Explikat
Unterrichtsziele konkretisieren übergeordnete Bildungsziele. Diese sind „Aussagen darüber, welche Wissensinhalte, Fähigkeiten und Fertigkeiten, aber auch Einstellungen, Werthaltungen, Interessen und Motive die Schule vermitteln soll“ (Klieme et al. 2007, S. 20). Zugleich geben sie Auskunft darüber, „welche Chancen zur Entwicklung ihrer individuellen Persönlichkeit, zur Aneignung von kulturellen und wissenschaftlichen Traditionen, zur Bewältigung praktischer Lebensanforderungen und zur aktiven Teilnahme am gesellschaftlichen Leben wir Kindern und Jugendlichen geben wollen“ (Klieme et al. 2007, S. 20). Innerhalb dieser umfassenden Definition lassen sich die wichtigsten Unterscheidungen zwischen den Zielkategorien „Erziehung zur Literatur“ und „Erziehung durch Literatur“ (Fritzsche 1994, S. 98) verorten, die in den letzten Jahrzehnten für den Literaturunterricht getroffen und ausdifferenziert wurden.
1. Die „Aneignung kultureller und wissenschaftlicher Traditionen“ entspricht jenem Zielbereich, der in der Deutschdidaktik als „Erziehung zur Literatur“ (Fritzsche 1994, S. 98) bezeichnet wird. Dies umfasst die Vermittlung und Aneignung (1a) von Wissen über Literatur, (1b) von Fähigkeiten literarischer Rezeption, Verarbeitung und Produktion (vgl. Schmidt 1981) sowie (1c) von motivationalen und wertorientierten Einstellungen zur Literatur.
(1a) Wissen über Literatur betrifft die Kenntnis einzelner Werke, von Werkgruppen oder eines Kanons an Werken. Es umfasst weiterhin die Kenntnis literarischer Formen und Darstellungsweisen sowie Wissen über klassifikatorische und historische Ordnungsmuster, d. h. über literarische Gattungen und Epochen einschließlich intertextueller Zusammenhänge wie etwa gattungs- und epochenübergreifende Motivbezüge. Schließlich umfasst es ein Wissen über literarische Entstehungskontexte insbesondere soziokultureller, politischer, geistesgeschichtlicher und biographischer Art. Spinner (2006, S. 13) zählt es zu den Aspekten literarischen Lernens, „prototypische Vorstellungen von Gattungen/Genres [zu] gewinnen“ und „literaturhistorisches Bewusstsein [zu] entwickeln“; Zabka, Winkler, Wieser und Pieper (2022, S. 61f.) weiten den zweiten Aspekt auf das Lernen über Entstehungskontexte aus, die nicht im engeren Sinn als literaturhistorisch bezeichnet werden können.
(1b) Fähigkeiten der Rezeption sind zunächst mentale Operationen, die zum Verstehen von Texten, Hörtexten und Filmen aller Art erforderlich sind (vgl. Grzesik 2005; Schmid-Barkow 2010). Insbesondere sind es Fähigkeiten des Verstehens manifester Informationen und Informationsverknüpfungen, des Schlussfolgen impliziter Information, des Herstellens von Zusammenhängen zwischen entfernten Textstellen, des Bildens zusammenfassender Vorstellungen und Begriffe, des Verstehens von rhetorischen und textsortenspezifischen Darstellungsweisen und – als Synthese dieser Operationen – des Bildens eines kohärenten mentalen Modells des im Text Dargestellten. Innerhalb dieses Spektrums mentaler Operationen des Verstehens zielt der Literaturunterricht insbesondere auf einen kompetenten Umgang mit Darstellungsweisen, die andeutungsreich und unbestimmt sind, die als fiktionale Darstellungen nicht auf eine bestimmte Realität referieren, die an subjektive Elaborationen des Dargestellten und des Sinns