Inhaltsverzeichnis
1 1896-1918: Die Flegeljahre des Kinos und das Goldene Zeitalter der Kinematographie
2 1918-1933: Kinder- und Jugendkino in der Weimarer Republik
2.1 Kinder und Jugendliche in den Kinos der Weimarer Republik
2.2 Schul- und Unterrichtsfilme
2.3 Lichtspielhäuser: Vom Hort der geplagten Menschen zu den Kathedralen des Films
2.4 Vom Stummfilm zum Tonfilm
2.5 Kinder und Jugendliche als Kinobesucher
2.5.1 Kinderkino als kultureller Raum
2.5.2 Zweifelhafte Elemente und halbwüchsige Bürschchen
2.5.3 Zur Soziologie des Publikums
2.5.4 Knaben und Mädchen
2.5.5 "Jugendfrei" und "Jugendverboten"
2.5.6 Kindheitserinnerungen an ein "plebejisches Vergnügen"
2.5.7 Rechts gegen links – links gegen rechts
2.5.8 Keine Angst vor "Kinokindern"
2.6 Kinder vor der Kamera
2.7 Kinder- und Jugendfilme der Weimarer Republik
3 Märchen-Stummfilm in Deutschland
Wenn Kinder ein Kino besuchten, dann setzten sie sich nicht einfach vor die Leinwand, um interessante Filme zu sehen (darauf reduziert sich ihr Handeln, wenn man im Sinne des herkömmlichen Öffentlichkeitskonzepts nach politischer, sozialer oder ästhetischer Kommunikation und Meinungsbildung fragt). Sie bewegten sich aus ihrer Sicht auf umkämpften Terrain, auf dem es um Selbstbehauptung, Nicht-ertappt-Werden, Übertölpeln der Autoritäten, Durchsetzen des eigenen Geschmacks und Ähnliches ging. An der Frage, wie viele Kinodramen und wie viele Naturbilder im Kinderkino gezeigt wurden, konnte man ab etwa 1910 ablesen, wer in diesem Tauziehen die Oberhand behielt. (Maase 2008, S. 139)
Kinderkino als kultureller Raum
Über Kinder und Jugendliche als Zuschauer der frühen Filme im Jahrmarkts- oder Wanderkino gibt es keine gesicherten Erkenntnisse. Wer sich die Bilder der Schauplätze jener Jahre vor Augen führt, der vermag sich vorzustellen, wie neugierig und wissbegierig die Generation der Heranwachsenden sich vordrängelte, um ja nichts zu verpassen. Erst, als ab ca. 1905 Filme in den ortsfesten Kinos, den Kinematographen, vorgeführt wurden, lässt sich ein Kino-Publikum beschreiben.
Etwa von dieser Zeit an kann man nach Ansicht von Kaspar Maase auch ein "Kinderkino" (was Jugendliche bis etwa 16 Jahre einschließt) nicht mehr nur allgemein "unter dem Rubrum 'Öffentlichkeit', sondern als einen besonderen kulturellen [...] Raum betrachten" (Maase 2008, S. 126). Besonders in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, als unterschiedliche Maßnahmen zur Regelung der Zulassung von Kindern und Jugendlichen zum Kinobesuch diskutiert und realisiert wurden, gerieten sie in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Abends galt zwar ein Kinderverbot, aber nachmittags waren die Kinos faktisch in der Hand der Kinder. Und die Jugendlichen verstanden es immer wieder, die Kontrollmöglichkeiten der Polizei und der Lehrer auszutricksen.
Dank des zunehmenden Interesses der Pädagogen an den möglichen "Stätten der Unmoral" (vgl. Moreck 1926) ist aus den Polizeiakten mehr über Kinder und Jugendliche zu erfahren als aus der Tagespresse und den Fachpublikationen. Meistens waren es Berichte über spektakuläre Vorkommnisse, aber in den örtlichen Zeitungen wurde auch von anderen besonderen Ereignissen berichtet. So hat "Castans Panopticum", eine frühe Heimstatt des Kinos in Köln, Ende 1908 am "Christfest den Waisenkindern hiesiger Stadt auch eine kleine Weihnachtsfreunde bereitet" – so die Erste Internationale Film-Zeitung am 1. Januar 1909. Die Direktion gewährte den Kindern freien Eintritt für ein eigens für sie zusammengestelltes Programm, zu dem u. a. auch "russische Zwerge mit ihren Tänzen" und "Fesselkünstler" gehörten: "Das Kinderdrama Der kleine, brave Leiermann hielt die Kleinen ganz in Spannung, da dieses Bild von dem Schicksal eines Waisenknaben handelt. Hochbefriedigt von dem Gesehenen verließen nach ungefähr zweistündigem Aufenthalt die Kinder das Panoptikum."
Solche Artikel waren eine Ausnahme. Wenn über Kinder und Jugendliche im Kino berichtet wurde, so waren es meistens die spektakulären Vorgänge wie Polizeieinsätze in den Orten der Unmoral oder die heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Kinobetreibern und den Jugendschützern. Verhaltensauffällige Jugendliche, die in den 'Orten des Sittenverfalls' randalieren, lassen sich in der Presse besser verkaufen als brave, kleine Waisenkinder im Kino.
