Explikat

Informationen über die Geschichte des Literaturunterrichts weiterzugeben bedeutet, Historiographie (Geschichtsschreibung) zu betreiben. Dieses Umstands ist man sich in der derzeitigen Situation der Literaturdidaktik kaum bewusst, jedenfalls wird er nicht reflektiert (anders als in der Fachgeschichte der Pädagogik: vgl. Lenzen 1993, Bellmann und Ehrenspeck 2006). Geschichtsschreibung ist jedoch kein selbstverständlicher Vorgang, sondern bedeutet immer, die Kontingenz historischer Fakten zuzurüsten und in einem Gesamtbild neu zu gestalten. Dabei ordnet und konstruiert der Historiker beispielsweise nach chronologischen oder systematischen Kriterien; letztlich wird ein Narrativ erzeugt, also eine Erzählung, die Geschichte passend zu einem vorherrschenden Diskurs formt (vgl. Müller und Rüsen 1997). Als ein solches Narrativ ist auch die Geschichte des Literaturunterrichts und der Literaturdidaktik zu verstehen.

Wirft man einen Blick in die bestehenden Darstellungen der Fachgeschichte und des Deutschunterrichts, spiegeln sich darin die beiden methodischen Großformen der Geschichtswissenschaft: die problemgeschichtlich-systematische Historiographie, die entlang von dominanten Merkmalen Querschnitte durch die Epochen hindurch produziert, und die chronologische. Erstere beinhaltet eine stark konstruierende Tendenz (z.B. bei Hegele 1996, Abraham und Kepser 2005, teils Paefgen 2006), wenn beispielsweise die wenig lineare Entwicklung des Deutschunterrichts als Gegensatz von analytischem und handelndem Umgang mit Literatur (bei Abraham und Kepser 2005) oder als „Kontroverse Verstand-Gefühl“ (Paefgen 2006, S. 6) gefasst wird. Zweitere taucht prominent in den bekannten Darlegungen von Horst-Joachim Frank (1973) oder Michael Kämper-van den Boogaart (2010) auf; sie dient vorrangig dem Zweck der Orientierung und der Faktenwiedergabe.

Die Geschichte des Literaturunterrichts ist nur verstehbar, wenn man sie im Kontext der allgemeinen Geschichte des Lesens in bestimmten Kulturräumen verortet. Das Erscheinungsbild des schulischen Literaturunterrichts und die Stellung des Faches Deutsch im Fächerkanon sind also gewordene, nicht gegebene oder gemachte Aspekte der deutschen Bildungsgeschichte. Der hohe Stellenwert von Literatur ist in unserem kulturellen Kontext ein Produkt einer langen literarischen Tradition, die eng verwoben mit der Geschichte des Bürgertums ist. Die Engführung von literarischem Lesen, identifikatorischem und ästhetischem Lesen und Persönlichkeitsbildung, die die Lehrpläne bis in die Gegenwart beschreiben, kann ebenfalls auf die Ausbildung eines bestimmten historischen Leseverhaltens, das gegen Ende des 18. Jahrhunderts entsteht, zurückgeführt werden. Das soziale Ansehen des Theaters als Institution ist nur verstehbar unter Berücksichtigung seiner Entstehungszeit, von der Goethe uns im Wilhelm Meister, Moritz im Anton Reiser so anschauliche Illustrationen geben.

Die zentrale Bedeutung historischer Gewordenheit zeigt sich auch mit Bezug zum institutionalisierten Literaturunterricht, denn das Lehramt Deutsch liegt an der Schnittstelle literaturwissenschaftlicher und pädagogischer Ordnungssysteme. Beide Disziplinen reichen – wie die Institution Schule natürlich auch – tief in die Geschichte der Bildung in Deutschland hinab; der Zusammenhang von Schule, Literatur und pädagogischem Handeln in der Lehrer-Schüler-Beziehung ist Teil des kulturellen Gedächtnisses und wird in unzähligen autobiographischen Erinnerungen zum Thema. Die Lehrperson heute agiert in diesem kulturgeschichtlichen Zusammenhang, nicht außerhalb des Einflussbereiches desselben.

