004, S. 114-118). Das Bereitstellen einer vielfältigen Lektüreauswahl ist somit einem geschlechtersensiblen Literaturunterricht förderlich.

Im Umgang mit Literatur bietet sich eine Reflexion des Themas Geschlecht an, da sich dort aktuelle Diskurse bzw. ältere Erwartungen nachlesen lassen. Beim Vollziehen eines Perspektivwechsels können beim Lesen fremde Sichtweisen und Rollen gedanklich ausprobiert, emotional miterlebt und überdacht werden. Auch im Hinblick auf das Ziel eines geschlechtersensiblen Unterrichts, individuelle Vielfalt zu fördern und strukturelle Ungleichheit abzubauen, lohnt ein kritischer Blick auf die Darstellung von Geschlecht (vgl. Debus 2012, S. 150).

Literatur

Debus, Katharina: Dramatisierung, Entdramatisierung und Nicht-Dramatisierung in der geschlechterreflektierenden Bildung. Oder: (Wie) Kann ich geschlechterreflektiert arbeiten ohne geschlechterbezogene Stereotype zu verstärken? In: Geschlechterreflektierte Arbeit mit Jungen an der Schule. Texte zu Pädagogik und Fortbildung rund um Jungen, Geschlecht und Bildung. Hrsg. von Dissens e. V., Katharina Debus, Bernhard Könicke, Klaus Schwerma und Olaf Stuve. Berlin, 2012, S. 149-158.

Heiser, Ines: „Meine Jungen sind aber ganz anders?!“ – Literaturunterricht und Intersektionalität, In: Literaturunterricht gendersensibel planen. Grundlagen, Methoden, Unterrichtsvorschläge. Hrsg. von Ina Brendel-Perpina, Ines Heiser und Nicola König. Stuttgart: Klett, 2020, S. 23-28.

König, Nicola: Demokratisierung, Differenzierung und Entdramatisierung als Grundgedanken einer gender-sensiblen Didaktik. In: Literaturunterricht gendersensibel planen. Grundlagen, Methoden, Unterrichtsvorschläge. Hrsg. von Ina Brendel-Perpina, Ines Heiser und Nicola König. Stuttgart: Klett, 2020, S. 13-22.

Schilcher, Anita und Hallitzky, Maria: Was wollen die Mädchen, was wollen die Jungs – und was wollen wir? – Zu Inhalt und Methodik eines geschlechterdifferenzierenden Literaturunterrichts. In: Neue Leser braucht das Land! Zum geschlechterdifferenzierenden Unterricht mit Kinder- und Jugendliteratur. Hrsg. von Annette Kliewer und Anita Schilcher. Baltmannsweiler: Schneider, 2004, S. 113-136.