In den schriftlich erhaltenen Kindheits-Erinnerungen derjenigen, für die später der Film eine mehr oder weniger wichtige Bedeutung haben sollte, tauchen gelegentlich Berichte von Vorstellungen auf, die von Kindern besucht wurden und in denen es sehr lebendig und mitunter chaotisch zuging. Und die Kino-Betreiber, die sich von kommerziellen und nicht von pädagogischen Interessen leiten ließen, hatten noch nicht die richtige Antwort auf den Umgang mit ihnen gefunden.
Erst mit dem sich herausbildenden Langspielfilm setzte Mitte der 1920er Jahre eine Differenzierung des Kinopublikums ein:
Auch Kinder und Jugendliche wurden als Zuschauer wahrgenommen. Zugleich forderten Politiker, Pädagogen und Eltern, aufgrund möglicher negativer Begleiterscheinungen des neuen Mediums Kinder und Jugendliche von den Kinos fernzuhalten. Bedenken über eine schädliche Wirkung der Filmbilder auf die geistige Entwicklung der Heranwachsenden dominierten die öffentlich geführten Diskussionen. (Schäfer/Wegener 2009, S. 21)
Proteste und Aktionen von Pädagogen gegen den "Schmutz und Schund" (Töteberg 1977, S. 26) in den "Stätten der Unmoral" hatte es immer schon gegeben. So legte die Gesellschaft der Freunde des vaterländischen Schul- und Erziehungswesens zu Hamburg im Mai 1907 einen Bericht vor, in dem es um die Frage ging: "Wie schützen wir die Kinder vor den schädlichen Einflüssen der Theater lebender Photographien?" (zit. in Töteberg 1977, S. 26)
In seinem Buch Filmstadt Hamburg hat Michael Töteberg die danach folgenden Auseinandersetzung ausführlich dokumentiert: Eine Kommission, die über 200 Filme geprüft hatte,
war zu einem niederschmetternden Ergebnis gekommen: 'Rührstücke nach Art der Hintertreppen-Romane' wurden moniert, 'Rohheiten aller Art, wie Prügelei, Trunkenheit, Tierquälerei etc.; Liebesszenen, in größter Unbefangenheit dargestellt; Verbrechen aller nur erdenklichen Arten' und 'Plattheiten bis zum Blödsinn gesteigert'. [...] Von wenigen Kultur- und Tierfilmen abgesehen, fanden die Lehrer nur Geschmacklosigkeiten, Widerliches und Anstößiges. (Töteberg 1997, S. 26).
Wie Töteberg schildert, beriefen die Kinematographenbetreiber daraufhin im Juli 1907 eine Versammlung ein, bei der die Lehrer aber nur eine Minderheit bildeten. Die Kinobesitzer hatten für den Bericht der Kommission nur "ein mitleidiges Lächeln" übrig: "So etwas können aber nur Lehrer schreiben." (Töteberg 1977, S. 26) Das Branchenblatt Internationale Film- und Kinematographen-Zeitung bezeichnete das Fazit der Veranstaltung als ein "glänzendes Fiasko" (Töteberg 1997, S. 26).
Zwei Jahre danach erreichten die Pädagogen eine Polizeiverordnung, die Kindern den Kinobesuch ohne Begleitung von Erwachsenen verbot. Diese Verordnung wurde später modifiziert, indem ihre Gültigkeit auf Abendprogramme eingeschränkt wurde. Da den Kinobesitzern an einer Planungs- und Rechtssicherheit gelegen war, befürworteten sie die Übernahme der Berliner Zensurbestimmungen.
Das sogenannte "Hamburger Modell" schildert Kaspar Maase in seinem Aufsatz "Kinoöffentlichkeit. Kinderkino. Halbwüchsige, Öffentlichkeiten und kommerzielle Populärkultur im deutschen Kaiserreich" ausführlich. Er beschreibt die "konfliktreiche Kooperation" (Maase 2008, S. 129) zwischen den Lehrern und Kinounternehmern in der Frage, was für Kinder geeignet sei oder nicht:
Zweifellos hatten die Kinder auch Spaß an Manövern, Katastrophen oder einem Auftritt des Kaisers. Aber die von den Pädagogen geschätzten belehrenden Streifen langweilten sie einfach – und sie wurden wohl auch als Verlängerung schulischer Didaxe in ihre Freizeit hinein abgewehrt. Was Heranwachsende vor allem bewegte, waren Geschichten voll Spannung und Emotion – von der Kritik als 'Schund' denunziert.
