Inhaltsverzeichnis

1 1896-1918: Die Flegeljahre des Kinos und das Goldene Zeitalter der Kinematographie
2 1918-1933: Kinder- und Jugendkino in der Weimarer Republik
3 Märchen-Stummfilm in Deutschland

3.1 Märchenfilm als Genre
3.2 Es war einmal... Die Frühzeit des deutschen Märchenfilms
3.3 Märchenfilme für Erwachsene. Märchenfilme für Kinder
3.4 Nochmal: Der Märchenfilm als Genre
3.5 Paul Wegener – Faszination des Übernatürlichen
3.6 Paul Wegener und Lotte Reiniger
3.7 Ludwigs Bergers Aschenputtel
3.8 Zurück auf Anfang
3.9 Der Märchenfilme als Ware
3.10 Das Ende einer Ära
3.11 Literatur / Quellen
3.12 Filmliste (Auswahl)
3.13 Weiterführende Lektüre und Quellenhinweis

Märchenfilm als Genre

Märchenfilme sind ein eigenes Genre. Vergleichbar dem Western, der Komödie oder dem Kriminalfilm bilden sie eine Gruppe mit gewissen stilistischen oder thematischen Gemeinsamkeiten.

Reclams Sachlexikon des Films führt dazu aus:

Genrebezeichnung für die filmische Umsetzung eines märchenhaften Stoffes, meist auf Grundlage der populären Volksmärchen der Gebrüder Grimm, der romantischen Kunstmärchen von Hans Christian Andersen oder Wilhelm Hauff oder den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht [...] Die frühesten Märchenfilme waren zunächst Schauspielerfilme und richteten sich durchaus an ein erwachsenes Publikum [...] Die frühesten heute noch erhaltenen Märchenfilme sind Rübezahls Hochzeit (1916) von Paul Wegener und Dornröschen (1917) von Paul Leni. Lotte Reiniger setzte Märchenfilme als Scherenschnittfilme um: Die Abenteuer des Prinzen Achmed (1926) war der erste abendfüllende Silhouettenfilm [...]

Während die frühen Märchenfilme für Erwachsene gemacht waren, wurde in den 30er Jahren zunehmend die Forderung nach Märchenfilmen mit pädagogisch-sittlichem Anspruch zum Zwecke einer tugendhaften Erziehung von Schulkindern laut. (Weinsheimer 2011, S. 415)

Aus heutiger Sicht wird der Märchenfilm filmhistorisch oft mit dem Kinderfilm gleichgesetzt: "Die Anfänge des Kinder- und Jugendfilms reichen bis in die Stummfilmzeit zurück [...] Der erste deutsche Kinderfilm für Kinder wurde von Paul Wegener gedreht: Rübezahls Hochzeit (1916). Vorlagen für diese Filme waren entweder bekannte Kinderklassiker oder Märchen." (Kümmerling-Meibauer 2010, S. 14)

Es war einmal... Die Frühzeit des deutschen Märchenfilms

Die Frühzeit des deutschen Märchenfilms ist – verglichen mit anderen filmhistorischen Epochen – bisher kaum aufgearbeitet. Dies mag darauf zurückzuführen sein, dass die Filmkopien vernichtet oder verschwunden sind und Hintergrundmaterialien in den Kriegen zerstört wurden. Das Forschungsinteresse korrespondiert auch mit der überwiegend geringen künstlerischen Qualität deutscher Märchenfilme.

Bedingt durch die nationalsozialistische Vereinnahmung und die lieblosen und schludrigen Produktionen der 1950er-Jahre hatte der Märchenfilm über viele Jahre hinweg keinen besonders guten Ruf. Mit dem Aufkommen der Kommunalen Kinos ab den 1970er-Jahren und den parallel einsetzenden Initiativen zum Aufbau einer eigenständigen Kinderfilm- und Kinderkino-Szene wuchs auch der Programmbedarf an Filmen für Kinder.

Neue medienpädagogische Konzepte sahen die Vermittlung von filmgeschichtlichen Kenntnissen für Kinder vor. In diesem Zusammenhang wurden die deutschen Märchenfilme aus der Stummfilmzeit wieder entdeckt und neu bewertet. Erwiesen sich die künstlerisch ambitionierten, jedoch der Stummfilm-Ästhetik ihrer Zeit verhafteten Filme von Paul Wegener bei der Rezeption von Kindern als äußerst sperrig, so war die zeitlos gültige narrative Form der Silhouettenfilme von Lotte Reiniger bei Kindern sehr beliebt. Daraus lässt sich jedoch nicht folgern, dass die Märchenfilme der Stummfilmzeit als Filme für Kinder gedacht waren. Es gab bis zum Ende der 1920er Jahre weder eine Kinderfilm-Produktion noch eine marktrelevante Zielgruppe. Paul Wegener und Lotte Reiniger zählen zur Avantgarde des deutschen Films, aber sie haben nicht explizit Filme für Kinder gemacht. 

Märchen für Erwachsene und Märchen für Kinder

Fabienne Liptay geht in ihrer Dissertation WunderWelten. Märchen im Film einleitend auf die Geschichte der deutschen Märchen ein und räumt gleich zu Anfang mit dem Vorurteil auf, dass Märchen Erzählungen für Kinder seien:

Wenngleich es wohl wahr ist, dass das Märchen heute im wesentlichen von Kindern gelesen, gehört sowie im Fernsehen oder Kino angeschaut wird, so ist dies rückblickend keineswegs immer der Fall gewesen. Gerade das mündlich erzählte Volksmärchen richtete sich vornehmlich an eine erwachsene Zuhörerschaft und war in seiner gesellschaftskritischen oder derb-erotischen Thematik als Kindergeschichte schlicht ungeeignet [...] Wenn wir heute also von Kindermärchen reden, so meinen wir in der Regel jene literarisch überlieferten Märchen, die im Hinblick auf ein Kinderpublikum bearbeitet und oftmals nachhaltig zensiert wurden. (Liptay 2004, S. 9-10)

Mit einem Rückblick auf die Geschichte der Märchen und ihrer Entwicklung zum Kindermärchen verweist die Autorin auf die Bedeutung der französischen Feenmärchen von Charles Perrault und auf die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm: "Denn aus historischer Perspektive betrachtet ist die Ausrichtung des Märchen auf ein Kinderpublikum – wie wir sehen konnten – keine Frage der Gattung und ihrer Stoffe, sondern eine Frage ihrer jeweiligen Bearbeitungen." (Liptay 2004, S. 13)

Märchenfilme aus dem Hut gezaubert

Eine der Geschichte des Märchens vergleichbare Entwicklung gab es auch in der deutschen Filmgeschichte, in den Kindertagen der Kinematographie. Die ersten Filme entstanden in England und Frankreich. Der englische Porträtfotograf und Filmpionier George Albert Smith, ein Mitbegründer der sogenannten Brighton-Schule, zeichnete sich durch seine grundlegenden Kamerabewegungen und Grossaufnahmen aus. 1897 meldete er das Prinzip der Doppelbelichtung zum Patent an; ein Jahr später folgte eine trickreiche Version von Cinderella (1898). Die Filmhandwerker von Brighton filmten mit ihrer Kamera nicht mehr eine gegebene Inszenierung ab, sondern im Wechsel von Einstellungen, in der Montage von parallel laufenden Handlungen wird die Kamera Zeuge des Geschehens. Die Kamera beginnt mitzuschauen, in die Handlung einzudringen.

Den Anfang dieser Entwicklung bilden Filme, die nur aus Grossaufnahmen bestehen, als gälte es, aus der theatermäßigen Distanz an das gefilmte Objekt heranzukommen, die Theaterrampe brutal zu durchbrechen und das Gesicht auf der Leinwand überlebensgroß erscheinen zu lassen. (Sidler 1982, S. 67)

Ihm folgte der französische Magier und Filmpionier Georges Méliès, der ganz dem Theater verschrieben war und über Experimente mit magischen Filmtricks Zauberfilme produzierte, die sich allmählich zu Märchenfilmen entwickelten. Als einer der ersten erzählte Méliès eine Geschichte; dargeboten mit den Mitteln einer kompletten Pantomime und mit Variationen, die kein Bühnenmeister zustande gebracht hätte. "Méliès war jedoch kein wahrer cinéaste. Er war ein hundertprozentiger Show-Mann. Er verstand die Kamera als nützliches Instrument, mit dessen Hilfe er viele seiner Bühnentricks beträchtlich verbesserte." (Brownlow 1997, S. 30) An der Entwicklung einer eigenständigen Filmsprache des Trickfilms war er jedoch nicht interessiert.

Das wohl populärste Märchen, das in der Frühzeit des Stummfilms verfilmt wurde, ist Aschenputtel. 1899 verfilmte Méliès seine Version von Aschenbrödel  (Cendrillon), wobei er als Vorlage für die Filmversion eine Aufführung in seinem Theater nutzte; er verwendete dieselben Darsteller, Kostüme und Dekorationen. Der Film endete nach sieben oder acht Minuten mit einem Aufmarsch, einem Ballett und einem aufwändigen, wirkungsvollen Schlussbild mit über dreißig Komparsen. "Die Verwandlung des Kürbisses in den Prunkwagen geschah ohne Falltür mit Hilfe des gebräuchlichen Austauschtricks, doch bis auf diese Einzelheit war Aschenbrödel – soweit wir auf Grund der wenigen erhaltenen Bilder urteilen können – eine photographierte Pantomime. Die Darsteller posierten wie auf der Bühne." (Sadoul 1957, S. 40)

Der Film wurde weltweit ein großer Erfolg, "selbst bessere Varietés und Vaudevilletheater, die sich bisher geweigert hatten, lebende Bilder zu zeigen, nahmen den Film mit Stolz in ihr Repertoire auf." (Waldekranz/Arpe 1956, S. 31) Zu den weiteren Méliès-Filmen aus dem Motivkreis der Märchen zählt auch Le petit chaperon rouge (Rotkäppchen, 1901)

Märchenfilme für Erwachsene. Märchenfilme für Kinder

Mit der Etablierung regelmäßiger Filmvorführungen und dem Wechsel vom Varieté zu eigenständigen, ortsfesten Abspielstätten wuchs auch in Deutschland der Bedarf an immer neuen Filmen:

In den Anfängen des Films bedeutete die Programmgestaltung kaum mehr als eine Probe aufs Exempel. [Gemeint ist damit die Auseinandersetzung der Erfinder mit der Technik und den unvermeidbaren Pannen und ungezählten Problemen. H.S.] Erst im Jahre 1904 fing man in Deutschland an, neben aktuellen Aufnahmen den bisher gänzlich vernachlässigen, allerdings noch reichlich primitiven Spielfilm mit einzubeziehen. (Lamprecht 1961, S. III)

Die Filme vor 1910 sind in der Regel zwischen 15 und 30 Meter lang, eine Begrenzung, die sich aus Größe und Umfang der Filmrollen ergibt. Nur wenige Titel liegen zwischen 40 und 50 Meter, von einigen wenigen Ausnahmen von 200-300 Meter abgesehen. Diese Meterlängen entsprechen einer Vorführdauer von etwa drei bis fünfzehn Minuten. (Vgl. Jacobsen, 1993, S. 19.)

