Explikat

Interpretatorische Operationen lassen sich in propositionaler Hinsicht auf ihren Informationsgehalt und in pragmatischer Hinsicht auf die mit ihnen erfolgenden Handlungen hin betrachten (vgl. Zabka 2005, S. 23-96). An dem konstruierten Beispiel „Herr Tur Tur symbolisiert alles scheinbar Bedrohliche, das sich bei näherem Hinsehen als harmlos erweist“ lassen sich drei notwendige Komponenten jeder interpretativen Proposition unterscheiden: der Interpretationsgegenstand A (hier: eine Figur aus Michel Endes Roman Jim Knopf und die Wilde 13), die ihm zugewiesene Bedeutung B (hier: ein Phänomen der Alltagspsychologie) und der zugeschriebene Modus des Bedeutens M (hier: symbolisieren). Für die Benennung solcher Bedeutungsmodi existieren zahlreiche Ausdrücke wie „anspielen auf“, „verschlüsselt meinen“, „exemplifizieren“, „zugleich bedeuten“, „Symptom sein von“. Die zugewiesene Bedeutung entstammt normalerweise einem Kontext, der von dem interpretierten Gegenstand unterschieden ist.

Interpretationsprodukte im Sinne der Definition (2) enthalten neben interpretativen Operationen auch Operationen der Gegenstands- und Kontextbeschreibung, mit deren Hilfe die im Sinne der Definition (1) erfolgte Interpretation verdeutlicht und häufig auch argumentativ gestützt wird. Die Beschreibung des Gegenstands wird als Analyse bezeichnet, wenn sie in Kategorien eines Beschreibungsmodells für Texte, Filme usw. erfolgt.

Pragma- und Psycholinguistik unterscheiden das Interpretieren vom Verstehen. Während dieses ein mentales Ereignis ist, welches vom verstehenden Subjekt zwar beeinflusst, aber nicht intentional hergestellt werden kann, ist die Interpretation eine willentlich gesteuerte Operation: Der Imperativ „Verstehe den Text!“ lässt sich nicht direkt ausführen, sondern nur indirekt durch andere willentliche Operation wie das genaue Lesen oder das Interpretieren anstreben.

Aus pragmatischer Sicht ist es das vorrangige Handlungsziel textbetrachtender Interpretation, den Gegenstand Anderen oder sich selbst verständlich zu machen (vgl. Biere 1989). Je nach Gegenstand, Anlass und Zweck lassen sich funktionale Varianten des Verständlich-Machens unterscheiden. So können Interpreten einen nicht, falsch oder partiell verstandenen Text(abschnitt) überhaupt erst, korrigierend oder besser verständlich machen oder sie können einen bereits verstandenen, aber mehrdeutigen Text auf andere Weise verständlich machen.

In der Literaturdidaktik ist das Konzept etabliert, dass ein literarischer Text zunächst innerhalb des jeweiligen subjektiven Rezeptionskontextes (zumindest partiell) verstanden werden muss, bevor er innerhalb des historischen Produktionskontextes besser oder anders verständlich gemacht werden kann (vgl. Kreft 1982, S. 360 u. 397).

Wer ein subjektiv als selbstverständlich und alternativlos wahrgenommenes Verstehen äußert, vollzieht einen expressiven Sprechakt. Erst wer weiß, dass es Alternativen zu dem eigenen Verstehen gibt, kann die Expression in eine Behauptung verwandeln, die das eigene Verstehen als eine angemessene Interpretation darstellt. Zur Erklärung des Textsinns wird eine behauptende Interpretation, wenn Interpreten die Passung ihrer Bedeutungszuweisungen mit Eigenschaften des Textes begründen (vgl. Zabka 2005, S. 73ff.).

Interpretationen lassen sich außerdem danach unterscheiden, ob sie darauf zielen, einen Gegenstand mit dem bereits vorhandenen Wissen zu erklären, indem sie ihn in dieses Wissen subsumptiv einordnen, oder ob sie auf ein Nachdenken über den Text und über das Vorwissen zielen. In dem eingangs gegebenen Beispiel wird das Kleiner-Werden des Herrn Tur Tur mit einem bestehenden psychologischen Alltagswissen erklärt, das sich dabei nicht verändert. Das Motiv des Scheinriesen könnte aber auch zum Anlass genommen werden für ein neues Nachdenken über unterschiedliche Phänomene, in denen Größe relativiert wird.