Die Kinobetreiber standen mit wenigen Ausnahmen auf Seiten des Publikums – nicht nur aus ökonomischem Kalkül, sondern ebenso, weil der populäre Geschmack auch ihr persönlicher Geschmack war. Kinder, auch wenn sie nur halbe Preise zahlten, zählten durchaus für das Überleben vieler kleinerer Betriebe, und so fanden sie die Besitzer und das Personal normalerweise auf der Seite ihrer Wünsche. (Maase 2008, S. 139)
Zweifelhafte Elemente und halbwüchsige Bürschchen
Jugendliche waren zu allen Zeiten immer schwer zu disziplinieren. Sie erobern vor allem neue und aufregende Räume – und dazu gehört eben auch das Kino. Nicht immer benehmen sie sich dabei so, wie es die Erwachsenen wünschen. Der Autor R. Genenncher rief daher in der Fachzeitschrift Der Kinematograph am 6. Oktober 1915 zur "Erziehung des Publikums" auf. Seine Ausführungen werden im Folgenden ausführlicher zitiert, weil sie auch einen Einblick in die damalige Debatte über das Kinopublikum bieten:
Rein äußerlich genommen, gibt es Theater, die ein, sagen wir 'fertiges' Publikum besitzen und solche, deren Kundschaft unreif, oder, was besonders bei kleinen Vorstadtkinos zuweilen der Fall ist, direkt ‚ungezogen’ ist. Große Lichtspielhäuser, deren Stammpublikum den guten Gesellschaftskreisen angehört, die bereits durch das Theater zur Wahrung korrekter Formen im Zuschauerraum herangezogen wurden, denen Takt und Ton oft gleich im Gefühl liegen, angeboren sind, brauchen sich nur selten über grobe äußere Verstöße ihrer Gäste zu beklagen, ebenso wenig jene glücklicherweise in der überwiegenden Mehrzahl vorhandenen Lichtbühnen, deren Besucher zu den soliden, arbeitenden Kreisen unseres Volkes gehören und die dadurch die breite und durchaus gesunde Basis für die gesamte Entwicklung der Kinematographie bilden.
Anders liegt der Fall dagegen oft bei jenen oben erwähnten Vorstadtkinos, deren Besucher mitunter zu recht zweifelhaften Elementen gehören. Hier muss der Theaterleiter oder sein Vertreter der Knigge seiner Gäste werden. Im Interesse unserer gesamten Branche ist es dringend erforderlich, dass Personen, deren Verhalten im Theater Anstoß erregt, zur guten Sitte erzogen oder einfach vom Besuch der Kinos ausgeschaltet werden. Hierzu gehören vor allem jene halbwüchsigen Bürschchen, die in den kinematographischen Darbietungen lediglich ein wohlfeiles Objekt ihrer Spottsuche erblicken und durch ihr frivoles Betragen für das übrige Publikum ein öffentliches Ärgernis bilden. Es ist traurige Tatsache, dass es noch immer Kinobesitzer gibt, die dulden, dass solch saubere Herrchen beispielsweise die Vorgänge im Film durch freche, zweideutige Bemerkungen illustrieren, die Erklärungen des Rezitators durch unflätige Zwischenrufe unterbrechen, Küsse durch lautes Schmatzen markieren, Papier und andere Gegenstände gegen die Bildfläche werfen und dergleichen mehr. Derartige Gäste sollen dem Kino ruhig fernbleiben [...]
Ein Vorstadtkino ist natürlich kein Gesellschaftssaal. Als 'Unterhaltungsstätte' des Volkes wird ihm der Arbeiter im blauen Kittel, der Soldat, das einfache Dienstmädchen gewiss jederzeit willkommen sein, nie und nimmer aber darf es sich zum Tummelplatz von Rowdys und zweifelhaftem Gesindel herabwürdigen, so dass sich, wie das leider in Berlin schon geschehen ist, die Polizei veranlasst sieht, eine Razzia im Kino zu veranstalten.
Zur Soziologie des Publikums
In ihrer Dissertation aus dem Jahre 1913 Zur Soziologie des Kinos. Die Kino-Unternehmung und die sozialen Schichten ihrer Besucher gibt Emilie Altenloh (1888-1985) die erste umfassende Beschreibung der zeitgenössischen Filmproduktion und der Konsumenten. Sie wurde 1914 in den von dem Heidelberger Soziologen Alfred Weber herausgegebenen "Schriften zur Soziologie und Kultur" veröffentlicht und verortete das neue Medium funktional in der modernen Kultur der Industriegesellschaft (vgl. Altenloh 1914). Grundlage war eine 1911 in Mannheim durchgeführte Fragebogenaktion, die gleichzeitig auch eine Erhebung über das Interesse an Bildender Kunst war. Neben den Erwachsenen galt das besondere Interesse den Jugendlichen im Alter von 14 bis 18 Jahren. Da die Rückläufe aus den im Kino verteilten Fragebögen unbefriedigend waren, konzentrierte Altenloh sich auf Volks-, Fortbildungs- und Gewerbeschule.
Stellte sie bei den Erwachsenen fest, dass sich besonders die Kinodramen – wie beispielsweise die mit Asta Nielsen – als besonders zugkräftig erweisen, so galt dies nicht für die Kinder:
Die Übereinstimmung zwischen der Intensität des Interesses für Dramen und für den Film im allgemeinen findet sich am wenigsten ausgeprägt bei Kindern, bei denen auch der Rückschluss von der Häufigkeit des Besuches auf die Lebhaftigkeit des Interesses am gewagtesten erscheint, da sie ja noch nicht absolut selbständig über sich bestimmen und auch das notwendige Geld nicht so ohne weiteres zur Verfügung haben. Immerhin beträgt der Prozentsatz derer, bei denen auf allgemeine Interessenlosigkeit hinsichtlich der Theater, Konzerte, Vorträge, Varietés und Kino geschlossen werden muss, nur 20%. [...]
Zwar sind auch bis zu einem gewissen Grade der sozialen Lage der Eltern nach die Möglichkeiten für die einzelnen verschieden. Für die Mehrzahl ist zum Beispiel ein Theater oder Konzertbesuch erreichbar, für andere wieder ist der Kino die einzige Art der Unterhaltung. Wo immer überhaupt die Schaulust erwacht, da wendet sie sich zuerst dem nächstliegenden, dem Kino, zu. 79% aller von uns befragten Knaben, 33% der Mädchen sind überhaupt im Kino gewesen. (Altenloh 1914, S. 58f.)