War die Schaulust an aktuellen Bildern und das Erstaunen über Filmtricks befriedigt, so setzte eine Neugier auf dramaturgisch gestaltete Handlungen ein. Buch, Regie, Kamera und Bauten gaben den Produktionen immer mehr ein eigenes, unverkennbares Gesicht: 

Die Länge der Einakter bis höchstens 400m war in einer Zeit primitiver Typisierung ausreichend gewesen. Erhöhte Ansprüche an den dramaturgischen Aufbau der Spielfilmhandlungen schufen die Voraussetzung dafür, dass die deutschen Produzenten anfingen, längere Filme herzustellen, ermutigt durch den großen geschäftlichen Erfolg der dänischen Mehrakter [...] (Lamprecht 1961, S. III) 

In den Folgejahren zwischen 1911 und 1914 vollzieht sich im Filmgeschäft dann der komplette Übergang vom Ein- zum Mehrakter. Die Filme wurden länger und entwickelten sich hin zur programmfüllenden Spielfilmdauer.

Märchenfilme für das Kino und für Kinder

Die Jahre des Umbruchs vom kurzen zum langen Film führten zu einer Neustrukturierung des Filmgewerbes. Der aufkommende Programmbedarf löst die Suche nach geeigneten Stoffen außerhalb bekannter Literaturvorlagen und Theaterstücken aus. Einige Branchenvertreter rieten auch zur Verfilmung von Märchen. 1914 erschien dazu in der pädagogisch orientierten Fachzeitschrift Film und Lichtbild ein Aufsatz von Albert Bencke:

Man könnte geneigt sein, der Entwicklung des Films kein sehr rosiges Prognostikon zu stellen, wenn sich nicht zeigte, dass der Stillstand, an dem wir heute angelangt zu sein scheinen, weniger an dem Mangel neuer Wege als an dem Fehler der Filmautoren liegt, die sich bei ihren Arbeiten von dem überlieferten Begriff des Theaters nicht frei machen konnten.

Nach den Erfahrungen, die wir bisher mit der ästhetischen Wirkung des Films gemacht haben, scheint einer dieser neuen Wege auf dem Gebiete der Märchenverfilmungen zu liegen und die Gründe, die zu dieser Anschauung führten, beruhen in der Tatsache, dass der Film sich als technisch unübertrefflich und ästhetisch in höchstem Maße wirksam auf dem Gebiete des Komischen, des Grotesken und des zauberhaft Magischen erwiesen werde.

Die Handlung des Märchens geht immer aus den klarsten, einfachsten Tatsachen hervor, es sind immer materielle in ihrer Gänze auf dem Film darstellbare Dinge, durch welche die Handlung motiviert und fortgeführt wird; Dinge, welche die mimische Vergröberung, die uns in den Filmdramen oft so unangenehm berührt, nicht nur zulassen, sondern direkt fordern. (Greve/Pehle/Westhoff 1976, S. 159)

Die Verfilmung von Märchenstoffen hatte mehrere Vorteile: Sie waren allgemein bekannt, und die Handlung musste nicht über Dialoge, erklärende Zwischentitel oder Kinoerzähler vermittelt werden. In dieser frühen Phase kam es nicht darauf an, bekannte Märchen neu zu interpretieren, sondern die Filmhandlung aus überlieferten und allgemeinverständlichen Erzählungen zu entwickeln. Sehr oft wurden am Anfang der Filme auch Figuren eingeführt, die als Erzähler fungierten. Zudem kamen die spielerischen Möglichkeiten der Filmtechnik den phantastischen Geschichten entgegen, deren Zaubertricks nicht weiter erklärt werden mussten.

In der Stummfilmzeit wurden über hundert Märchenfilme produziert. Im Kino konkurrierten sie mit Liebesromanzen, Detektivgeschichten und Abenteuerfilmen, die wirtschaftlich weitaus ertragreicher waren. Für Kinder gab es – sofern es die Zensurbestimmungen erlaubten – nachmittags eigene Vorstellungen, aber noch keine eigenen Programmschienen. Eine Ausnahme boten willkommene Anlässe wie beispielsweise besonders ausgewiesene und beworbene Kinderfilm-Vorführungen zur Weihnachtszeit.

Der erste Märchenfilm deutscher Produktion ist  heute leider verschollen: Das Mädchen mit den Schwefelhölzern von Gebhard Schätzler-Perasini (D 1910, 6:30 Min.) Mit dieser Produktion trat die Deutsche Bioscop GmbH, Berlin, in direkte Konkurrenz zu den ausländischen, vor allen französischen, dann auch italienischen und amerikanischen Filmen, die bis dahin den deutschen Markt dominierten. Die deutsche Version des Märchens von Hans Christian Andersen startete zwei Tage, nachdem die deutsche Filiale der Pariser Firma Eclipse die französische Fassung in Deutschland herausgebracht hatte. "Beide Filme müssen nahezu gleichzeitig produziert worden sein. Denn französische Filme wurden damals in der Regel nach der französischen Uraufführung auch schon fast gleichzeitig oder nur mit geringer Verzögerung in Deutschland gezeigt." (Lange-Fuchs 1999, S. 59)

Märchenfilme verfügten in Frankreich zu diesem Zeitpunkt bereits über eine künstlerische und geschäftlich erfolgreiche Tradition. Nicht zuletzt trugen die innovativen Werke des Filmpioniers Georges Méliès dazu bei. Bemerkenswert bei der Deutschen Bioscop-Produktion des Andersen-Märchens ist das Mitwirken des bedeutendsten Kameramannes des deutschen Stummfilms Guido Seeber.

Trotz erfolgreicher Märchenfilme, zu denen auch der heute nur noch in Fragmenten erhaltene Film  Der verlorene Schuh von Ludwig Berger (D 1923) zählt, kann angesichts der Heterogenität des Publikums noch bis in die 1920er Jahre hinein nicht von einem Märchenfilm für Kinder die Rede sein:

Die Entdeckung der Kinder als gesonderte Zielgruppe setzt eine Differenzierung des Publikums voraus, die sich mit der zunehmenden Ausrichtung des Kinoprogramms auf den abendfüllenden Langfilm erst allmählich einstellt. Vorbereitet durch die medienpädagogische Debatte und ihren Appell an die moralisch-erzieherische Verantwortung des Films, setzt schließlich auch eine eigene Kinderfilmproduktion ein, die sich in den jeweiligen Ländern zu verschiedenen Zeitpunkten herausbildet. In Deutschland ist der Beginn einer kontinuierlichen  Kinderfilmproduktion schon Anfang der dreißiger Jahre zu verzeichnen, wobei sich diese fast ausschließlich auf die Verfilmung von Märchenstoffen beschränkt – d.h. Märchen- und Kinderfilme sind hier so gut wie identisch. Das gänzliche Abwandern des Märchenfilms in den Bereich der Kinderunterhaltung bedingt zugleich einen jähen Bruch mit den ästhetischen Traditionen des Märchens im Stummfilm. (Liptay 2004, S. 13/14)

Das führte zu einem Niveauverlust in vielerlei Hinsicht. Zunächst einmal waren es Volksschulmärchenfilme und die Unterrichtsfilme unter nationalsozialistischer Herrschaft, zum anderen dann in der Nachkriegszeit die übergangslose Herstellung von Märchenfilmen, die als Unterrichtsfilme der Erziehung und Belehrung von Schulkindern dienen sollten und auch im Kino eingesetzt und ausgewertet wurden:

Um das knappe Geschehen der Märchen auf die Länge eines programmfüllenden Films zu bringen, fügten sie heimatliche Landschafts- und Tieraufnahmen ein, streckten die Handlung durch kindische Spieleinlagen wie Geburtstagsszenen, Singspiele, Tänze und Ringelreihen. Hierbei kam erschwerend hinzu, dass man versuchte, mit möglichst geringem finanziellen Aufwand zu produzieren. In ihrer künstlerisch dürftigen Gestaltung sind die bundesrepublikanischen Märchenfilme der fünfziger Jahre ausgesprochene Negativbeispiele einer filmischen Aufbereitung des Märchens für Kinder. Daher ist es kaum verwunderlich, dass der Märchenfilm gerade als Kinderfilm oft geringgeschätzt wird und in der filmwissenschaftlichen Forschung kaum Beachtung gefunden hat. (Liptay 2004, S. 14)

Einen erfolgreichen Verlauf vernahm die Entwicklung des Märchenfilms in der DDR bereits mit der Gründung der DEFA 1946. In der BRD setzte erst mit den Serien der Märchenfilme von ARD und ZDF ab 2008 eine Renaissance qualitätshaltiger Märchenfilme für Kinder ein.