appellieren und die in Grenzen mehrdeutig bleiben. Spinner (2006, S. 12) zufolge zielt das literarische Lernen unter diesem Aspekt auf die Bereitschaft, „Sich auf die Unabschließbarkeit des Sinnbildungsprozesses ein[zu]lassen“; Zabka, Winkler, Wieser und Pieper (2022, S. 49-52) unterscheiden in diesem Punkt zwischen Arten und Graden an „Mehrdeutigkeit“. Zur literarischen Rezeption gehört der Umgang mit Darstellungsweisen, die für ein reiches Verständnis die genaue Wahrnehmung der Textoberfläche, d. h. des Wortlauts erforderlich machen und die das Entdecken unterschwelliger semantischen Ähnlichkeiten und Oppositionen zwischen unterschiedlichen Elementen des Dargestellten und der Darstellung ermöglichen. Der Literaturunterricht fördert also in besonderem Maße die elaborative Vorstellungsbildung, das Bilden von Mutmaßungen und Hypothesen über Darstellungs- und Sinnzusammenhänge, die rezeptive Ambiguitätstoleranz, die Fähigkeit zur Revision des im Rezeptionsprozess vermeintlich Verstandenen mit besonderer Beachtung von Details und Zusammenhängen der sprachlichen Darstellungsweise. Die Vermittlung dieser Fähigkeiten geht mit der Vermittlung von Wissen über Literatur einher, etwa über gattungstypische Gestaltungsweisen. Die Fähigkeiten der Verarbeitung betreffen das Sprechen und Schreiben über Literatur in interpretierenden und bewertenden Formaten; weiterhin Formen der Performation, nämlich des Sprechens, des Vortragens und der szenischen Darstellung; schließlich die ästhetische Interpretation und Aneignung in bildlicher, filmischer, musikalischer und choreographischer Form sowie die literarische Aneignung in Form von Fortsetzungen, Variationen und Transformationen des im Ausgangswerk Dargestellten oder seiner Darstellungsweise. In diesem Punkt sind für die Verarbeitung zugleich Fähigkeiten der literarischen Produktion erforderlich, also Fähigkeiten des literarischen Schreibens (Abraham et al. 2022), die hier nicht näher aufgeschlüsselt werden sollen.
(1c) Schließlich zielt der Unterricht auf Einstellungen, die zum einen die Lese- bzw. Rezeptionsmotivation sowie die Rezeptions- bzw. Produktionsmotivation, zum anderen die Wertung von Literatur betreffen und die stets mit Emotionen verbunden sind. Bezüglich der Motivation zielt der Unterricht nicht pauschal auf Bereitschaft und Freude in Bezug auf das Lesen und Schreiben von Literatur, sondern auf differenzierte motivationale Dispositionen, die unterschiedliche Funktionen und Gratifikationen der Rezeption betreffen (Möller und Schiefele 2004; Graf 2007; Rosebrock und Nix 2020, S. 92-97). Entsprechend zielt Literaturunterricht nicht pauschal auf eine positive Wertung von Literatur, sondern auf die differenzierte Erweiterung der subjektiv verfügbaren Wertungsmaßstäbe in Bezug auf das (inhaltlich) Dargestellte und auf die (sprachliche und formale) Darstellung. Das erweiterte Repertoire an Maßstäben und an literarischem Wissen kann die individuellen Einstellungen zwar beeinflussen und zu Bewusstsein bringen, nicht aber determinieren (Zabka 2017).
2. Die „Entwicklung“ der „individuellen Persönlichkeit“ entspricht jenem Zielbereich, der in der Deutschdidaktik als „Erziehung durch Literatur“ (Fritzsche 1994, S. 98) bezeichnet wird. Hier kann man ebenfalls zwischen Wissen, Fähigkeiten und Einstellungen unterscheiden.