Das Verhältnis zwischen Knaben und Mädchen entspricht auch den Beobachtungen bei den Kindervorstellungen mit ausgewähltem Filmmaterial, die infolge des generellen Kinoverbots in einigen Städten und Ländern "unter Leitung der Lehrer[..] von den Schulkindern gegen billiges Eintrittsgeld besichtigt werden." (Altenloh 1914, S. 42)
Die Autorin konstatiert, dass der Film vor allem in den Großstädten, wo der "modernen Jugend" kein ausreichender Platz für "Spiele und Streiche" zur Verfügung stehe, zu einem "immer beherrschenderen Faktor im Leben der modernen Jugend" geworden ist, "der weitgehenden Einfluß auf die gesamt psychische Entwicklung ausübt. [...] Deshalb ist es nicht weiter überraschend, dass der [sic!] Kino die größte Macht da gewonnen hat, wo eine beeinflussende Erziehungsarbeit am wenigsten vorausgesetzt werden kann, d. i. in der untersten Proletarierschicht." (Altenloh 1914, S. 60)
Knaben und Mädchen
Altenloh führt den hohen Anteil von Jungen unter den kindlichen Kinobesuchern auch auf eine unterschiedliche Interessenlage der Geschlechter zurück. So schreibt sie auf aus heutiger Sicht problematische Weise: "Indianer- und Trappergeschichten verkörpern für die Knaben, besonders für die mit primitiverer geistiger Entwicklung, die höchsten Genüsse, während das stärkere Hervortreten von Kriegs- und Soldatenstücken, ganz im allgemeinen bei jüngeren Leuten, als das Charakteristische der nächst höheren, hier der begabteren Schicht betrachtet werden kann." (Altenloh 1914, S. 61)
Für Mädchen hingegen sei das Filmangebot inhaltlich nicht in gleichem Maße interessant, sie gingen eher aus Vergnügen an dem Erlebnis Filmbesuch als solchem in die Lichtspielhäuser: "Die schwärmerisch-sentimentalen Stücke, die diesem Alter bei den Mädchen entsprechen, werden selten gegeben, besonders nicht in Kindervorstellungen. Gehen die Mädchen einmal in eine Vorstellung, so ist es weniger das reine Interesse gerade an diesem Programm, das sie dazu veranlaßt; vielmehr genießen sie es wie viele andere Vergnügungen, zu denen sie, meist von den Eltern, mitgenommen werden, während die Knaben den [sic!] Kino meist auf eigene Faust, besonders gerne mit ihren Kameraden besuchen." (Altenloh 1914, S. 61)
Altenlohs Untersuchung ist aus kinderfilmwissenschaftlicher Sicht auch deshalb historisch wertvoll, weil sie als eine der ersten Filmwissenschaftlerinnen die ökonomische Bedeutung von Kindern als Kinozuschauern hervorhob:
In welchem Maße gerade die Jugend an der Ausdehnung der Kinematographentheater beteiligt ist, das zeigen neben diesem Enquétematerial auch die in den Theatern geführten Statistiken. An manchen Tagen übertraf die Zahl der Kindern sogar die Zahl der erwachsenen Besucher, und wenn nicht der durch das Kinderverbot erlittene Ausfall ein ganz beträchtlicher wäre, würden die Theaterbesitzer sich nicht zu den endlosen Protestversammlungen veranlasst sehen, die die Aufhebung dieser Bestimmungen bewirken sollen. (Altenloh 1914, S. 63)
Eine so grundlegende und aufschlussreiche Untersuchung wie Zur Soziologie des Kinos aus den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg hat es zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr gegeben. In den ersten Jahren nach Beendigung des Krieges setzte die liberale Emilie Altenloh andere Prioritäten. Nach ihrer Promotion war sie partei- und gesellschaftspolitisch aktiv, was ihr während der Zeit des Nationalsozialismus untersagt wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg war sie Mitbegründerin der FDP in Hamburg, Abgeordnete in der Hamburgischen Bürgerschaft, Senatorin in verschiedenen Behörden und Mitglied des Deutschen Bundestages.
"Jugendfrei" und "Jugendverboten"
Es gibt nur sehr wenig authentische Belege dafür, inwieweit in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg das Kino von Kindern und Jugendlichen besucht wurde. In den Ankündigungen gab es Hinweise wie "Jugendfrei" oder "Jugendliche haben Zutritt". Die Kontrollen an den Kinos wurden streng gehandhabt. Aber die "jugendverbotenen Filme" liefen auch in den sogenannten Flohkinos, die auf jede Eintrittskarte angewiesen waren. Dort war es für Jugendliche kein Problem, sich hineinzumogeln.
In Jürgen Scheberas Monographie Damals in Neubabelsberg ist ein aufschlussreiches Foto aus den Jahren 1918/19 abgedruckt (vgl. Schebera 1990, S. 68). Es zeigt den Eingang zu einem Hinterhofkino, eine Kassiererin und drei Kinder mit jeweils zwei Briketts in den Händen. Wer den Monumentalfilm Judas sehen wollte, musste im Nachkriegswinter 1918/19 "2 Presskohlen" als Obulus entrichten. Es war eine Nachmittagsvorstellung. Schulpflichtige Kinder und Jugendliche konnten in Begleitung Erwachsener nachmittags ins Kino gehen und dort die für sie freigegebenen Filme sehen.