Nochmal: Der Märchenfilm als Genre

Fabienne Liptay wendet sich dagegen, den Märchenfilm als Teilbereich des Kinderfilms anzusehen, was seit den 1920er Jahren von Pädagogen und Produzenten praktiziert wurde: Die Vorbehalte gegen die medialen Umsetzungen des Märchens sind auf volkskundlicher und pädagogischer Seite oftmals so stark, dass eine konstruktive Auseinandersetzung mit dem Märchenfilm unmöglich schien. (s. Liptay 2004, S. 20)

Sie unterscheidet dann zwischen dem filmischen Märchen und dem märchenhaften Film:

Die eine Perspektive legt den Fokus auf die Fortsetzung der mündlichen und literarischen Märchentradition im Filmmedium, die andere betont tendenziell die Eigenständigkeit des Kunstwerks im Kontext der Filmgeschichte [...] Ist der Märchenfilm bislang ausschließlich als Kinderfilm behandelt worden, so soll er [...] unabhängig von einer zielgruppenspezifischen Ausrichtung untersucht werden [...] Formal-ästhetische und filmkünstlerische Gesichtspunkte stehen im Vordergrund, während pädagogische, kinder- und jugendpsychologische Aspekte in den Hintergrund treten. (Liptay 2004, S. 21)

In der Stummfilm-Ära gab es noch keine Genre-Definitionen im heutigen Sinne. Zwar gab es vereinzelte Äußerungen über die Verfilmung von Märchen, etwa von Paul Wegener oder Ludwig Berger, aber erst ab den Fünfziger Jahren diskutierten die Cineasten leidenschaftlich über Zuordnungen und/oder Abgrenzungen. Die Frage, ob der Märchenfilm als ein Teilbereich des phantastischen Films aufzufassen ist oder als eigenständiges Genre außerhalb desselben steht, ist dabei in der Theorie unterschiedlich beantwortet werden. Ronald M. Hahn und Rolf Giesen sehen in ihrem Lexikon des Fantasy-Films den Märchenfilm als eine Unterkategorie des Fantasy-Films und unterscheiden zwischen dem Märchen mit phantastischen Elementen und dem Märchen ohne phantastische Elemente (vgl. Hahn/Giesen 2001, S. 5).

Eine solche Einordnung bzw. Eingrenzung und die Unterscheidung zwischen Kunst- und Volksmärchen, zwischen Vorlagen aus oraler und literaler Tradition hält Fabienne Liptay für wenig sinnvoll, ebenso wie die Abgrenzung von Märchen und Fantasy: "Der Märchenfilm formt sich [...] als unkonturiertes Genre irgendwo an der Schwelle zur Literaturverfilmung, zum phantastischen Kinderfilm und Fantasy-Film, wobei er sich diesen Bereichen weder uneingeschränkt zuordnen noch eindeutig von ihnen trennen lässt." (Liptay 2004, S. 54)  Nach einer Aufbereitung unterschiedlicher Perspektiven und Definitionen und der Analyse verschiedener Ebenen wie die der Stoffe, der Struktur und des Stils kommt sie zu dem Fazit: "Einen dem Märchen entsprechenden Märchen-Film kann es nicht geben, sondern immer nur eine eigenständige filmkünstlerische Interpretation." (Liptay 2004, S. 62)

Paul Wegener – Faszination des Übernatürlichen

Paul Wegener, geb. am 11.12.1874 als Sohn eines Gutsbesitzers in Ostpreußen, interessierte sich bereits in seiner Gymnasial- und Studienzeit für die Bühne. Er wurde als Komparse und Schauspieler engagiert und gab dafür sein Jura-Studium auf. Stattdessen nahm er Schauspiel-Unterricht und hatte ab 1885 feste Engagements an verschiedenen Bühnen, u.a. in Rostock, Aachen und Wiesbaden. 1906 holte ihn Max Reinhardt an sein Theater in Berlin, wo Wegener sich zu einem der führenden Darsteller Deutschlands auf der Bühne und auf der Leinwand entwickelte.

1902 entdeckte er für sich den Film als neues künstlerisches Medium. 1913 schrieb er gemeinsam mit Hanns Heinz Ewers an dem Drehbuch zu Der Student von Prag und übernahm auch die Hauptrolle. Der Film gilt heute als das erste künstlerisch bedeutende Werk des deutschen Films.

Wegener meldete sich als Kriegsfreiwilliger, wurde aber bereits 1915 aus gesundheitlichen Gründen nach Berlin zurückgeschickt, wo er bis 1920 weiterhin unter Reinhardt spielte. Neben Engagements an anderen deutschen Bühnen und Gastspielen im Ausland wandte er sich nun verstärkt dem Film zu. An den Widerständen der Schriftsteller und Theaterschaffenden gegen das Kino beteiligte er sich nicht. Ganz im Gegenteil. Er schrieb über Schauspielerei und Film und über die "künstlerischen Möglichkeiten des Films" (Wegener 1916, S. 1). Zu diesem Thema hielt er am 24. April 1916 in der Berliner Singakademie auch einen vielbeachteten Vortrag, den er in anderen Städten wiederholte und der heute zu den frühesten filmtheoretischen Äußerungen der deutschen Filmgeschichte zählt.

Wegener räumte mit Vorurteilen gegenüber dem Kino auf und beklagte die aktuelle Situation, in der das Kulturgut Film von Presse und Publikum vernachlässigt und der Willkür der Handelsspekulanten überlassen wird: "Alles, was in anderen Branchen nicht vorwärts gekommen war, schlüpfte beim Kino unter [...] Und so entstand diese Flut von Schund- und Kitschproduktionen, die wir schaudernd miterlebt haben [...]" (Wegener 1916, S. 4)

Wegener zog eine Bilanz der aktuellen Produktionen und unterschied zwischen den Filmen, die auf der Schauspielerei beruhen, den spannenden und sentimentalen illustrierten Roman und den reinen Kolportage- und Trickfilmen, zu denen er auch die Detektivfilme zählte. Er setzte sich ein für eine "ganz neue bildliche Phantasiewelt wie in einem Zauberwald" und eine reine Kinetik,

der optischen Lyrik, wie ich sie genannt habe, die vielleicht einmal eine große Bedeutung gewinnen wird und dem Menschen neue Schönheiten erschließt. Das ist ja schließlich der Endzweck jeder Kunst, und dadurch gewänne das Kino ein selbständiges ästhetisches Gebiet [...] Es ließe sich unter Heranziehung aller erdenklichen Formen und Elemente ein Film schaffen, der zu einem künstlerischen Erlebnis wird – eine optische Vision, eine große symphonische Phantasie! (Wegener 1916, S. 11)

Rübezahl als Volksbilderbuch

In den drei Märchenfilmen, die Wegener dann drehte: Rübezahls Hochzeit (1916), Hans Trutz im Schlaraffenland (1917) und Der Rattenfänger (1918), wurde er von der Kritik an seinen eigenen Ansprüchen gemessen und unterschiedlich bewertet.

Den Anfang machte Rübezahls Hochzeit. Die Geschichte vom schratigen, klotzigen Berggeist, der sich in eine zauberhafte Elfe verliebt und alle Widerstände austrickst (vgl. Abb. 1), bot keine neuen Interpretationen oder Akzente und wurde kontrovers beurteilt. Nach der Uraufführung des Films am 1.10.1916 in Berlin schrieb beispielsweise die Fachzeitschrift Das lebende Bild am 7.10.1916:

Wegener ist als ein scharfer Kritiker allen bisherigen Filmerzeugnissen gegenüber aufgetreten und hat diese in ihrer Darstellungsart als schädlich geschildert und verurteilt. Sein Recht, den Film zu kritisieren, soll ihm unbenommen bleiben. Wer aber kritisiert mit der Absicht, Krankes gesund zu machen, setzt sich selbst der Kritik aus, wenn er diese Absicht praktisch zur Anwendung bringt. Es drängt sich demnach die Frage auf, hat Wegener in diesem Rübezahl-Film auch wirklich Neues und Originelles geschaffen? Jeder Kenner von Filmbildern wird diese Frage mit einem entschiedenen 'N e i n' beantworten müssen.

Auch in der Besprechung von Julius Urgiss in Der Kinematograph Nr. 510, 1916 wurde der Film in Bezug zu einem Einführungsvortrag von Paul Wegener gesetzt:

Er gab seinem Bedauern Ausdruck, dass das gebildete Publikum und die Presse noch nicht den richtigen Standpunkt zur Filmkunst gefunden hätten. Hochmütig die Bedeutung der Filmkunst wegleugnen zu wollen, ginge nicht mehr, zumindest müsse man anerkennen, dass die Quantität der erscheinenden Filme imponierend ist, und dass sie eine geistige Nahrung der großen Massen bedeutet.

Und dann kam er auf seine Filmgedanken zu sprechen. Er will nicht um jeden Preis etwa eine neue Kunst bieten, er will mit Rübezahls Hochzeit ein wandelndes Bilderbuch geben, ein Volksbilderbuch, ein einfaches Werk, das man einfach nehmen soll, und wie Kinderjubel und Kinderglück die Aufnahmen durchwehten, so sollen sie auch das asphaltene Herz der Großstädter bewegen.

Danach folgte eine verständnisvollere Kritik als in Das lebende Bild:

Was Wegener in seinem geschickt angelegten Reklamevortrag damals in der Philharmonie verhieß, ist gewiss nicht erfüllt, aber trotzdem stellt dieser erste Versuch, lyrische Bilder zu schaffen, eine recht interessante und auch vom Theaterbesitzerstandpunkt aus wertvolle Leistung dar. Der feine Humor, das vorzügliche Spiel und die herrlichen Landschaftsbilder werden überall Beifall finden, und man versteht es durchaus, dass große führende Theater des Westens sich den Wegenerfilm zu recht achtbaren Leihmieten sicherten. (Der Kinematograph Nr. 517, 1916)

Auch in der Fachzeitschrift Lichtbild-Bühne (Nr. 40, 7.10.1916) wurde der Film in Bezug zu Wegeners Reden gesetzt:

Am vergangenen Sonntag hatten wir Gelegenheit, das erste Werk, seine in die Praxis umgesetzte Theorie zu besichtigen. In dem Film Rübezahls Erzählungen sollte der Anfang gemacht sein auf dem Wege zu dem Kinoziel, die Kinokunst zu erreichen. Vor Beginn der Vorstellung sprach Wegener einige einleitende Worte. Es war aber etwas anderes, nicht mehr die bittere, herbe Kritik, mit der er s. Zt. die Branche abtun zu können glaubte. Die Bezeichnung 'Afterkunst', mit der er und andere neben ihm die Kinematographie bezeichnen, hält Wegener heute nicht mehr für angebracht. Die Schundroman-Filme, die dem Kino diese niederschmetternde Charakterisierung eintrug, seien längst verschwunden und man bemühe sich heute überall, den Film auf eine künstlerische Stufe zu stellen [...] Die Vorführung im Union-Palast war harmonisch. Kapellmeister Prasch verstand es, das Filmwerk in der richtigen Form musikalisch zu interpretieren und so ging die ganze Versammlung im vollsten Maße befriedigt und in dem Glauben, eine neue Kunst geschaut zu haben, wieder ihrer Wege.