(2a) Auch wenn an fiktionale Literatur nur selten der Anspruch auf eine wahrheitsgemäße Darstellung einer bestimmten Wirklichkeit gestellt wird, tradiert sie als ein Medium des kulturellen Gedächtnisses (vgl. Assmann 1999) doch Wissen über historische, fremdkulturelle und fremdpsychische Wirklichkeiten. Jedes aus der Literatur gewonnene Wissen über die Welt, in der sie entstanden ist oder auf die sie (möglicherweise) referiert, wird durch Fiktionalität und Mehrdeutigkeit relativiert, aber nicht notwendigerweise suspendiert. Deshalb ist es üblich, literarische Werke als Modelle für ein Nachdenken über Entstehungs- oder Rezeptionskontexte, d. h. auch über die Welt der Leserinnen und Leser zu nutzen. Ein solcher Unterricht zielt auf eine Verständigung über Weltwissen sowie auf dessen Differenzierung und Erweiterung. Außerdem gilt die Entwicklung des Sprachwissens durch Literatur als ein Ziel der Persönlichkeitsbildung, sofern den Texten ein hohes Bildungspotential in den Bereichen Wortschatz, Satzbau, Stil, Rhetorik, Textstruktur und Sprachregister zuerkannt wird.
(2b) Mit der Erweiterung des Sprachwissens ist der Erwerb entsprechender sprachlicher Fähigkeiten rezeptiver und produktiver Art verbunden. Dies schließt Fähigkeiten der mündlichen und schriftlichen Kommunikation ein. Aufgrund ihrer Mehrdeutigkeit und Offenheit für individuell unterschiedliche Sinnzuweisungen gilt Literatur als besonders geeigneter Gegenstand der Gesprächserziehung (vgl. Steinbrenner 2020). Weiterhin gilt die Förderung der sprachlichen und generell der künstlerischen Kreativität und Phantasie als ein Ziel des produktiven, aber auch des rezeptiven Literaturunterrichts. Auch die unter (1) dargestellten Erfordernisse des literarischen Verstehens gelten als förderlich für Erkenntnisfähigkeiten in anderen Domänen und im Alltag: Fähigkeiten der Vorstellungbildung, des schlussfolgernden Verstehens, des vorläufigen und revisionsbedürftigen Verstehens der epistemischen Ambiguitätstoleranz. Da fiktionale Literatur sehr oft die Fähigkeit verlangt, Innenwelten von Figuren zu verstehen und mehrere Perspektiven aufeinander zu beziehen, wird der Literatur Potential für die Entwicklung der sozialen Kognition und des Fremdverstehens sowie der Empathiefähigkeit zugeschrieben (vgl. Schrijvers et al. 2019). Dem Verstehen und Bewerten literarisch dargestellter moralischer Konflikte wird entsprechend Potential für die Förderung des moralischen Urteils auch in alltagskommunikativen, politischen, rechtlichen und philosophischen Zusammenhängen beigemessen. Nicht nur in moralischer Hinsicht können literarisch dargestellte Konflikte eine Nähe zu alltäglichen Herausforderungen aufweisen, die als typische Entwicklungsaufgaben der Kindheit und des Jugendalters gelten, wie etwa die genderbezogene Rollenidentität oder die Gewinnung emotionaler Selbstbestimmtheit (vgl. Garbe et al. 2006). Aus diesem Grund wird der Literatur ein großes Potential für die Entwicklung der Ich-Identität zuerkannt und die Setzung entsprechender Ziele einer Erziehung durch Literatur empfohlen.
(2c) Die mögliche Förderung von Einstellungen in Bezug auf außerliterarische, alltägliche Zusammenhänge ist an die Förderung personaler Fähigkeiten eng gebunden. In diesem Sinne zielt Unterricht auf die Wertschätzung eines variantenreichen und prägnanten Sprachgebrauchs, auf Ambiguitätstoleranz in Situationen der Mehrdeutigkeit und Ungewissheit sowie auf die Anerkennung fremder Wahrnehmungen, Interpretationen, Meinungen und Werturteile. Literatur wird heutzutage nicht mehr, wie in den 1950er und 1960er Jahren, als ein Medium der „Werteerziehung“ und „Lebenshilfe mit Vorbildfunktion verstanden, sondern als ein Medium der Selbst- und Fremdreflexion, welches die Entwicklung eigener Orientierungsmuster ermöglichen soll “ (Spinner 1989, S. 12). Nur in diesem kritisch-reflektierenden Sinn gilt es heute als legitim, dem Literaturunterricht eine Rolle bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben in der Kindheit und im Jugendalter zuzusprechen (vgl. Garbe et al. 2006).
