Explikat
Literarisches Lernen zielt auf Fähigkeiten für ein angemessenes Verstehen von literarischen (d. h. fiktionalen, ästhetischen) Texten. Gängig hierfür ist ein weiter Literaturbegriff, der auch visuelle, auditive und audiovisuelle Texte mit einbezieht (vgl. Spinner 2006, S. 14). Der Begriff literarisches Lernen kam v. a. im Gefolge der ersten PISA-Studie (2000) auf. Im Gegensatz zu der gegenstandsorientierten Bezeichnung Literaturuntericht verschiebt er den Fokus auf das Lernen, reklamiert dieses aber (auch) für literarische Texte und schon für die Primarstufe.
Maßgeblich wurden elf Aspekte literarischen Lernens, die Spinner 2006 vorstellte. Sie positionieren das literarische Lernen in Abgrenzung vom Umgang mit Sachtexten, über die Entwicklung einer allgemeinen Lesekompetenz hinaus, als vertieftes Verstehen literarischer Texte bzw. als gegenstandsorientierte Erziehung zur Literatur. Literarisches Lernen kann in einem erweiterten Sinne auch durch Literatur erfolgen und beinhaltet dann zusätzliche, eher subjektorientierte Funktionen wie psychologisches Verstehen, moralische Urteilskraft und die Erweiterung von Weltwissen.
Grundlegende Fragen betreffen die didaktische Kontur und Reichweite literarischen Lernens:
- Steht literarisches Lernen im Zeichen der oder im Widerspruch zur Kompetenzorientierung?
Die ‚Aspekte‘ schließen explizit an die seit PISA herrschende Diskussion über Kompetenzen an. Spinner spricht von „literarischer Kompetenz“ (2006, S. 7), benennt Tätigkeiten von Lernenden und entwickelt Ansätze einer Kompetenzprogression. Andererseits sind Dinge wie „Subjektive Involviertheit“ und „Unabschließbarkeit des Sinnbildungsvorganges“ kaum messbar. Die elf Aspekte sind erklärtermaßen kein kohärentes Kompetenzmodell und wohl auch nicht in ein solches übertragbar. Stärker auf (sichtbar zu machende) Fähigkeiten und Fertigkeiten zielt das Modell literarischen Lernens auf semiotischer Grundlage von Schilcher / Pissarek (2018).
- Ist literarisches Lernen eher subjektorientiert oder eher gegenstandsorientiert?
Literaturunterricht kann als Erziehung durch Literatur begriffen werden und zielt dann auf personale Bildungserträge wie Identitätsbildung, Selbst- und Fremdverstehen, Imagination und Kreativität; oder aber als Erziehung zur Literatur, der es zunächst auf die sachgerechte Erschließung des Gegenstands ankommt. Häufig wird für das literarische Lernen eine Zwischenposition bzw. eine Doppelfunktion aus Persönlichkeitsbildung und literarischer Bildung beansprucht (z. B. Büker 2002). Spinner begreift seine ‚Aspekte‘ eher als gegenstandsorientiert, sie enthalten jedoch auch subjektorientierte Anteile (z. B. „Mit Fiktionalität bewusst umgehen“).
- Bezeichnet literarisches Lernen das Gesamt des Umgangs mit Literatur oder nur einen Teil davon?
Diese Frage ist einmal zu beziehen auf das Verhältnis literarischen Lernens zu anderweitigen Aufgaben des Umgangs mit literarischen Texen wie literarische Bildung oder die Vermittlung allgemeiner Lesekompetenz und Leseförderung. Die Grenzen sind nicht klar zu ziehen, denn auch literarische Texte erfordern grundlegendes Leseverstehen und auch die Leseförderung hat subjektorientierte Anliegen. Die Frage nach der Reichweite ist auch zu stellen bzgl. der Zielgruppe: Im Allgemeinen wird literarisches Lernen für alle Jahrgangsstufen und Schularten reklamiert (vgl. Spinner 2006, S. 8), zudem für die Vorschule oder für den außer- und nachschulischen Bereich (vgl. Wrobel 2022, S. 141-143).