Ist das aber eine neue Kunst, die uns Wegener bot? Ist dies ein neuer Weg, auf dem er die Kinematographie zu neuen Zielen führen zu können hofft? Der Film Rübezahls Hochzeit ist ein Film von hoher, künstlerischer Bewertung, ein Film der seinesgleichen sucht und selten findet, als einen neuen Weg können wir ihn nicht betrachten. Gebt unseren Regisseuren Zeit, Geld und nochmals Geld und sie werden euch öfters Filme schaffen, die dem Wegenerschen Werk würdig zur Seite treten können.

Für die großen Massen ist dies aber kein Film und auch Wegeners Filmwerke sind auf pekuniären Erfolg angewiesen, wenn sie durchgreifen sollen.

Von der Kritik einhellig gelobt wurden die Spielfreude der Darsteller und die Filmtricks wie Überblendungen und Simultanblenden, die nicht als Selbstzweck demonstriert, sondern dem Handlungsverlauf untergeordnet wurden. Die besondere Bedeutung, die dem Film zukommt, besteht auch in dem Zusammentreffen Wegeners mit der Tanzschule Hellerau, der Keimzelle des Ausdruckstanzes. "Die Wahrnehmung des freien Tanzes mit filmischen Mitteln, die Übertragung rhythmischer Gruppenbewegungen in die freie Natur machen aus Rübezahls Hochzeit ein wesentliches filmhistorisches Ereignis." (Schönemann 2003, S. 43)

Abb. 1: Filmbild aus Rübezahls Hochzeit (Paul Wegener, 1916). Quelle: DIF/Nachlass Paul Wegener-Sammlung Kai Möller

Abb. 1: Filmbild aus Rübezahls Hochzeit (Paul Wegener, 1916). Quelle: DIF/Nachlass Paul Wegener-Sammlung Kai Möller

Paul Wegener war ein großer Märchenerzähler, dessen geistige Kräfte in der Vorstellungswelt der Romantik wurzelten. Als Märchenerzähler setzt er sich am Anfang von Rübezahls Hochzeit auch selbst ins Bild,

mit Märchenbuch und von Kindern umgeben, beide betont alltäglich, er im Straßenanzug und sie, wie sie vom Spielen kamen. Gleich darauf tritt eine geheimnisvolle Verwandlung ein: Er wird zum Rübezahl mit gewaltigem Bart und Schlotterkittel, während die zuhörenden Kinder als Zwerge und Elfen ihre märchenhaften Rolle spielen. Dazwischen war vermutlich die in den Filmographien angegebene Silhouette von Lotte Reiniger montiert, die in beiden in Deutschland überlieferten Fassungen fehlt. Sie markiert den Übergang in die andere Dimension. Das Märchen kann immer und überall stattfinden. (Schönemann 2003, S. 29)

Im Nachhinein lässt sich feststellen, dass Rübezahls Hochzeit als ein Schlüsselfilm in der deutschen Filmgeschichte betrachtet werden kann: Ein Film, der in den Jahren gedreht wurde, in denen der von den bildenden Künsten geprägte Begriff des Expressionismus das Medium Film erreichte. Paul Wegener hat mit seinen Anforderungen an den Film und durch seine  eigenen Arbeiten wie beispielsweise die Golem-Filme diese Epoche des deutschen Films wesentlich geprägt. Er war ein Pionier und Wegbereiter, Darsteller und Regisseur; seine Filme zählen zu den großen Klassikern des deutschen Stummfilmkinos.

Das  'Tendenzstück' Hans Trutz im Schlaraffenland

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Das nächste Märchenfilm-Projekt von Paul Wegener war Hans Trutz im Schlaraffenland aus dem Jahre 1917. Es ist die Geschichte vom unzufriedenen Bauern Hans Trutz, der sich vom Teufel um den Preis seiner Seele ins Schlaraffenland locken lässt, dort nach üppigem und faulem Leben Nutz und Segen der Arbeit verstehen lernt und am Ende durch Frau und Kind aus den Klauen des Teufels und seiner bösen Geister errettet wird.

Der Film wurde nach seiner Uraufführung am 18.11.1917 im Berliner Union-Palast von der Fachpresse gelobt. Das große Interesse, das dem Wegener-Film entgegengebracht wurde, bewies,

dass Wegeners rein künstlerische Bestrebungen echte und dankbare Gegenliebe im Publikum finden... Der Versuch, phantastische Vorstellungen, wie sie z.B. die Erzählung eines Märchens auslöst, eine bestimmte, konkrete Gestalt zu geben, birgt bekanntlich die Gefahr, dass gerade die Phantasie gelähmt und damit der weite Kreis solcher Vorstellungen verengert werde. Das weiß der Kinofachmann Paul Wegener und (der Schauspieler a.d.V.) Rochus Gliese, sein trefflicher Mitarbeiter, gerade so gut wie der bildende Künstler, sie freilich haben diese Gefahr umschifft, so dass der Zuschauer völlig im Reihe des Phantastischen verbleibt und nirgends durch technische Durchsichtigkeiten etwa gestört wird. Wegener verfolgt also konsequent und erfolgreich seine bekannten Kinoziele, die, was hierbei nicht vergessen sei, vielleicht doch hie und da befruchtend auf den deutschen Film gewirkt und manchen Fortschritt, sei es direkt, sei es indirekt, herbeigeführt haben... Paul Wegener hat in der Rolle des Hans Trutz dank den großen, ihm zu Gebote stehenden Mitteln eine ebenso feinumrissene, wie kraftvolle und kernige Gestalt geschaffen. (Der Film, Nr. 47, 24.11.1917)

Das Fachorgan Der Kinematograph (Nr. 569, 21.11.1917) zeigte sich ebenso begeistert:

Auch hier geht Wegener seine eigenen Wege. In das Gewand des Märchens kleidet er Lebensweisheit, und er macht so seine Arbeiten auch für die Erwachsenen mehr als nur interessant. In seinem neuen Film behandelt er die Sehnsucht, ohne Arbeit Früchte des Lebens zu genießen, jene Sehnsucht, deren Erfüllung bald die Sehnsucht nach Arbeit erweckt. Also ein Tendenzstück! Wegener arbeitet auch hier wieder mit der Verwendung von Tricks, bei deren Erfindung er wieder außerordentlich glücklich war. So mancher derselben rief auch beim Fachmann helles Entzücken hervor. Man muss es den Bestrebungen Wegeners lassen, sie sind ehrlich gemeint und dienen einem erzieherischen Zweck.

Hans Trutz im Schlaraffenland fand bei Presse und Publikum eine positive Resonanz.  In der Ausgabe vom 22. November 1917 berichtete die Zeitung Deutscher Kurier: "Der Film, der sich besonders für die kommende Weihnachtszeit eignet, wurde bei seiner Erstvorführung mit starkem Beifall aufgenommen und erweckte das besondere Interesse der lieben Jugend."

Oskar Kalbus geht in Vom Werden deutscher Filmkunst (1935) auch auf die Rolle von Paul Wegener ein, die dieser für die Anerkennung des künstlerischen Wertes der Märchenfilme spielte. Er

schenkte uns zunächst Rübezahls Hochzeit (1916), ein lyrisches Volksbilderbuch, durch das Kinderjubel und Kinderglück – auch für die blasiertesten Großstädter – wehten. Wegener zeigt auch hier wieder neue Kunst. Neues im Stoff und in der Ausführung, bei der alle Errungenschaften der modernen Regie eingesetzt worden sind.

Dann kam der Rattenfänger von Hameln mit den alle Räume füllenden, kribbelnden Ratten und Mäusen – ein Stoff, wie er filmgerechter nicht zu finden ist.

Auch mit seinem Märchenfilm Hans Trutz im Schlaraffenland (1917) ging Wegener seine eigenen Wege. Er kleidete für die Erwachsenen allerlei Lebensweisheiten in das Gewand des Märchens. Wegener ist auch hier wieder großartig als Darsteller, weil er seine Person niemals in den Vordergrund stellt, sondern immer nur dem Ganzen dient [...]

Wegener ist in seinen Filmen noch nicht bis zur Märchenlandschaft und Märchenkulisse gelangt. Dennoch hat er für die Umgebung seiner Märchenfilmhandlungen eine wundervolle Wahl getroffen. Seine Riesengebirgslandschaften im Rübezahl und sein Alt-Hildesheim im Rattenfänger versetzen den Beschauer in eine Märchenwelt, weil Landschaft und Stadt ganz den Charakter des Typischen, über das Zufällige Erhabenen tragen. Wegener ist eben nicht nur Darsteller, er ist auch bildender Künstler. Einige Bilder seiner Märchenfilme sind Gemälde und als Ruhepunkte geschickt in die bunten Ereignisse eingestreut. Ruhe wechselt mit Spannung, Ernst mit Scherz, weil Humor ja die Grundstimmung jedes Märchens ist, Äußeres mit Innerem nicht als Zufälligkeiten, alles im Bewusstsein künstlerischer Zwecke und Ziele. (Kalbus 1935, S. 63)

Paul Wegener und Lotte Reiniger

Mit dem Namen Paul Wegener verbindet sich heute der Beginn der deutschen Filmkunst in einer Phase, die auch den expressionistischen Film vorbereitete. Die dominierenden Stilmittel des expressionistischen Films, die harten Hell-Dunkel-Kontraste zur Steigerung der räumlichen Effekte, sind in idealer Weise für einen Silhouettenfilm geschaffen, für das Spiel mit Licht, Schatten und Bewegung. Die Geister der Verstorbenen nannte man Schatten und die Unterwelt war ein Schattenreich. Aus der Tradition der Schattenspiele entstanden Kinofilme. Der Schatten von Nosferatu in dem Film von Murnau ist dafür ein exemplarisches Beispiel.