Beim Umgang mit all diesen Zielsetzungen ist es geboten, ihre kategoriale Verbundenheit in der Praxis zu beachten: In konkreten Unterrichtssituationen ist die Förderung von Fähigkeiten notwendig an bestimmte fachliche Wissensinhalte gebunden, und der Erwerb fachlichen Wissens erfordert und fördert stets fachliche Fähigkeiten. Entsprechend ist die Erziehung durch Literatur (Persönlichkeitsbildung) eng an die Erziehung zur Literatur (Enkulturation) gebunden: Nur wenn beispielsweise die Komplexität einer literarischen Perspektiv- und Konfliktgestaltung erkannt wird, ist es möglich, das Potential dieser Gestaltung für die Bildung der sozialen Kognition oder der Ich-Identität zu nutzen. Und nur wenn umgekehrt Rezipierende der jeweiligen Literatur einen möglichen Wert für ihr eigenes Weltwissen, ihr eigenes Denken usw. zusprechen, sind sie bereit, sich im Sinne einer Erziehung zur Literatur auf ernsthafte und schwierige Verstehensarbeit einzulassen.
Forschungsstand
Kaspar H. Spinner fasste die literaturdidaktische Diskussion und Theoriebildung aus dem letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zu „Zielsetzungen des Literaturunterrichts“ in sechs Kategorien zusammen: „1. Förderung der Freude am Lesen“, „2. Texterschließungskompetenz“, „3. Literarische Bildung“, „4. Förderung von Imagination und Kreativität“, „5. Identitätsfindung und Fremdverstehen“, „6. Auseinandersetzung mit anthropologischen Grundfragen“ (Spinner 1999). Die drei ersten Kategorien betreffen die Erziehung zur Literatur, die drei anderen die Erziehung durch Literatur bzw. die Persönlichkeitsbildung. Als Reaktion auf das schlechte Abschneiden der deutschen Schulen im Bereich Lesen bei der internationalen OECD-Vergleichsstudie „PISA 2000“ konzentrierte sich die Forschung stark auf die Lesemotivation und die Lesekompetenz; damit zusammenhängend wurden Verfahren und Strategien der Dekodierfähigkeit und Leseflüssigkeit, des Textverstehens und der Leseanimation entwickelt und evaluiert, die den Umgang mit Texten aller Art betreffen (vgl. zur Übersicht Rosebrock und Nix 2020). Dies waren auch vor PISA schon zentrale Anliegen der Literaturdidaktik, wie aus den Zielsetzungen der Kategorien 1 und 2 nach Spinner ersichtlich ist. In den folgenden Jahren rückten zunehmend spezifisch literaturbezogene Fähigkeiten und Wissensgehalte, die sich der Kategorie „Erziehung zur Literatur“ zuordnen lassen, in das Zentrum der literaturdidaktischen Forschung und Theoriebildung. Auf literatursemiotische Kategorien stützt sich die Modellierung und Erhebung literarischer Rezeptionskompetenz in zwei prominenten Projekten: auf drei semiotische Hauptkategorien nach Umberto Eco im Zusammenhang mit der Untersuchung literarischer Urteilskompetenz (Frederking et al. 2012) und auf eine Reihe von Teilkategorien in einem semiotischen Modell literarischen Lernens (Schilcher und Pissarek 2013). Zu Beginn dieser Entwicklung benennt Spinner „Elf Aspekt literarischen Lernens“ als literaturdidaktisch bedeutsam (Spinner 2006; vgl. auch Spinners Artikel „Literarisches Lernen“ in diesem Lexikon), bezieht sich dabei aber auf eine Erziehung zur Literatur. In der Folge verknüpft Abraham die einzelnen von Spinner genannten Aspekte auch mit einer Erziehung durch Literatur, indem er die „individuelle, soziale und kulturelle Bedeutsamkeit“ von Literatur sowohl in Bezug auf literaturbezogene Kenntnisse, Fähigkeiten und Einstellungen als auch auf die darüber hinausgehende Persönlichkeitsbildung bezieht. Dies meint insbesondere die mögliche individuelle „Prägung“ durch Literatur „im Sinn der Herausbildung von Verhaltensmustern und Handlungsdispositionen“, den sozialen Austausch „über die vom Text angestoßene Selbstreflexion mit anderen“ und die Enkulturation in ein historisch gewachsenes „Symbolsystem, mit dessen Hilfe große Gemeinschaften Identität herstellen“ (Abraham 2015, S. 10f.). Zabka, Winkler, Wieser und Pieper knüpfen an Spinner und Abraham an, indem sie typische Formen von Literarizität als Bezugspunkte literarischen Lernens benennen und diesen jeweils Ziele zuordnen, die Wissen und Fähigkeiten sowie Erziehung zur Literatur und Erziehung durch Literatur aufeinander beziehen (vgl. Zabka et al. 2022, S. 35-63).
