Explikat

Konzepte des Inter- und Transkulturellen sowie Globalen Lernens entstanden als Reaktion auf diverse soziale und geopolitische Transformationen in Folge zunehmender Transkulturalisierung, Europäisierung und Globalisierung unseres Alltags. Die von Werner Wintersteiner entwickelte Transkulturelle Literaturdidaktik nimmt die transkulturelle Verfasstheit der Welt im Sinne Wolfgang Welschs (2012) und die Erosion herkömmlicher Strukturen des Nationalstaates zum Ausgangspunkt und versucht eine kritische Reflexion hegemonialer Verhältnisse auch innerhalb des literarischen Diskurses anzuleiten. Einerseits forciert das Konzept ein grundlegendes Neudenken des Ortes von Literatur als das Fremde schlechthin und von ‚fremden‘ Literaturen in der homogenisierenden und zweckgerichteten Ordnung des Nationalstaates und dessen Bildungssystem. Andererseits geht es ihm um den Entwurf eines neuen literarischen Kanons und um das Offerieren neuer Welt- und Texterfahrungen unter expliziter Berücksichtigung von mehrsprachigen Texten, der Literatur der Minderheiten und der Nachbarländer wie auch der Literatur aus dem globalen Süden.

Transkulturelle Literaturdidaktik wird in verschiedenen Dimensionen und Bereichen der Deutschdidaktik wirksam. In der

- literarästhetischen Bildung, indem neue Ästhetiken und Narrative (etwa Magischer Realismus, mehrsprachige und mehrschriftliche Texte) zum Gegenstand des Unterrichts werden. Darüber hinaus geht es um einen neuen Umgang mit literarischen Texten allgemein, wobei einerseits der immanenten Fremdheit der Literatur und deren Irritationspotentialen Rechnung getragen und andererseits ein kritischer Blick auf die auch in literarischen Werken codierten euro- und ethnozentrischen Denkmuster geworfen wird.

- literarhistorischen Bildung, indem bei der Nachzeichnung literarhistorischer Entwicklungen transkulturelle Konstellationen sowie Übernahme-, Übersetzungs- und Transferprozesse, die den Mythos der Ursprünglichkeit und nationalistische Kategorien der Literaturgeschichtsschreibung mitsamt einem nationalen Kanon in Frage stellen, zunehmend relevant werden (vgl. auch Wintersteiner 2006b, S. 186)

- politischen Bildung, indem Transkulturelle Literaturdidaktik sich zum Ziel setzt, „mit Hilfe der Literatur die nationalen und weltweiten ökonomischen, politischen, kulturellen und sprachlichen gesellschaftlichen Machtkämpfe zu erklären [und] den Machtkampf innerhalb des ästhetisch-literarischen Diskurses als Teil der (kulturellen) gesellschaftlichen Auseinandersetzungen begreiflich zu machen“ (ebd., S. 185)

- sprachlichen Bildung, zumal sie durch die Auseinandersetzung mit mehrsprachigen Texten dazu beiträgt, „eine Kultur der Mehrsprachigkeit zu entwickeln“ (ebd.).

Im Hinblick auf die Verfahren der Textanalyse und Methoden plädiert Wintersteiner für einen neuen Umgang mit Literatur der Welt. Das Ziel besteht – anders als in interkulturellen Konzepten – nicht darin, den „geglückten Umgang mit dem Fremden“ (ebd., S. 136-137) zu organisieren, sondern darin, einen Umgang mit Literatur (und mit Fremdheit generell) anzustreben, „bei dem es darum geht, Fremdheitserfahrungen auszuhalten, zu beobachten und zu reflektieren“ (ebd.) und mit dem, was unverständlich und fremd bleibt, umzugehen. Gleichzeitig wird anvisiert, das ‚Eigene‘ zu dezentrieren und in seiner Selbstverständlichkeit – als sich durchsetzende (euro-, ethno- und germanozentrisch geprägte) Norm – zu hinterfragen.

Zentral für die Transkulturelle Literaturdidaktik ist schließlich die Arbeit mit dem und an dem Begriff „Weltliteratur“, der seit der Jahrtausendwende einen radikalen Bedeutungs- und Funktionswandel erfahren hat. Der Einsatz von Neuer Weltliteratur im Unterricht – als Literatur der Weltgesellschaft (vgl. Wintersteiner 2006a, S. 293-265) – kann in Wintersteiners Argumentation einen besonderen Beitrag zu einer kosmopolitischen Bildung leisten, weil sie vermehrt Mehrfachidentitäten, Hybridität, Exil und Migrationserfahrungen wie auch aktuelle Konfliktlagen und geopolitische Hegemonieverhältnisse zum Thema macht.