Unter dem Einfluss von Paul Wegener wurde Lotte Reiniger, geb. am 21. Juni 1899 in Berlin, zu der deutschen Filmkünstlerin, die mit Die Abenteuer des Prinzen Achmed (1923-26) den ersten abendfüllenden Silhouettenfilm des internationalen Films schuf. Sie beschäftigte sich schon als Schülerin mit Scherenschnitt und Schattentheater. Beeindruckt von den frühen Filmen Paul Wegeners wollte sie Schauspielerin werden und besuchte die Max-Reinhardt-Schule am Deutschen Theater Berlin.

Sie lernte Wegener am 24. April 1916 bei seinem Vortrag in der Berliner Singakademie kennen und suchte fortan seine Nähe. Die beiden standen gelegentlich auch gemeinsam auf der Bühne, aber das Silhouettenmädchen, wie Wegener sie später nannte, porträtierte lieber die Schauspieler in charakteristischen Posen mit der Schere, wobei sie eine außerordentliche Treffsicherheit erzielte. Die meisten Porträts waren die von Paul Wegener. Er förderte ihre Begabung und erteilte ihr den Auftrag für die Anfertigung von Silhouetten für die Zwischentitel von Rübezahls Hochzeit.

Nach Rübezahls Hochzeit kam es bei dem Film Apokalypse (1918) zu einer weiteren Zusammenarbeit zwischen Paul Wegener und Lotte Reiniger; ein einaktiger Antikriegs-Propagandafilm, der kurz nach Kriegsende im Auftrag des Auswärtigen Amtes hergestellt wurde. (Schönemann 2003, S. 132). Für diesen Film, der heute verschollen ist, zeichnete Lotte Reiniger die Titelsilhouetten.

Abb. 1: Filmbild aus Der Rattenfänger (Paul Wegener, 1918). Quelle: DIF/Nachlass Paul Wegener-Sammlung Kai Möller

Abb. 1: Filmbild aus Der Rattenfänger (Paul Wegener, 1918). Quelle: DIF/Nachlass Paul Wegener-Sammlung Kai Möller

In Zuge der Zusammenarbeit von Paul Wegener und Lotte Reiniger entstand 1918 Der Rattenfänger / Der Rattenfänger von Hameln. Der Film über den abenteuerlich gekleideten fremden  Spielmann, der die Kinder einer ganzen Stadt mit seiner Flöte in einen Berg lockt, weil die Stadt Hameln ihn um seinen Lohn als Rattenfänger betrogen hat, ist heute leider nur noch fragmentarisch erhalten (vgl. Abb. 2).

Trotz des Fragmentarischen der erhaltenen Szenen ist ihre Ausdruckskraft so stark, dass die filmhistorische Bedeutung des Films deutlich zu sehen ist. Die Parallelen zur zeitgenössischen Jugendbewegung sind unverkennbar; selten haben deren Vorstellungen deutlicheren filmischen Ausdruck gefunden: in der Märchenhaftigkeit des Sujets, in der Betonung des Landschaftlichen, in der Geschichtsträchtigkeit städtischer Räume, in dem charakteristischen Ensemble von Typen und ihrer Kostümierung – dem wandernden Spielmann, den fröhlichen, tanzwütigen Mädchen, den gravitätischen, engherzigen Bürgern in ihrer Verlogenheit und falschen Würde [...] Charakteristisch sind die klobigen Knittelverse, die die Handlung begleiten, in Kontrast zu den zierlichen Silhouetten Lotte Reinigers. In ihnen wird durch die Umsetzung in einen Scherenschnitt ein weiteres Stilmerkmal besonders deutlich: die enorme Bedeutung des historischen Ambiente. (Schönemann 2003, S. 35)

Lotte Reiniger – Frau Mozart mit den Märchenhänden

Den Abschluss des künstlerischen Wirkens von Lotte Reiniger unter der Führung Wegeners bildete der Fantasy-Film Der verlorene Schatten aus dem Jahre 1920. Paul Wegener, der die Hauptrolle des Musikers spielte, schrieb das Buch gemeinsam mit Rochus Gliese, der die Regie übernahm. Ein dämonischer Schattenspieler schenkt einem jungen, schüchternen Stadtmusikus eine Zaubergeige, damit er das Herz seiner Angebeteten gewinnen kann. Als Preis dafür verlangt er dessen Schatten, den der Musiker erst zurückerhält, nachdem der Unhold in Flammen aufgeht und die verwünschte Geige zu Asche zerfällt.

Zu diesem Film lud Wegener Lotte Reiniger zur Mitarbeit für die Zwischentitel und ein Zauberspiel ein: Mittels einer Silhouette wird das Auftauchen und Verschwinden des Schattens der Zaubergeige dargestellt. "Sie waren nun nicht mehr Meister und gelehrige Schülerin, sondern zwei Filmkünstler auf Augenhöhe." (Happ 2015, S. 130)

Durch Vermittlung von Paul Wegener kam Lotte Reiniger an das Institut für Kulturforschung, einem Atelier für experimentelle Animationsfilme für junge Künstler und Wissenschaftler. Hier traf sie Dr. Hans Cürlis und Carl Koch, den sie 1921 heiratete. 1919 entstand ihr erster eigener Film Das Ornament des verliebten Herzens.

Lotte Reiniger war am Ziel. Ihre Fähigkeit, Silhouetten zu schneiden und ihr sehnlichster Wunsch, an der künstlerischen Entwicklung des Films teilzunehmen, waren zusammengekommen. Nun machte sich Lotte Reiniger selbständig auf den Weg, die weltweit bekannte und berühmte Meisterin des Silhouettentrickfilms zu werden. (Happ 2015, S. 130)

Abb. 3: Lotte Reiniger am Arbeitstisch. Quelle: Christel Strobel, Agentur für Primrose Film Prod.; CC BY-SA 4.0

Abb. 3: Lotte Reiniger am Arbeitstisch. Quelle: Christel Strobel, Agentur für Primrose Film Prod.; CC BY-SA 4.0

Lotte Reiniger und Carl Koch

Die spielerische Phantasie Lotte Reinigers findet in dem theoretisch geschulten, perfekten Techniker und genialen Filmtüftler Carl Koch die ideale Ergänzung und so fungiert er bei ihren meisten Filmen als Aufnahmeleiter. Nach Werbefilmen für Kosmetikprodukte von Nivea und Odol folgten mehrere Märchenverfilmungen. Für das Institut für Kulturforschung gestaltete Lotte Reiniger 1921 die Silhouettenfilme Der fliegende Koffer nach dem Märchen von Hans Christian Andersen.1922 folgten Dornröschen und Aschenputtel / Aschenbrödel nach dem Märchen der Gebrüder Grimm. Das Märchen vom Königssohn, der das unbekannte schöne Mädchen sucht, das ihn auf dem Ball im Schloss verzaubert, hat Lotte Reiniger in dieser ersten Fassung ganz im expressionistischen Stil gestaltet.

Eine künstlerische Meisterleistung. Die Atmosphäre ist hier eingefangen mit einer naiven Romantik und einem immanenten Humor. Diese Silhouetten haben individuelles Leben, in denen das Wesentliche der Märchengestalten Figur geworden ist. (Filmkurier, 9.3.1923)

Die Abenteuer des Prinzen Achmed

1922 gehen Lotte Reiniger und Carl Koch – auch als ökonomischen Gründen – als Lehrer an eine von dem Berliner Bankier Louis Hagen für seine eigenen Kinder und zehn Nachbarskinder gegründete Arbeitsschule, wo der Lehrstoff von den Kindern selbst erarbeitet wurde. "Außer diesem pädagogischen Versuch finanziert Louis Hagen für die Hauslehrerin, deren Talent er bewundert und fördern will, ein kleines Studio in der Nähe, wo ein Tricktisch gebaut wird, auf dem in dreijähriger Arbeit der noch heute faszinierende Silhouettenfilm Die Abenteuer des Prinzen Achmed entsteht." (Strobel 2013, S. 4; vgl. Abb. 4)

Abb. 4: Lotte Reiniger, Carl Koch, Walter Türck and Alexander Kardan arbeiten an der Multiplan-Kamera. Quelle: Christel Strobel, Agentur für Primrose Film Prod.; CC BY-SA 4.0

Abb. 4: Lotte Reiniger, Carl Koch, Walter Türck and Alexander Kardan arbeiten an der Multiplan-Kamera. Quelle: Christel Strobel, Agentur für Primrose Film Prod.; CC BY-SA 4.0

Zum Bekanntenkreis von Lotte Reiniger und Carl Koch zählte auch Walter Ruttmann, der 1921 mit seinen Opus-Filmen begann, die heute zur deutschen Filmavantgarde zählen. Ruttmanns Bilder leiten den Film ein und aus seiner abstrakten Filmkunst sind Reinigers phantasievolle Märchenwelten entstanden. Für Kamera und technische Leitung zeichnete Carl Koch verantwortlich. Der Komponist Wolfgang Zeller wurde von Reiniger beauftragt, für den Film eine symphonische Musik zu schreiben.

Vorlage des Films sind Motive aus Tausendundeine Nacht. Ein böser Zauberer bietet dem Kalifen zum Geburtstag als Tausch für seine Tochter Dinarsade ein Zauberpferd an. Ihr Bruder Achmed ist darüber erzürnt. Es gelingt dem Zauberer, den Prinzen Achmed auf das fliegende Pferd zu locken. Damit beginnt für den unerschrockenen Prinzen eine lange abenteuerliche Reise. Sie führt ihn zur Zauberinsel Wak-Wak, wo er sich in die Fee Pari Banu verliebt. Als  der Zauberer sie entführt und den Prinzen an einen Berg fesselt, kann nur mit Hilfe von Aladins Wunderlampe und einer guten Hexe der Zauberer besiegt werden.

Die allererste – privat veranstaltete – öffentliche Vorführung fand am 2. Mai 1926 in der Berliner Volksbühne am Bülowplatz statt. Seine Premiere hatte der Film dann durch die Vermittlung von Jean Renoir im Juli 1926 in der Comédie des Champs-Elysées in Paris. Über diesen Umweg kam es dann in Berlin am 3.9.1926 zur Deutschen Erstaufführung im Gloria-Palast.