Neben solchen Modellierungen von Zieldimensionen sind Prozesse und Handlungen der Zielsetzung und Zielformulierung Gegenstand didaktischer Theoriebildung und – soweit es die Unterrichtsplanung betrifft – didaktischer Forschung (König et al. 2020). Hierbei spielen Konzepte der allgemeinen Didaktik eine entscheidende Rolle. Als Subjekte von Zielsetzung gelten traditionell die Lehrpersonen sowie überindividuelle Instanzen, deren Intentionen durch Bildungspläne, didaktische Lehrmeinungen oder schulinterne Zielkataloge wirksam werden (vgl. Kiper 2006). Sind Mündigkeit, Autonomie und Selbstbestimmung Ziele des Unterrichts, so gelten auch die Lernenden selbst als Subjekte von Zielsetzung. Da die Voraussetzungen, Präferenzen und Fähigkeiten des Lernens sowie das Tempo und die schülerseitigen Lernziele in Lerngruppen nie einheitlich, sondern oft sehr unterschiedlich sind, kann eine differenzierende Zielsetzung im Unterricht erforderlich sein, deren Voraussetzung die Beobachtung und Diagnose von Unterschieden ist.
In diesem Zusammenhang kann der Abstraktionsgrad von Zielen unterschieden werden (vgl. Möller 1973, S. 80; von Brand 2015, S. 100). Er entspricht den Zeiträumen, innerhalb derer die Ziele angestrebt werden: Langfristige Leit- und Richtziele wie die in Deutschland für alle allgemeinbildenden Abschlüsse erlassenen Regelstandards (https://www.iqb.hu-berlin.de/bista/subject/; gesehen am 14.02.2023) legen auf einem hohen Abstraktionsgrad die für sämtliche Absolventinnen und Absolventen eines Bildungsgangs angestrebten Fähigkeiten und Kenntnisse fest. Innerhalb dieses Rahmens werden untergeordnete Richtziele für einzelne oder doppelte Jahrgangsstufen und für unterschiedliche Schultypen konkreter formuliert, sodass die übergeordneten Standards auf unterschiedliche Weise, mit unterschiedlicher Sequenzierung und bei unterschiedlicher Dauer der Beschulung angestrebt werden können. Von geringerer Reichweite sind die in der Verantwortung einzelner Schulen und Lehrpersonen liegenden Ziele für Unterrichtsreihen und – zeitlich weiter abgestuft und konkretisiert – Unterrichtseinheiten. Auf dieser Ebene sind unterschiedliche Ziele für unterschiedliche Lerngruppen derselben Schule formulierbar, wenn dort äußere Differenzierung erfolgt, also unterschiedliche Leistungsgruppen gebildet werden. Als Feinziele bezeichnet man schließlich sehr konkrete Ziele, die in einzelnen Phasen des Unterrichts mit bestimmten Lehr-Lern-Verfahren erreicht werden sollen. Während die institutionell kodifizierten Richtziele stets schriftlich explizit formuliert sind, haben die für eine Unterrichtseinheit oder -phase angestrebten Ziele häufig einen rein gedanklichen, nicht explizierten Status. Solche Feinziele können an Handlungsroutinen gebunden sein, ohne den Handelnden vollständig bewusst zu werden. Eine Aufgabe der Planung und der Reflexion von Unterricht besteht darin, Stunden- und Feinziele bewusst zu setzen oder sie nachträglich bewusst zu machen.