Neben den diskursiv-textbetrachtenden Interpretationen gibt es künstlerische Interpretationen. Dazu zählen insbesondere das Sprechen und Vortragen, die szenische Darstellung theatraler und choreographischer Art sowie bildliche, filmische und musikalische Adaptionen und Transformationen. Dabei lassen sich stärker performative und illustrierende Formen auf der einen Seite von stärker verarbeitenden Formen auf der anderen Seite zumindest theoretisch unterscheiden, auch wenn der Übergang empirisch fließend ist. Performativ sind Interpretationen, die einen Text stimmlich, körperlich oder szenisch sinngestaltend darbieten. Illustrierend sind Interpretationen, die einen verstandenen Textsinn bildlich, filmisch, raumgestaltend oder musikalisch darstellen, um einer medialen Steigerung oder Bereicherung der Wahrnehmung, Vorstellungsbildung oder emotionalen Wirkung zu dienen und den Gegenstand mit ästhetischen Mitteln besser oder überhaupt erst verständlich zu machen. Beispiele dafür sind ein ‚sinngestaltender‘ Vortrag, eine um ‚Werktreue‘ bemühte Inszenierung, eine der literarischen Vorlage dienen wollende ‚Verfilmung‘. Ästhetisch-verarbeitend sind Interpretationen, die sich als ein eigenständiges Kunstwerk auffassen lassen, welches sich zwar intertextuell dominant auf den interpretierten Text bezieht, ihm aber nicht in erster Linie dient, sondern mit ästhetischen Mitteln Kontraste zu ihm aufbaut und ihn im Vergleich mit der abweichenden Adaption oder Transformation anders (als gewohnt) verständlich macht.

Zur pragmatischen Dimension zählen auch das Medium und die konkrete Medienform, in denen eine Interpretation dargestellt wird. Im Medium der Mündlichkeit haben textbetrachtende Interpretationen im Unterricht die Form eines Gesprächs oder eines Vortrags etwa im Rahmen einer Buchvorstellung. Die Formen schriftlicher textbetrachtender Interpretationen kann man in drei Gruppen zusammenfassen: (a) kurze, durch spezifische Lernaufgaben veranlasste Texte zu interpretationswürdigen Detailfragen des Verstehens; (b) etablierte didaktische Textformen wie die Figurencharakterisierung, die Inhaltsangabe oder die Rezension, deren beschreibende, zusammenfassende und bewertende Operationen zugleich interpretative Operationen erforderlich machen (Zabka 2019); (c) die Großform des Interpretationsaufsatzes (vgl. Rödel 2016). Ästhetisch-künstlerische Interpretationen können mündlich (Vortrag), szenisch (szenische Interpretation), schriftlich (poetisch-produktive Verfahren), musikalisch, bildlich und filmisch sein.

Besonderheiten im Kontext mit KJM

Die Interpretation literarischer Kinder- und Jugendmedien bezieht im Unterricht nur selten die Entstehungskontexte ein und leistet entsprechend selten eine Einordnung in literaturgeschichtliche Epochen. Dies hängt damit zusammen, dass die Lehrpläne historische Einordnungen erst in Jahrgangsstufen verlangen, in denen originäre Jugendliteratur häufig hinter die Behandlung allgemein adressierter Literatur zurückgestellt wird. Es bedeutet aber nicht, dass Kinder-und Jugendmedien ausschließlich subjektzentriert im Rahmen alltäglicher Rezeptionskontexte interpretiert werden. Vielmehr hat originäre und intendierte Kinder- und Jugendliteratur häufig historische Referenzkontexte, in deren Zusammenhang sie im Unterricht interpretiert wird, wobei historisches Wissen teilweise an die Texte herangetragen wird, teilweise interpretativ aus ihnen gewonnen werden soll.

Literatur

Biere, Bernd Ulrich: Verständlich-machen: Hermeneutische Tradition – Historische Praxis – Sprachtheoretische Begründung. Berlin: De Gruyter, 1989.

Kreft, Jürgen: Grundprobleme der Literaturdidaktik. Eine Fachdidaktik im Konzept sozialer und individueller Entwicklung und Geschichte. 2. Auflage. Heidelberg: Quelle & Meyer, 1982.

Rödel, Michael: Interpretationsaufsätze schreiben. Ein Handbuch. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 2016.

Zabka, Thomas: Pragmatik der Literaturinterpretation. Theoretische Grundlagen – kritische Analysen. Tübingen: Niemeyer, 2005.

Zabka, Thomas: Texte über Texte als Formate schriftlicher Leistungsüberprüfung. In: Lese- und Literaturunterricht, Teil 3. Hrsg. von Michael Kämper-van den Boogaart und Kaspar H. Spinner. 3. aktualisierte Auflage. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren, 2019. S. 63-92.