Die Arbeiten an Die Abenteuer des Prinzen Achmed erstreckten sich über einen Zeitraum von drei Jahren; es entstanden etwa 250.000 Einzelaufnahmen, von denen fast 96.000 Frames für den Film endgültig Verwendung fanden.

Der Film, dessen Material in den Folgejahren eine wechselvolle Geschichte erlebte und unter großem Aufwand erst Ende der 1990er-Jahre rekonstruiert wurde, zählt heute zu den Klassikern der deutschen Filmgeschichte und als einer der besten programmfüllenden Trickfilme aller Zeiten. Doch dieser Erfolg stellte sich nicht  unmittelbar nach seiner Premiere ein. Es gab Vermarktungsprobleme. Ein langer Film ohne Schauspieler ließ sich der Verleih- und Kinobranche nur schwer vermitteln.

Der Kritiker Hans Wollenberg reagierte in der Lichtbild-Bühne Nr. 104 vom 3.5.1926 auf dieses Problem. Er lobte ausführlich die künstlerischen Leistungen von Lotte Reiniger, Walter Ruttmann und Wolfgang Zeller, aber

all diese Qualitäten können nicht darüber hinweghelfen, dass die Silhouette, die im letzten Grund auf die Seele, auf das Gesicht verzichten muß, nicht tragfähig ist, einen ganzen Abend zu füllen. Es bleibt eine Angelegenheit der empfindsamen Haut, es trifft nicht das Herz da, wo es menschlich mitfühlt. Ein Silhouetten-Einakter von Lotte Reiniger wird nicht nur ein künstlerischer Genuß sein, sondern wird auch seinen Zweck im Kino erfüllen. Aber fünf Akte sind zuviel für eine Kunstform, die von vornherein dazu bestimmt ist, ein flüchtiges Spiel zu sein, eine angenehme ästhetische Unterhaltung – die aber überall da versagen muß, wo Herz zu Herzen spricht. Diese Feststellung muß bleiben, auch wenn man den außerordentlichen Beifall am gestrigen Tage in Betracht zieht, der wohl mehr dem Streben der Künstler galt, der hingebenden Arbeit dreier arbeitsreicher Jahre, als der vom Sinn des Kinos aus betrachteten filmmäßígen Leistung.

 ... dann leben sie noch heute

Nach Premiere des Films in Paris freundete sich Lotte Reiniger mit Jean Renoir an was, u.a. zur Zusammenarbeit bei dessen Film La Marseillaise (1938) führte. Das Schattentheater im Palais Royal, das im Film zu sehen ist, stammt von Lotte Reiniger.

In den Jahren zwischen 1933 und 1945 lebten Lotte Reiniger und Carl Koch in London, vorübergehend auch  in Paris und Rom. 1944 kehrten sie zu Lotte Reinigers kranker Mutter nach Berlin zurück, wo sie das Kriegsende erlebten. Ab 1948 lebten und arbeiteten sie in London. Hier entstand ihre Märchenfilmserie. Carl Koch stirbt 1963. Lotte Reiniger stirbt am 19. Juni 1981 im Alter von 82 Jahren in Dettenhausen bei Tübingen, wo sie ihre letzten Lebensjahre verbrachte. Ihr Gesamtwerk umfasst ca. 40  Silhouettenfilme, von denen nur 30 verfügbar sind, die anderen sind verschollen.

Über viele Jahre hinweg war Lotte Reiniger im Ausland bekannter als in Deutschland. Erst seit Ende der 1960-er Jahre findet sie auch hier die verdiente öffentliche Anerkennung. Ihre Filme haben andere Filmkünstler beeinflusst, u.a. den französischen Animationsfilmer Michel Ocelot. Als seine Trickfilme Les contes de la nuit bei den Französischen Filmtagen in Tübingen gezeigt wurden, bezeichnete er Lotte Reiniger als seine "Großmutter" und sein Werk als eine "Hommage an Lotte Reiniger, besonders an ihren Prinzen Achmed. In nur anderthalb Jahren haben Ocelot und seine Leute elf Geschichten auf den Zeichentisch gebannt, ganz im Sinne und in der Technik von ihrem Vorbild Lotte Reiniger, der 'Frau Mozart mit den Märchenhänden', wie Jean Renoir sie nannte. 'Ich imitierte sie, ohne zu wissen, dass ich sie imitierte', räumt Ocelot ein. Der 'Basteleffekt' ihrer Filme habe ihm schon immer gefallen." (Wilhelm Triebold, Schwäbisches Tagblatt, 9.11.2011)

Lotte Reiniger ist heute auch eine Inspirationsquelle für eine junge Trickfilmgeneration in Malaysia und Indonesien, die in ihrem Stil weiterarbeiten.

Ludwigs Bergers Aschenputtel

Stand am Anfang der Märchen-Verfilmungen mehr die Erprobung der filmischen  Möglichkeiten der Tricktechnik im Vordergrund als die Dramatisierung des Geschehens, so sollte sich das mit dem Film Der verlorene Schuh von Ludwig Berger ändern.

Ludwig Berger, geb. am 6.1.1892 in Mainz, kam über den Weg als Theater-Regisseur zum Film. 1920 führte er seine erste Filmregie; "seinen Durchbruch zu einem persönlichen, romantisch-märchenhaften getönten Stil erzielte er mit seinen Filmen Ein Glas Wasser (1923) und dem Aschenputtel-Film Der verlorene Schuh (1923)." (Dahlke/Karl 1988, S. 325)

Aschenputtel (Aschenbrödel) ist eine in der europäischen Kulturgeschichte weit verbreitete Märchenfigur, die als Archetypus eine lange Geschichte hinter sich hat, die bis zu den alten Griechen und Römern reicht:

Die Wirkung und Weitererzählung des Märchenmotivs von Aschenbrödel ist literarisch vielschichtig. Insbesondere in der Literatur der deutschen, englischen, russischen und französischen Romantik und in der Literatur des international Stilgeschichte bestimmenden Symbolismus finden sich zu Aschenputtel – wie zu vielen Märchenmotiven – interessante Kombinationen und Anklänge. (Marburg, S. 97)

Im deutschen Sprachraum ist Aschenputtel vor allem durch die Märchensammlung der Brüder Grimm in Erinnerung geblieben ist. Bergers Film lehnt sich an das Märchen der Grimms an, nennt aber im Vorspann auch noch E.T.A. Hoffmann und Clemens Brentano als Vorlagen der Handlung:

Ein Witwer heiratet zum zweiten Mal. Aber die Frau ist böse, und für sein Kind aus erster Ehe beginnt eine harte Zeit. Der gute Vater ist schwach und kann sich und sein Kind nicht genug vor der Herrschaft der neuen Sippschaft schützen.

Vater und Kind tragen ihr Leid still in sich hinein. Diese schmerzbewegte innere Stille aber ist das dunkle Tor, durch das der Weg in die Welt des Wunderbaren geht. Auf dem Kirchhof am Grab der Mutter wartet die Trösterin, die Patin, die heimlich und stark alle Fäden in die Hand nimmt und ein buntes Netz spinnt, voll Torheit, Prüfungen und Zauberlehren, bis die Tür ins Glück von selbst aufspringt und das gute Ende aller Not und Mühen krönt. (Hahn/Giesen 2001, S. 550)

Der Film

ist eines der wenigen Lichtspiele, die einer inneren Notwendigkeit entsprungen sind. Was in Bergers Märchendramen wie Nachempfindungen wirkte, weil ein alter Stoffkreis in der Sprache keine neue Form fand, hat in Bergers Märchenfilm neue, unmittelbare Gestalt gewonnen. Endlich einmal ist der Film notwendige Persönlichkeitsäußerung, Selbstbefreiung geworden, wie der Dichter in Worten, der Musiker in Tönen sich selbst ausdrückt und befreit. Indem der Film zum zwangsläufigen Ausdruck der Persönlichkeit wird, rückt er neben die anderen Künste. (Greve/Pehle/Westhoff 1976, S. 357)

Ludwig Berger selbst formulierte im Programmbuch der Decla-Bioscop als Einführung in den Film:

Das Märchen gibt dem Film, was der Film notwendig braucht: das einfache Lied-Thema mit allen Möglichkeiten buntester Variationen, die primitive Grundlinie und eine Fülle der Gesichte darüber ausgeschüttet. Der Film gibt dem Märchen, was das Märchen braucht: Realität und Glaubhaftigkeit, Tempo und Auftrieb und eine ganze bunte Traumwelt voll Licht und Dämmerung. Das Märchen beweist für den Film, dass der Film (was schon die schwedischen Filme bewiesen haben) nicht einzig von großer Stofflichkeit zu leben braucht, sondern dass auch zartester und innigster Inhalt in dieses der Technik abgerungene Kunstgefäß gegossen werden kann, kurz: dass auch hier eines Tages die Form dem Geist untertan sein wird. Der Film beweist für das Märchen, dass das Märchen kein Stoff 'von gestern' und keine Angelegenheit nur 'für Kinder' ist. (Greve/Pehle/Westhoff 1976, S. 356)

Die Fachzeitschrift Filmkurier erwähnte in der Besprechung des Films Der verlorene Schuh die kulturgeschichtlichen Bezüge zur Romantik:

Ludwig Berger hat sich in diese romantische Welt derart hineingelebt, dass ihre Seele in ihm selber klingt, oder besser gesagt, er fand den Weg zu ihr, weil er ein geistiger Nachkomme jener Tieck, Arnim, Brentano ist, die vor hundert Jahren diese Welt wieder zum Dasein heraufbeschworen. Und noch ein anderer Name drängt sich zum Vergleich auf. Mozart, der Meister des Rokoko, der die höchste künstlerische Erfüllung dieses Zeitalters bedeutete, indem er es überwand. (zitiert nach Hahn/Giesen 2001, S. 551)

Die Anerkennung der Kritiker fand offensichtlich keine Bestätigung durch die Besucher, wie Oskar Kalbus schreibt:

An Kinder und Große wendet sich der Märchenfilm Der verlorene Schuh (1923). Ludwig Berger zeigt hier Filigranarbeit und hat ein meisterhaftes Lichtspiel geschaffen [...] Die Kinofreunde gingen an diesem herrlichen Film recht teilnahmslos vorbei. Seltsam: der Kinomensch will mit der romantischen Welt des Märchens nichts zu tun haben, weil er in der modernen Zeit nicht kindergläubig werden will. So wird die Gattung des Märchenfilms eines Tages ganz aussterben. (Kalbus 1935, S. 63)

Bergers Film setzte Siegfried Krakauer in seinem Buch Von Caligari zu Hitler in den Kontext der zeitgeschichtlichen Hintergründe Anfang der 1920er-Jahre. Aus seinem Text wird der besondere Stellenwert, der heute dem Film zukommt, deutlich:

Die deutsche Seele, abwechselnd heimgesucht von den Bildern tyrannischer Herrschaft und instinktbeherrschtem Chaos, vom Untergang auf beiden Seiten gleichermaßen bedroht, schlingerte im dämmrigen Raum umher wie das Geisterschiff in Nosferatu. [...]