Zudem boten sich besondere Kinder- und Jugendvorstellungen für den Kinobesuch an, die meist am Sonntagnachmittag oder an Feiertagen vor der ersten Erwachsenenvorstellung stattfanden. Diese Vorführungen waren für die Kinobesitzer nur bei ausverkauften Sälen wirtschaftlich interessant. Um die Kinos zu füllen, wurden vorrangig Abenteuergeschichten beliebter Helden gezeigt. Detektiv- und Wildwestfilme aus Amerika waren insbesondere bei Jungen äußerst beliebt – ganz entsprechend den bereits erwähnten Erkenntnissen Altenlohs. Neben diesen Unterhaltungsfilmen gehörten Märchen- und Silhouettenfilme, historische und sozialkritische Filme sowie Literaturverfilmungen zum Programm dieser Kinder- und Jugendvorstellungen.
Wenn Kinder und Jugendliche von den Vorführungen enttäuscht oder verärgert waren, so machten sie ihren Unmut lauthals kund, was sogar in Tumulte ausarten konnte. In Menschen im Kino zitieren Anne Paech und Joachim Paech das Osnabrücker Tageblatt vom 26. Oktober 1929, das sehr anschaulich von einem solchen Ereignis berichtet:
'Kinder stürmen ein Kino. Kindertumult in einem Berliner Kino. Berlin, 25. Oktober. Während eines Lichtbildvortrags in den Alhambra-Lichtspielen in Schöneberg haben sich, wie der Lokalanzeiger meldet, unglaubliche Szenen abgespielt. Das Publikum, fast ausschließlich Kinder, begann während des Vertrags so zu lärmen, dass die Vorstellung abgebrochen werden musste. Als die Kinder dann aufgefordert wurden, das Theater zu verlassen, machten sie einen Höllenlärm, demolierten einen großen Teil der Inneneinrichtung des Kinos und wollten den Vortragenden verprügeln. Es entstand eine Schlägerei, die mit Stuhlbeinen, elektrischen Glühbirnen als Wurfgeschosse und anderen Waffen ausgefochten wurde.' Ursache war die Enttäuschung der Kinder, dass nicht wie angekündigt ein Film, sondern nur Lichtbilder über 'Kohlegewinnung' gezeigt wurden. 'Den Kindern passte das gar nicht, und plötzlich (...) setzte ein lautes Toben ein, so dass die Kinder aufgefordert wurden, das Haus zu räumen. Niemand verließ jedoch den Saal. Plötzlich warf ein Junge aus dem Rang einen Stuhl ins Parkett und gab damit das Zeichen zu einem allgemeinen Aufruhr. Die Kinder zerstörten die Bänke, zerschnitten das Polster und warfen mit großen Biergläsern und leeren Seltersflaschen nach dem Direktor, dem Vortragenden und den Angestellten des Kinos.' Die Polizei hat die Kinder dann aus dem Kino auf die Straße getrieben. 'Dort mischte sich eine kommunistische Jugendgruppe ein; ein 14jähriger Gemeindeschüler hielt eine Hetzrede und forderte die Kinder auf, 'den ganzen Laden in Klumpen zu schlagen.' Etwa 30 junge Burschen und Kinder bildeten nun einen Stoßtrupp, der sich gegen die verriegelte Eingangstür warf, so dass die Schlösser barsten. (Paech/Paech 2000, S. 150)
Kindheitserinnerungen an ein "plebejisches Vergnügen"
Welch eine wichtige Rolle das noch junge Kino im Leben von Kindern spielte, zeigt sich auch anhand der Lebenserinnerungen bekannter Schriftsteller. Zwar wurde das Kino von einigen Mitgliedern der sogenannten elitären und intellektuellen Kreise herablassend und geringschätzig betrachtet und Filme abwertend als plebejisches Vergnügen bezeichnet. Das Kino war bei ihnen ein Ort für Leute, die den unteren Schichten angehören und sich durch schlechte Manieren auszeichnen.