„Literarisches Lernen“ ist also kein fest umrissener Terminus. Zu (er)klären ist stets, ob er als Sammelbegriff für jedweden Umgang mit literarischen Texten oder aber als spezielles literaturdidaktisches Konzept gemeint ist. Als solches sind Spinners ‚Aspekte‘ verschiedentlich erweitert worden, z. B. von Abraham (2015) mit kulturwissenschaftlicher Akzentuierung entlang der Zieltrias Individuation – Sozialisation – Enkulturation oder von Maiwald (2015) in einem Subjektbezug und Gegenstandsbezug integrierenden Modell einer Persönlichkeitsbildung an literarischen (Wirklichkeits-)Modellen. Auch in solchen Erweiterungen stellt literarisches Lernen aber keine Gesamttheorie des Literaturunterrichts dar.
Besonderheiten im Kontext mit Kinder- und Jugendmedien
Literarische Sozialisation als Hineinwachsen in die kulturelle Praxis des Umgangs mit fiktionalen / ästhetischen Texten beginnt bereits vor der Schule (z. B. mit Abzählreimen, Bilderbüchern, Vorlesen) und ist nicht an das Medium Schrift gebunden (z. B. Theater, Hörtexte, Filme).
In der Schule richtet sich literarisches Lernen bereits an Grundschülerinnen und -schüler. Seine Komplexität ist sowohl durch die Textwahl als auch im Textumgang zu dosieren. Jüngere Lernende werden noch vergleichsweise einfachere ästhetische Strukturen erschließen (können), elementarere Genre- und Gattungsbegriffe für das Textverständnis nutzen, ihr Textverständnis noch in leichteren Formen mitteilen – aber prinzipiell tun sie all das auch.
Wenn Kinder- und Jugendliche literarisch lernen sollen, benötigen sie Kinder- und Jugendmedien, die dafür inhaltlich und formal ergiebig sind und mediale Vielfalt abbilden. Zu vermeiden ist ein Habitus, der die Schriftliteratur zur Norm erklärt, vor der andere mediale Formen als (defizitäre) Abweichungen erscheinen. Vielmehr sind die Eigenheiten verschiedener Medien fachlich angemessen und wertfrei aufzugreifen: In einem Hörspiel tragen z. B. Geräusche wesentlich zum Aufbau und zur Deutung des Situationsmodells bei. Eine Märchenanimationsfilmreihe wie Simsalagrimm konstruiert eine andere Handlungslogik als die Grimmschen Lesemärchen. Die Spielerin einer Videospiel-Narration erlebt in deren interaktiver Steuerung völlig andere Wirkungen von Literatur als beim Lesen eines Buches. Literarisches Lernen sollte medial so vielfältig sein wie die Welt, in der Kinder und Jugendliche heute leben.
Literatur
Abraham, Ulf: Literarisches Lernen in kulturwissenschaftlicher Sicht. In: Leseräume. Zeitschrift für Literalität in Schule und Forschung (2015). H. 2. S. 7-15. http://leseräume.de/wp-content/uploads/2015/10/lr-2015-1-abraham.pdf
Büker, Petra: Literarisches Lernen in der Primar- und Orientierungsstufe. In: Grundzüge der Literaturdidaktik. Hrsg. von Bogdal, Klaus-Michael/ Korte, Hermann. München: dtv, 2002. S. 120-133.
Maiwald, Klaus: Literarisches Lernen als didaktischer Integrationsbegriff. Spinners „Elf Aspekte“ als Struktur- und Denkrahmen für weiterführende Modellierung(en). In: Leseräume. Zeitschrift für Literalität in Schule und Forschung (2015). H. 2. S. 85-95. http://leseräume.de/wp-content/uploads/2015/10/lr-2015-1-maiwald.pdf
Schilcher, Anita/ Pissarek, Markus (Hrsg.): Auf dem Weg zur literarischen Kompetenz. Ein Modell literarischen Lernens auf semiotischer Grundlage. 4. Auflage. Baltmannsweiler: Schneider, 2018.
Spinner, Kaspar H.: Literarisches Lernen. In: Praxis Deutsch 33 (2006). H. 200. S. 6-16.
Wrobel, Dieter: Literarisches Lernen. In: Basiswissen Lehrerbildung: Deutsch unterrichten. Hrsg. von Brand, Tilman v./ Kilian, Jörg/ Sosna, Anette/ Riecke-Baulecke, Thomas. Hannover: Klett / Kallmeyer, 2022. S. 141-155.