Im Film wurden verschiedene Versuche unternommen, einen modus vivendi, ein haltbares Modell innerer Existenz zu finden. Zwei Filme von Ludwig Berger, die beide 1923 herauskamen, sind typisch für den einen dieser Versuche: Ein Glas Wasser nach Scibes gleichnamiger Komödie und Der verlorene Schuh, der eine Verfilmung mit vielen Arabesken und Abschweifungen vom alten Märchen war. [...]

Während die Inflation sich ständig verschärfte und die politische Leidenschaft  ihren Höhepunkt erreichte, verschafften diese Filme die Illusion eines Wolkenkuckucksheims, in dem das kleine Ladenmädchen über die gnädige Königin triumphiert und die gute Fee Aschenputtel zu ihrem Prinzen verhilft. Natürlich freut man sich, die unwirtliche Realität mit verlockenden Tagträumen zu verdecken, und Der verlorene Schuh befriedigte die Sehnsucht nach Heiterkeit und unbeschwertem Spiel ganz besonders, indem er mit Hilfe spezieller Filmtricks eine süße Mischung menschlichen Schicksals und übernatürlichen Wunders zusammenbraute. Trotz alledem lag dieses Wolkenkuckucksheim keineswegs auf unpolitischem Gebiet. [...]

Berger hatte nicht unrecht, sich auf die Romantiker zu berufen; auch sie neigten dazu, die Vergangenheit zu verherrlichen, und war daher eng den traditionellen Mächten verbunden. Diese Filme boten gefällige Ablenkung. Aber durch ihren immanenten Romantizismus waren sie nicht in der Lage, den Bedürfnissen eines kollektiven Bewusstseins zu entsprechen, das endgültig aus dem barocken Paradies vertrieben worden war. (Kracauer 1979, S. 116-117)

Zurück auf Anfang: Geheimnisse des Orients

1928 drehte die Ufa den Monumentalfilm Geheimnisse des Orients, "den letzten großen Märchenfilm der Stummfilmzeit". (Kalbus 1935, S. 63) Es handelt sich um eine deutsch-französische Koproduktion, die in den Ufa-Studios, in Nizza und in der Sahara in Tunis gedreht wurde. Die Produktion war so aufwendig, dass sie sich durchaus mit Metropolis von Fritz Lang vergleichen kann.

Vorlage ist eine Geschichte aus Tausendundeinernacht. Der arme Schuster Ali träumt sich in einen Sultanspalast, weg von der zänkischen Ehefrau und dem ärmlichen Heim. Anfangs steht er noch unter dem Schutz des Herrschers. Bald verwandelt sich die Vision vom reichen Leben zum Albtraum, als er in die Ränkespiele des Hofstaates gerät. Er wird in eine Reihe haarsträubender Abenteuer verwickelt, bis er sich mit Hilfe einer Zauberpfeife aus dem Sultanspalast befreien kann.

Regie führte der 1885 in Moskau geborene Alexander Wolkoff, der als Filmregisseur, Drehbuchautor und Darsteller in Russland, Frankreich und Deutschland arbeitete. Seine Filme waren Garanten für Kassenerfolge im In- und Ausland; u.a. war er 1926 als Assistent von Abel Gance bei den Dreharbeiten zu dem Monumentalfilm Napoleon tätig.

Als sich am Ende der Stummfilmzeit die namhaften deutschen Regisseure längst zeitgenössischen Themen zugewendet hatten, setzte Wolkoff auf die Ingredienzien, die den deutschen Film unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg zur Weltgeltung verholfen hatten: phantasievolle Dekors, reiche Ausstattung, verspielte Tricks, Massenszenen und märchenhafte Romantik.

Die Babelsberger Studios waren aufgrund ihrer Größe und der exzellenten technischen und künstlerischen Mitarbeiter bestens für die Produktion solcher Monumentalfilme geeignet. (Filmmuseum Potsdam 2007)

Werner Sudendorf führt aus:

Ungebrochener Zauberglaube, süße Träume und Wunschtraumkino, das findet ein letztes Mal seinen Ort in Geheimnisse des Orients (1928) von Alexander Wolkoff... Der Orient ist eine Märchenwelt aus Lehm und Pappe, mit großblättrigen Pflanzen, überdimensionierten, verschachtelten Bauten, Riesenturbanen, dickbäuchigen Herrschergestalten, zahllosen Haremsdamen, verzweifelten Zauberern und Menschen in Insektengestalt. Die Märchenlandschaft ist eine wilde Mischung aus Jugendstil und Expressionismus, Scherenschnitt- und Revuefilm, Abenteuer und Science Fiction. Das Spiel funktioniert, weil es von Anfang als Burleske aufgebaut ist, das Auge des Schusters alles mit gleichen begeisterten Unverständnis aufnimmt und die Gesetze der Wahrscheinlichkeit keine Gültigkeit mehr haben vor der Gunst des Illusionskinos. Mit diesem Film, aufgenommen in Babelsberg und in den Studios von Rex Ingram in Nizza, geht das Kino thematisch zurück zu seinen Anfängen. (Werner Sudendorf in: Jacobsen 1992, S. 69)

Der Märchenfilme als Ware

Über die kommerziellen Erfolge der Märchenfilme und Vorführungen speziell für Kinder in den frühen Jahren der Kinematographie gibt es heute keine zuverlässigen Quellen. Die Filme hatten einen schnellen Durchlauf und es wurde in den Fachorganen nur wenig darüber berichtet. Die meisten Kopien sind auch nicht mehr vorhanden. Bevor sich Verleihfirmen gründeten wurden die Filme von den Vorführstellen angekauft und nach Gebrauch vernichtet. Viele Filme sind infolge des Ersten Weltkrieges verschollen.

An der wechselvollen Titelgeschichte des Branchenblattes Der Komet lässt sich ablesen, wie sich die Szene innerhalb weniger Jahre änderte. Die Zeitschrift wurde 1883 gegründet und nannte sich im Untertitel anfangs Organ zur Wahrung der Interessen der Besitzer von Sehenswürdigkeiten und Schaustellungen jeder Art. Herausgegeben unter Mitwirkung intelligenter Fachgenossen. Mit dem Aufkommen erster Kinematographen weitete sie ihren Nutzerkreis aus: Organ des gesamten Schausteller-, Kinematographen-, Händler- und Meßreisenden-Standes. Unter Mitwirkung von Fachgenossen. Ab den 1920er-Jahren nannte sie sich Erste, älteste und führenden Fachzeitschrift des Schausteller-, Messreisenden-, Hausierer- und Detaillisten-Standes. Publikationsorgan des Bundes der Schausteller und verwandter Berufe.

Hier wurden auch die aktuellen Filmangebote für die Kinematographen angezeigt. Am 18. Januar 1908 beispielsweise Die kleine Wohltäterin. "Belehrend für klein und groß! Sehr empfehlenswert! Länge: 83 m."

Speziell für Schüler-Vorstellungen und Kindervorstellungen wurde der Film Die Bürgschaft "Nach der Ballade von Schiller. 210 m." beworben:

Die Ankündigung dieses Films dürfte für Kinematographen-Theater eine besonders wirkungsvolle Reklame bilden, da eine derartige Aufnahme von Polizei, Schule und Eltern, von den mittleren und auch von den besten, gebildeten Kreisen gern gesehen wird. (Der Komet 1191/1908)

Parallel zur Werbung einzelner Filme wurden Aktionen gefördert, die Filme mit einem "bewährten Vortragenden" zu begleiten: "Es sollen an den Nachmittagen Kindervorstellungen mit kurzen Erläuterungen der kinematographischen Bilder und an den Abenden Lichtbildvorträge [...] stattfinden." (Der Komet 1244/1909).

Solche Veranstaltungen hatten nicht immer den gewünschten Erfolg. Von einem besonders kuriosen Vorfall in Pirmasens wurde unter der Überschrift "Kinematograph und Märchenerzählung" folgendes berichtet:

In die Volksgartenhalle, einem der größten Säle unserer Stadt, strömten sowohl vormittags um halb 11 Uhr als auch nachmittags um 3 Uhr die Kinder mit ihren Lehrern scharenweise, so dass der Saal jedes Mal voll besetzt war; es mögen im ganzen etwa 4000 Kinder anwesend gewesen sein. Ein glattrasierter Herr – nach unseren Informationen ein Herr Hofschauspieler Schilling aus Karlsruhe, der sich in seinen Mußestunden der angenehmen Beschäftigung des Märchenerzählens, natürlich gegen Bezahlung, hingibt – erschien auf der Bühne. Lichtbilder sollten den Vortrag veranschaulichen... Nun muß es losgehen, nämlich das Märchenerzählen, dachten wir uns. Aber statt dessen begann der Mann mit einer furchtbaren Brandrede auf die verderbliche Wirkung der Kinematographie und hob den Wert der Märchen hervor, die, wenn von der Großmutter oder Mutter erzählt, die Kleinen in Spannung hielten ... 'Der Kinematograph gehöre polizeilich verboten'. Es ist tatsächlich eine Dreistigkeit, etwas Derartiges für gutes Geld zu bieten.