Der Begriff "plebejisches Vergnügen" war keineswegs neu. Bereits im 18. Jahrhundert wurde er von dem französischen Autor und Utopisten Louis-Sebastien Mercier bei einem Vergleich zwischen der etablieren Hochkultur und dem hohen Kunstideal des Theaters mit der niederen Volkskultur verwendet, wobei hier explizit noch die "zerstreuungssuchenden Guckkästner" gemeint sind: "Der Guckkasten bietet nur ein oberflächliches, plebejisches Vergnügen, das kaum den Gesetzen der Kunst, sondern eher denen des schnellen Absatzes untersteht. Seine Unterhaltung ist trivial; sie spricht nur den niederen Geschmack des Volkes an, indem sie Surrogate für das Fernweh oder den Nationalstolz liefert." (Graczyk 2004, S. 146)
Der 1907 in Köln geborene Essayist. Literaturkritiker und Schriftsteller Hans Mayer ging als Schüler und Student
liebend gern ins Kino. Es war so plebejisch und so traulich. Man ging hinein, wenn man Lust dazu hatte, konnte lange dort sitzen bleiben, auch die Wiederholung des Films genießen, dann aber weggehen, wenn es genug war. Ich meine insgeheim, dass die spätere Vornehmtuerei der Filmpaläste mit nummerierten Plätzen und allem Ritual das Medium Film mehr und mehr 'verfremdet' hat. Auch Jean-Paul Sartre, Jahrgang 1905, beschreibt in seinem Jugendbericht Die Wörter sein erstes Kinoerlebnis in ganz ähnlicher Weise als ein plebejisches Vergnügen. (Mayer 1996, S. 102)
1912, im Alter von fünf Jahren, ging Hans Meyer zum ersten Mal ins Kino, für ihn eine positive Erinnerung im Gegensatz zu seinem ersten Theaterbesuch. Ein Jahr zuvor hatte Hans Meyers Vater mit seinem Sohn das Theater in der Bismarckstraße besucht, in dem Kindermärchen aufgeführt wurden: "Das war mein erstes Trauma [...] Ich lachte nicht, war tief erschreckt von dem plötzlich auftauchenden Gespenst, begann entsetzlich zu schreien. Das hörte nicht auf, der Vater nahm mich auf den Arm und trug mich hinaus. Eine Katastrophe." (Mayer 1996, S. 102)
Ein Jahr später nahm ihn sein Vater dann mit in eine Filmvorstellung:
Dort war es schön dunkel, und es flimmerte auf einer hellen Leinwand. Es befremdete mich nicht, denn ich besaß bereits, als Geschenk eines Onkels, eine Laterna Magica. Da zappelte ein Mann vor mir auf der Leinwand, der viele Bewegungen machte, er trug einen Strohhut und war offenbar lustig, denn alle lachten im dunklen Saal. Ich lachte diesmal mit. Jahrzehnte später entdeckte ich dass ich in diesem frühen Stadium der Filmgeschichte den berühmten französischen Komiker Max Linder offenbar wahrgenommen hatte. (Mayer 1996, S. 102)
Auch der 1910 geborene langjährige Theaterleiter des Gloria-Palastes in Berlin, Heinz Frick, ging schon von seinem siebten Lebensjahr an ins Kino – bei günstigen Gelegenheiten und heimlich an der Seite des Kindermädchens:
In dem Saal der Schöneberger Hauptstraße gab es auch Stehplätze. Es fiel mir auf, wie stickig die Luft war. Mit einer Handspritze wurde Duftstoff in dem Raum versprüht. Unter der Bildfläche stand ein Piano und der Klavierspieler führte die Begleitmusik aus. Es lief eine Grotesk-Komödie aus Amerika mit dem beliebten Schauspieler Fatty. Die Zuschauer jauchzten vor Vergnügen. Wir waren beeindruckt und begeistert. (Frick 1986, S. 10)
Frick ließ sich später eine laterna magica schenken, organisierte Vorstellungen für seine Schulkameraden und legte damit den Grundstein für seinen beruflichen Lebensweg.
Eine andere Wirkung hatten die ersten Kinobesuche auf den österreichischen Naturwissenschaftler, Schriftsteller und Essayisten Erwin Chargaff, 1905 geboren und in Wien aufgewachsen:
Von meinen frühen Kinobesuchen ist mir wenig zurückgeblieben: der armselige schwitzende Klavierspieler, die Pause mitten in der Vorführung, in der sich alles zum Büffet begab, während ein Mädchen mit einer großen Spritze durch das Theater ging, um mittels Fichtennadelessenz die Atmosphäre, die es sehr nötig hatte, zu veredeln. Aus den Filmen selbst erinnerte ich mich hauptsächlich an beleibte Damen, die sich unerhört schnell bewegten. Ich glaube, ich war in all meiner Stumpfheit bereits ein Kulturkritiker, bevor ich richtig lesen und schreiben konnte. Mein größtes Filmerlebnis fiel in die zwanziger Jahre. Panzerkreuzer Potemkin bleibt unvergesslich (Chargaff 1996, S. 35).
Rechts gegen links – links gegen rechts
Gegen Ende der Weimarer Republik wurde auch das Kino zur Arena politischer Kundgebungen und Auseinandersetzungen. Davon war auch ein heute als Klassiker geltender Film über "Kinder im Krieg" betroffen: Legendär sind die Tumulte anlässlich der Berliner Premiere des Films Im Westen nichts Neues (Lewis Milestone, 1930) im Dezember 1930, die Verfilmung des autobiografisch geprägten Romans von Erich Maria Remarque. Diese handelt davon, dass 1914 vier Jungen aus einer Klasse gemeinsam in den Krieg ziehen – aufgehetzt von einem fanatischen Lehrer, der mit seinen patriotischen Reden über Reife, Männlichkeit und ehrenvollen Tod eine ganze Abitur-Klasse indoktriniert.
Die Nationalsozialisten, angeführt von Joseph Goebbels, störten die Vorführungen derart nachhaltig, dass der Film verboten wurde, weil er angeblich das Ansehen Deutschlands im Ausland schädigte. Auch als der Film nach einigen Schnittauflagen wieder freigegeben wurde, wurden die Vorführungen durch massive Drohungen weiterhin von den Nazis verhindert. Als Reaktion darauf organisierten 'linke' Kinozuschauer Protest-Demonstrationen gegen den Film Das Flötenkonzert von Sanssouci (Gustav Ucicky, 1930), dem sie Führerkult und Verherrlichung des Militarismus vorwarfen.