Besonderheiten des Gegenstandes im Kontext von KJM

Im Kontext der Transkulturellen Literaturdidaktik soll Kinder- und Jugendliteratur ebenfalls auf die Frage hin untersucht werden, inwieweit die Werke kollektive Denk- und Deutungsmuster, Identitäts- und Zugehörigkeitskonzepte der herrschenden gesellschaftlichen Ordnung affirmieren oder subvertieren und durchkreuzen. Eine solche dominanzkritische Lektüre empfiehlt sich nicht nur bei Klassikern wie etwa Robinson Crusoe (1719), sondern auch bei Büchern der so genannten Migrationsliteratur (etwa Neben mir ist noch Platz, 1993), in denen weiße Europäer*innen oder Mitglieder der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ als überlegen, handlungs- und sprachmächtig dargestellt werden, wohingegen Nicht-Europäer*innen und Zugewanderte defizitär oder kulturalistisch gezeichnet sind (vgl. Rösch 2000; Weinkauff 2000; Masanek, im Druck). Ethnisch mehrfachadressiert und in der Figurenzeichnung differenzierter sind Texte, die zwar Figuren mit Migrationserfahrung in ihren Werken auftreten lassen, ohne aber die Frage der Herkunft ins Zentrum der Handlung zu heben wie etwa von Zoran Drvenkar oder Andrea Karimé. Kinder- und Jugendliterarische Werke wie z.B. Der unvergessene Mantel (2012), die gesellschaftliche und politische Diskurse über Flucht und Migration irritieren, sind für die kritische Reflexion weißer Dominanzperspektiven besonders wichtig (vgl. Nagy 2021). Statt einer einseitigen Konzentration auf die Kategorie ‚Kultur‘ bzw. ‚Ethnie‘ empfiehlt es sich auch im unterrichtlichen Kontext, auf intersektionale Zugänge zurückzugreifen, damit sich Kinder und Jugendliche über das Zusammenwirken verschiedener Differenzkategorien wie gender, race und class bewusst werden. Nicht zuletzt soll hier explizit auf visuelle Kinder- und Jugendmedien wie Bilderbücher, Graphic Novels und Film hingewiesen werden, in denen Alteritätserfahrungen und ‚fremde‘ Protagonist*innen visualisiert werden und somit zu einer kritischen Betrachtung herrschender Repräsentationen über Fremde(s) und Andere(s) einladen.

Literatur

Primärliteratur

Boyce, Frank Cottrell: Der unvergessene Mantel. Übers. von Salah Naoura. Hamburg: Carlsen Verlag, 2012.

Defoe, Daniel: Robinson Crusoe. Aus dem Englischen von Rudolf Mast. Hamburg: Mare Verlag, [1719] 2019.

Maar, Paul: Neben mir ist noch Platz. München: dtv Verlag, 1993.

Sekundärliteratur

Masanek, Nicole: Die Inszenierung von Kultur(en) in Flucht-Bilderbüchern. Eine intermediale Analyse in einem literaturdidaktischen Kontext. In: Jenseits der Mediengrenzen. Medienübergreifendes Erzählen für Kinder in didaktischer und literaturwissenschaftlicher Perspektive. Hrsg. von Jochen Heins, Christoph Jantzen, Nicole Masanek, Philipp Schmerheim. Würzburg: Königshausen & Neumann [im Druck].

Nagy, Hajnalka: Entfremdung des 'weißen' Blicks. Globales Lernen und postkolonial orientierter Literaturunterricht. In: ide. informationen zur deutschdidaktik (2021) H. 4. S. 34 - 43.

Rösch, Heidi: Globalisierung in der Kinder- und Jugendliteratur und ihrer Didaktik. In: ide. informationen zur deutschdidaktik (2000) H. 4. S. 18-35.

Weinkauff, Gina: Multikulturalität als Thema der Kinder- und Jugendliteratur. In: Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Bd. 2. Hrsg. von Günther Lange. Baltmannsweiler: Schneider-Verl. Hohengehren, 2000. S. 766 - 782.

Welsch, Wolfgang: Was ist eigentlich Transkulturalität? In: Kulturen in Bewegung. Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität. Hrsg. von Dorothee Kimmich und Schahadat Schamma. Bielefeld: Transcript, 2012. S. 25-40.

Wintersteiner, Werner: Poetik der Verschiedenheit. Literatur, Bildung Globalisierung. Klagenfurt: Drava, 2006a.

Wintersteiner, Werner: Transkulturelle literarische Bildung. Die „Poetik der Verschiedenheit“ in der literaturdidaktischen Praxis. Innsbruck: StudienVerlag, 2006b.