Geschichtliches Urteilsvermögen und Wissen können dabei helfen, grundlegende didaktische und methodische Richtungsentscheidungen vor dem Hintergrund ihrer historischen Folgen und Konsequenzen besser zu verstehen. Zudem können sich bestimmte Probleme als bereits gelöst erweisen, was Entscheidungsfindungen erleichtert.

Besonderheiten des Gegenstandes im Kontext von KJM

Die Fachgeschichtsschreibung ist ohne Bezüge zur a) Geschichte des Lesens, zur b) Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur und zur c) handlungswissenschaftlichen Literaturdidaktik, die vor allem seit etwa 1970 verstärkt den Einsatz von KJM im Unterricht befördert, nicht denkbar. Eine Auflistung von Einzelbefunden ist hier nicht möglich, denn die Wechselwirkungen sind in quantitativer wie qualitativer Hinsicht zu groß. Mit Bezug zu den o.g. Teildisziplinen: Bereits im Kontext der Entstehung von intentionalen KJM im 18. Jahrhundert (Philanthropismus) kam es zu didaktischen Erwägungen des Nutzens und der praktischen Umsetzung im Zusammenhang bürgerlicher Werthaltungen, die zunächst allerdings nicht auf institutionelle Kontexte (Schule) bezogen wurden. Lesesucht- und Schmutz-und-Schund-Debatten (in der Regel bewahrpädagogisch ausgerichtete Diskussionen über den schädigenden Einfluss des Lesens auf Kinder und Jugendliche) begleiteten seit dem 18. Jahrhundert und besonders seit der Entstehung von KJM ihre später dann auch institutionelle Aufnahme; in diesem Kontext erscheint beispielsweise um 1900 Heinrich Wolgasts Invektive gegen die Trivialisierung von KJM illustrativ (Beispiele: Wildwest-Romane Karl Mays, Spyris Heidi). Im Kontext der Kritischen Deutschdidaktik und der kommunikativen Wende (seit etwa 1970) wurde massiv für die Berücksichtigung alltags- und lebensweltlich relevanter KJM im Unterricht plädiert. Von etwa 1980 an kann für alle Schulformen die vollendete Durchsetzung dieser Forderungen konstatiert werden.

Literatur

Abraham, Ulf/ Kepser, Matthis: Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt, 2005.

Bellmann, Johannes/ Ehrenspeck, Yvonne: Historisch/systematisch - Anmerkungen zur Methodendiskussion in der pädagogischen Historiographie. In: ZfPäd (2006) H. 2. S. 245-264.

Frank, Horst-Joachim: Geschichte des Deutschunterrichts. München: Hanser 1973.

Hegele, Wolfgang: Literaturunterricht und literarisches Leben in Deutschland 1850-1990. Historische Darstellung – systematische Erklärung. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1996.

Kämper-van den Boogaart, Michael: Geschichte des Lese- und Literaturunterrichts. In: Michael Kämper-van den Boogaart und Kaspar H. Spinner (Hrsg.): Lese- und Literaturunterricht. Bd. 11/1. In: W. Ulrich (Hrsg.): DTP. Deutschunterricht in Theorie und Praxis. Baltmannsweiler, 2010. S. 3-85.

Lenzen, Dieter: Pädagogik und Geschichte. Pädagogische Historiographie zwischen Wirklichkeit. Fiktion und Konstruktion. Weinheim: Rowohlt, 1993.

Müller, Klaus/ Rüsen, Jörn: Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien. Reinbek: Rowohlt, 1997.

Paefgen, Elisabeth: Einführung in die Literaturdidaktik. Stuttgart: Metzler, 2006.

Schönbrunn, Walter: Die Not des Literaturunterrichts in der großstädtischen Schule. In: Die Erziehung (1929) H. 4. S. 252-259.