Aus übergeordneten Leit- und Richtzielen lassen sich die konkreten und kurzfristigen Ziele nicht deduktiv ableiten, weil auf jeder Konkretionsebene mehrere Zieldimensionen zusammengeführt werden, indem etwa für eine Unterrichtseinheit eine Synthese von Entscheidungen über das zu fördernde Literaturwissen, über entwicklungsaffine literarische Inhalte, über Fähigkeiten des Texterarbeitung und über fachspezifische Lernverfahren verlangt ist. Die Spezifikation der übergeordneten Ziele ist daher ein multifaktorieller Entscheidungsprozess (vgl. Zabka et al. 2022, S. 1ff.; 63f.)
Aus der Sicht der Lernzieltheorie, wie sie in den 1960er Jahren formuliert wurde, lässt sich das Erreichen eines Ziels ausschließlich an einer Verhaltensänderung erkennen. Daraus resultierte die Maxime, jede Zielformulierung solle die Form einer möglichst präzisen Formulierung von Handlungsresultaten haben. Die Erreichung eines Feinziels lässt sich in dieser Sichtweise streng genommen nur dann konstatieren, wenn ein Verhalten, welches ein Können oder Wissen anzeigen soll, sowohl vor als auch nach dem Lernprozess dokumentiert wird. Ziele, die den Lernprozess selbst, nicht aber dessen positives (greifbares) Resultat benennen, sind aus der Sicht dieser Theorie ungeeignet (vgl. Möller 1973, S. 80). Dies würde z. B. für die Formulierung gelten: „Die Schüler:innen interpretieren das Handlungsmotiv der Figur A“. Angemessen hingegen erschiene aus lernzieltheoretischer Sicht hingegen die Formulierung: „Die Schüler:innen können sagen, dass die Figur A aus Wut oder aus Verzweiflung handelt“. Geht man jedoch davon aus, dass ein erwünschter Lernprozess nicht ausschließlich an bestimmten positiven Resultaten erkennbar ist, die sich vorab festlegen lassen, sondern an einer Reihe möglicher, eventuell noch unabsehbarer Indizien, so folgt daraus die Lizenz, Ziele auch in der Form des Satzes „Die Schüler:innen interpretieren das Handlungsmotiv der Figur A“ zu formulieren und zusätzlich Indizien möglicher Realisierungen dieses Lernprozesses anzugeben. Das für eine Unterrichtsphase oder einer Unterrichtseinheit formulierte Ziel muss dabei nicht den Abschluss eines Lernprozesses definieren, sondern kann Zwischenergebnisse oder Indizien eines begonnenen und sich entwickelnden Lernprozesses benennen.
Besonderheiten im Kontext mit Kinder- und Jugendmedien
Die Setzung und Formulierung von Zielen ist abhängig zum einen von den Lernvoraussetzungen und den Lernmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler, zum anderen von den jeweils ausgewählten Lerngegenständen. Die Entwicklung der Fähigkeiten des Textverstehens, des Sprach- und Weltwissens, der Interessen und der kindlichen oder jugendlichen Entwicklungsaufgaben müssen bedacht werden. Literarische Gegenstände müssen zu diesen Lernvoraussetzungen passen und Potentiale und Anlässe für eine Weiterentwicklung bieten. Ist dies nur in geringem Maße oder oder auf eine für die Lernenden unzugängliche Weise der Fall, so ist die Erreichbarkeit der entsprechenden Ziele durch den Unterrichtsgegenstand eingeschränkt. Man kann daher nicht allgemein formulieren, welche besonderen Ziele der Umgang mit Kinder- und Jugendliteratur haben kann und haben soll; vielmehr lässt sich dies nur in Relation zu den jeweils lernenden Subjekten und den zur Wahl stehenden literarischen Gegenständen entscheiden. Aufgabe der didaktischen Analyse bei der Unterrichtsplanung ist es, die Passung der möglichen Ziele zu den Eigenschaften und Potentialen sowohl der Schülerinnen und Schüler als auch der zur Wahl stehenden literarischen Gegenstände und Medien einzuschätzen.
Literatur
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