Das Verbot des Films galt auch für Hamburg. Da es nach dem Reichslichtspielgesetz erlaubt war, für "bestimmte Personenkreise" geschlossene Veranstaltungen durchzuführen, konnten Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, des Reichsbanners, des Arbeitersportkartells, der Volksbühne und diverser anderer Organisationen gegen Vorlage ihrer Mitgliedskarte den Film sehen. Vorausgegangen war eine Protestkundgebung der SPD-Jugendorganisation. Michael Töteberg kommt zu der Schlussfolgerung: "Der Kinobesuch wurde zur Demonstration gegen die Filmprüfstelle, die dem braunen Mob nachgegeben hatte." (Töteberg 1997, S. 39)
Keine Angst vor "Kinokindern"
Die frühen Jahre der Weimarer Republik waren geprägt von den kinoreformerischen Ansätzen der Pädagogen und der Faszination, die das Kino allgemein auf Kinder und Jugendliche ausübte, die einen festen und großen Bestandteil des Kinopublikums bildeten. Alice Schmerling beschreibt das Besuchsverhalten der damaligen Kinder sehr schön:
Viele Kinder wurden von ihren Müttern schon als Kleinkinder mit ins Kino genommen. Im Schulalter setzte dann ein eigenständiger Kinobesuch ein, so dass spätestens mit zwölf Jahren die Mehrzahl der Kinder bereits einmal im Kino gewesen war. Dabei scheint das Kinoerlebnis so faszinierend auf die Kinder gewirkt zu haben, dass sich ein Großteil der minderjährigen Kinobesucher hin und wieder auch zu einem exzessiven, mehrstündigen Kinoaufenthalt hinreißen ließ. Regelmäßige Besucher gab es unter den Kindern allerdings weniger häufig, als es die Angst vor einer Generation von 'Kinokindern' zunächst suggeriert. Zu den wöchentlichen Besuchern gehörten vermutlich allenfalls 10-15% der Kinder und Jugendlichen. Zwar kann der damalige Kinobesuch sicher mit den heutigen Zahlen konkurrieren, im Vergleich zum Fernsehkonsum nehmen sich die zeitgenössischen Zahlen aber eher bescheiden aus. [...]
Gemeinsam ist allen minderjährigen Kinobesuchern jedoch, dass sie genauso wie die Erwachsenen auch mehrheitlich ein auf Spielfilmen basierendes Unterhaltungsangebot unterbreitet bekommen wollten. Die von den Kinoreformern hochgelobten Lehr- bzw. Dokumentarfilme stießen dagegen eher selten auf großes Interesse. Allerdings zeichnet sich das Besuchsverhalten des 'prototypischen' minderjährigen Kinobesuchers dadurch aus, dass dieser in der Regel nicht nur am Filmangebot selbst interessiert war, sondern das Kino als ein 'Gesamtangebot' wahrnahm, das auch auf geselligem Austausch beruhte. Schon deshalb ging man in der Regel zusammen mit Freunden und Geschwistern ins Kino. Aufgesucht wurde das Kino vor allem an den freien Nachmittagen; vielfach gelang es den Kindern aber auch, in die ihnen offiziell vielerorts verbotenen Abendvorstellungen zu gelangen. (Schmerling 2007, S. 119)
Die bürgerliche Presse stand diesen "Kinokindern" nicht immer skeptisch, mitunter sogar wohlwollend gegenüber – vorausgesetzt, die Filme waren für Kinder und Jugendliche geeignet. Das waren in erster Linie die von den Pädagogen gezeigten Filme in den Schulen, aber auch Filmkomödien wie die mit Charlie Chaplin und Buster Keaton. Ein exemplarisches Beispiel dafür sind zwei Artikel aus dem Kölner Lokal-Anzeiger, eine der Zentrumspartei nahe stehende "Katholische Tageszeitung für Köln und Umgebung", aus dem Jahre 1931:
Wir waren heute im Film! So berichtet zu Hause das Kind, das eben aus der Schule heimkehrt. Die erstaunten Eltern schütteln den Kopf: 'Was heute den Kindern in der Schule nicht alles geboten wird. Zu unserer Zeit, da ...' Ja früher! Von den Jungen und Mädel, die heute die Schule verlassen, verlangt man, dass sie sich in allen Lebenslagen zurechtfinden, dass sie reiche Kenntnisse und ein umfassendes Wissen mit ins Leben bringen. Das bedingt nun, dass dem Kinde möglichst alles das zugänglich gemacht wird, was seine Fortbildung fördern kann. Daß da der Film ein gewichtiges Unterrichtsmittel ist, wird keiner bezweifeln, der einmal unseren Schülern gelauscht hat, wenn sie berichten, was sie alles Schöne und Wissenswerte in ihren Filmlehrstunden sahen und hörten. Jetzt ist es in erarbeitendem Unterricht kein bloßes Reden und Mitteilen über das Leben der Fellachen in Ägypten, es entsteht kein Phantasiebild mehr von den furchtbaren Verheerungen beim Ausbruch des Ätna und von den Ängsten und Leiden der in jener Gegend Wohnenden. Das Kind sieht das naturgetreue Bild, und so ist es bewahrt, falsche Schlüsse zu ziehen, übereilte Urteile zu fällen. Die Kenntnis der Wirklichkeit des Landschaftscharakters und der Arbeit, des Lebens und Strebens der Menschen, ihrer Abhängigkeit von der sie umgebenden Natur, ihres Verwachsenseins mit ihrem Heimatboden, der Beziehungen dieses Volkes zu uns, ihres Wirtschaftlebens zu dem unsrigen, der Wechselbeziehungen von Volk zu Volk, lässt andere Völker mit ihren anderen Sitten und Gebräuchen verstehen. (7. Mai 1931)
Heinz Hart, ein Mitarbeiter der Zeitung, geriet an einem Nachmittag zufällig in ein Kino, in dem die Kindervorstellung noch nicht zu Ende war. Animiert dazu wurde er durch lautes Gelächter, das bis zur Straße drang. Sein Erlebnisbericht lohnt, ausführlich zitiert zu werden:
Hätte man jetzt, da das Lachen in unseren Tagen fast schon ganz erstorben scheint, fortwandern sollen in den sonnigen Tag – oder – was hättet ihr wohl getan? War es vielleicht das unbewusste Erinnern an eigene Jugendfröhlichkeit im ersten verdunkelten schäbigen Kinematographen-Theater mit den blechernen Klängen der Ouvertüre von 'Dichter und Bauer', war es höchst interessiertes prickelndes Wohlgefallen, noch einmal da mitzutun – oder war es sogar ein winziges Erschrecken vor dem Pendelschlag der großen unsichtbaren Uhr, die uns Morgen, Mittag und Abend schlägt, und in deren Räderwerk auch das letzte Lachen unserer Tage einmal beschlossen liegt? Was dann den Ausschlag gab, was mich in dieser Stunde hinein in das Kino zog, war nicht das Programm, sondern es waren die Kinder, die ich – wenn ihr es wollt – aus bewusster Neugier, Interesse und – wie man so sagt – 'studienhalber' einmal genauer betrachten wollte.
So trete ich in den verdunkelten langen Raum, der soeben von einem neuen schallenden Gelächter fast erschüttert wird. Ich setze mich so, dass man meiner nicht achtet und unterscheide allmählich, dass der lange Raum nicht ganz besetzt ist. Nur in der Mitte, obwohl doch noch viele Plätze frei sind, haben sie sich zusammengeballt, hocken fast eins auf dem andern und rufen, erklären und lachen los in einem fort, ohne Ende. Dazu haben sie allen Grund, denn eben hat Charlie Chaplin in einem seiner ersten und ältesten stummen Filme hoch vom Balkon der dicken Mamsell, die da drunten so behäbig in ihrem Sessel sitzt und sich sonnt, ein großes Stück Eis in den Nacken geworfen; die Dame springt auf, prustet und schnaubt und schüttelt sich dann. Es kann ihr nichts helfen. Das tolle Gelächter der Jugend wird fast zum Gebrüll. Ich konnte einen Enthusiasmus erleben und soviel Glück mit so lautem Applaus, wie er eben nur bei der Jugend zu finden ist. Das sind also unsere Kinder, die noch nicht viel oder dann wohl nur wenig von den Sorgen der Erwachsenen wissen, denen hier für einige Groschen eine solche Unsumme Freude bereitet wird, dass sie sicher noch tagelang davon mit roten erhitzen Backen erzählen werden. Nachdem dann Chaplin alles so 'wunderprächtig' gemacht hat und wieder Licht wird, schaut man in erhitzte, erregte Kindergesichter, vom Lachen, Reden und Hopsen erschöpft.
Ich denke, es darf nicht zu lange währen, sonst geraten sie jetzt in der Pause sich an die Köpfe im Für und Wider. Da wird auch der nächste Film schon angezeigt und sogleich die den ersten Bildern erhebt sich ein neues Klatschen, Trampeln und Durcheinanderschreien. Wie könnte es denn bei den Kleinen anders sein. [...] Diese Jugend wird einmal groß werden. Wir wünschen, dass sie bessere Zeiten schaut. Heute lebt sie noch ohne Sorgen, gibt sich hin an ihr Spiel und wartet, bis sie wieder einmal zu Charlie ins Kino darf. In lieber Erinnerung an eigenen unbekümmerten Jugendfrohsinn wollen wir mit ihr froh sein und versuchen, ihr diese Kinderfreuden zu wahren, so lange und so gut es uns möglich ist. (18. November 1931)
Die hier angesprochenen Vorstellungen mit populären amerikanischen Filmkomikern – außer Chaplin und Keaton gehörten auch noch Laurel und Hardy, Harold Lloyd und "Die kleinen Strolche" in Hal Roachs Our Gang dazu – wurden nicht explizit für die Nachmittags-Vorstellungen zusammengestellt, sondern liefen zu allen Tageszeiten. Sie waren kommerziell sehr erfolgreich und mussten nicht eigens für die Zielgruppe der Kinder aufbereitet und beworben werden. Die Filme mit berühmten Kinderstars wie Mary Pickford und Jackie Coogan – ab den 1930er-Jahren auch Shirley Temple – gehörten nicht dazu. Sie boten den Kindern keine Identifikations-Figuren und waren mehr die Lieblinge der Erwachsenen.
Literaturverzeichnis
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