Der Mann muß keine Großmutter gehabt haben, sonst hätte er wenigstens das Märchenerzählen gelernt. Die Kinderschar gab ihm auch sogleich die Quittung über seine Leistungen, sie lärmte und übertönte das müßige Gerede des Hofschauspielers. (Der Komet 1247/1909)

Branchenintern wurde auf Verbandstreffen immer wieder das Verhältnis der Kinematographie zur Schule diskutiert. Den vielen Vorbehalten der Pädagogen gegenüber dem Film wurde das beispielhafte Modell der Hamburger Oberschulbehörde besonders hervorgehoben. Hier wurden besondere Vorführungen für Kinder unter Kontrolle der Mitglieder einer behördlichen Kommission empfohlen. Beklagt wurde allerdings der Mangel an deutschen Filmen: "Da die Films zumeist in Frankreich hergestellt werden, habe man leider keine guten Darstellungen deutscher Märchen." (Der Komet 1282/1909). Eine Ausnahme bildet Aschenbrödel, "ein Märchenfilm in acht Bildern, neu bearbeitet mit Weihnachtsballett." (Der Komet 1287/1909)

Kritisiert wurde allerdings: "Balletts als Erzeugnisse moderner Großstadtkultur gehören nicht in solche Märchendarstellungen." (Der Komet 1282/1909)

Märchen, Film und Schokolade in Köln

Der Kölner Schokoladenfabrikant Ludwig Stollwerck war zur Förderung des Umsatzes an allen Arten von Unterhaltungsautomaten interessiert. Auf der Suche nach immer neuen attraktiven Angeboten nahm er im März 1896 an einer Vorführung des Cinématographe Lumière teil. Der technikbegeisterte Unternehmer erwarb die Auswertungsechte für Deutschland; in seiner Firma fand am 16. April 1896 die erste Vorführung der lebenden Bilder der Gebrüder Lumière in Deutschland statt. Mit dieser einzigen kaufmännischen Entscheidung schrieb Ludwig Stollwerck Film- und Kinogeschichte. (Kranen/Schoor 2016, S. 24)

Als nach dem Ende ihrer Wanderjahre die Kinos sesshaft wurden und in die Innenstädte zogen, gab es in Kölner Kinos spezielle Vorführungen für Kinder, die besonders beworben wurden: "Großer Kindertag! Jedes Kind erhält ein Täfelchen Stollwerck-Schokolade." (StA, 8.10.1907).

Diese Kombination erwies sich als überaus erfolgreich. So verkündete das Union-Theater einige Monate später:

Am vorigen Mittwoch besuchten 2044 Kinder unser Theater. Die mit so großem Beifall aufgenommenen Kindertage, wobei jedes Kind bei ermäßigtem Eintrittspreis von 15 Pfennigen ein Täfelchen Stollwerck-Schokolade erhält, veranlassen uns, diese Woche 4 Kindertage und zwar von Mittwoch bis einschließlich Samstag zu veranstalten. An jedem der vier Tage wird an Kinder ein Täfelchen Stollwerck-Schokolade verabfolgt; außerdem ist in jedem 200. Täfelchen ein Bon zur Empfangnahme eines hübschen Ostereies mit Füllung in eleganter Aufmachung im Wert von 2.50 Mark, geliefert von der Firma Stollwerck, zu finden. (StA, 14.4.1908)

Zum Programm solcher Kindertage gehörten auch Märchenfilme. Der Weltkinematograph G.m.b.H. in Freiburg gehörten zu dieser Zeit 15 Kinematographen-Theater in Deutschland. In ihrer Kino-Kette, zu der auch das erste ortsfeste Kino in Köln gehörte,  lief "zum Entzücken der Kinderwelt" der Film Der kleine Däumling – herrlich koloriert. Nach dem Märchen von Perone zusammengestellt." (StA, 15.4.1909) Die Vorführung des Films Dornröschen wurde zusätzlich beworben mit "Wie belohnt man einem Kinde das artige Betragen? – Durch ein Abonnement im Welt-Kinematograph." (StA, 7.3.1909)

Mit der wachsenden Anzahl der Produktion deutscher Märchenfilme etwa ab 1914 erweiterte sich auch das Programmangebot der Kindertage. Die Kinder mussten nicht mehr mit Schokolade ins Kino gelockt werden. Besondere Vorführungen mit Aktionen für Kinder erwiesen sich allerdings weiterhin als geschäftlich erfolgreich, wie das Beispiel des Kölner Emelka-Theaters zeigt:

Die im Emelka-Theater im Hochhaus veranstalteten Märchenvorstellungen waren alle ausverkauft. Ein Beweis dafür, dass die Art dieser Vorstellungen bei den kleinen Besuchern besonderen Anklang gefunden hat, was auch jeweils während der Vorstellungen durch den nie endenwollenden Applaus, und die erhitzten Gesichtchen der Kleinen besonders gekennzeichnet ist. Die Direktion des Theaters will daher versuchen, jeden Sonntagvormittag den Kleinen diese freudigen Stunden zu bereiten, und bringt am nächsten Sonntag, 1. Dezember, wieder ein hervorragendes Programm mit dem Märchenfilm Schneewittchen und die sieben Zwerge, zu dem ein besonderes Vorspiel auf der Bühne einstudiert wird, wo das Schneewittchen mit den sieben Zwergen p e r s ö n l i c h  z u  s e h e n  s e i n  wird. Außer einer sehr lustigen Groteske und einem Weihnachtsfilm bringt das Programm noch besonders für die kleinen Besucher dressierte Papageien und Kakadus und den amüsanten Zauberkünstler Huberti. (StA 30.11.1929)

Das Ende einer Ära

Ab Mitte der 1920er-Jahre ließ das Interesse an der Produktion neuer Märchenfilmen nach. Alle populären Stoffe waren bereits verfilmt und programmfüllende Filme – wie das Beispiel von Die Abenteuer des Prinzen Achmed beweist – taten sich schwer in der Konkurrenz zu den großen Stars der Ufa in den Kino-Palästen.

Zu einem neuen Ansatz kam es Ende der 1920er-Jahre, als sich einige Filmhersteller wie die Gebrüder Diehl (Ferdinand und Hermann Diehl) und die Märchen-Film Produktion Alfons Zengerling auf den Märchenfilm spezialisierten. Das Trickfilmunternehmen Gebrüder Diehl-Film produzierte in den Jahren 1928-1930 zwar den Animationsfilm Kalif Storch, die meisten ihrer Märchenfilme entstanden jedoch in den dreißiger und vierziger Jahren. Die bekannteste ihrer Figuren ist der 1938 entstandene Igel, der unter dem Namen Mecki berühmt wurde. Ihr Lebenswerk umfasst über 60 Filme, überwiegend reine Puppenfilme, aber auch solche, in denen Puppenaufnahmen mit Realspielszenen kombiniert sind.

Der Produzent Alfons (Alf) Zengerling stellte neben Kultur-, Bildungs- und Dokumentarfilmen für das Kinovorprogramm seit 1923 Märchen- und Jugendfilme her. Seine Filme waren überwiegend Schauspielerfilme, in denen Naturaufnahmen einbezogen wurden. 1928 kam von ihm Schneewittchen auf den Markt. Der Film fand keine besondere Beachtung und lief auch ohne Vorankündigung und Premierenstart in den deutschen Kinos an. Er gilt als erster deutscher Filmproduzent, der den risikoreichen Versuch machte, auf kommerzieller Basis Märchen- und Kinderfilme von Niveau herzustellen. Er verfuhr dabei nach dem Grundsatz, die Texte der Märchen unverändert in seine Filme zu übernehmen, um damit den Kindern die aus den Märchenbüchern vertraut gewordenen Worte leichter in die Bildsprache zu übersetzen.

Mit dem Einbruch des Tonfilms aber verloren sie immer mehr an Märchenstimmung. Das beibehaltene Niveau wirkte nun primitiv, ja sogar kitschig, auf jeden Fall aber unecht und gar nicht mehr märchenhaft. Der Beginn der Tonfilm-Ära bedeutete auch das vorläufige Ende der deutschen Märchenfilm-Produktion. 1929 folgte noch der Kurz-Spielfilm Die Sterntaler. In Ermangelung großer Budgets für Neuverfilmungen synchronisierte Zengerling in den 30er Jahren etliche seiner ursprünglich stumm gedrehten Märchenfilme nach, offensichtlich aber ohne überzeugendes Ergebnis. (Hobsch 2001, S. 3)

Mit Märchen verband man einen geheimnisvollen und naiven Zauber; sprechende Märchengestalten und lebendige Schauspieler wurden als ernüchternd und illusionszerstörend angesehen. Dennoch setzen Spiel- und Tonfilm neue Formen des Märchenfilms durch. (Weinsheimer 2011 S. 415)

Man könnte auch sagen: "Der Zauber war verflogen!" (Hobsch 2001, S. 3)

Literatur / Quellen

  • Babelsberg. Ein Filmstudio 1912 – 1992. Hrsg. von Werner Jacobsen. Stiftung Deutsche Kinemathek. Berlin: Argon Verlag, 1992.
  • Brownlow, Kevin: Pioniere des Films – Vom Stummfilm bis Hollywood. Frankfurt/Main: Deutsches Filmmuseum, 1997.
  • Deutsche Spielfilme von den Anfängen bis 1933. Ein Filmführer. Hrsg. von Günther Dahlke und Günter Karl. Berlin: Henschel, 1988.
  • Endler, Cornelia A.: Es war einmal ... Die Märchenfilmproduktion für den nationalsozialistischen Unterricht. Europäischer Verlag der Wissenschaften. Frankfurt am Main 2006
  • Filmmuseum Potsdam: Deutsch-Französische Filmbegegnungen. Programm-Informationen zur Filmreihe im Herbst 2007. www.filmmuseum-potsdam.de/Geheimnisse-des-Orients.html
  • Giesen, Rolf: Sagenhafte Welten. Der phantastische Film. Heyne Filmbibliothek. München: Heyne, 1990.
  • Hätte ich das Kino! Die Schriftsteller und der Stummfilm. Katalog zur Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach a.N. Hrsg. von Ludwig Greve, Margot Pehle und Heidi Westhoff. München: Kösel, 1976.
  • Hahn, Ronald M./Giesen, Rolf: Das neue Lexikon des Fantasy-Films. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf, 2001.
  • Hanisch, Michael: Auf den Spuren der Filmgeschichte. Berliner Schauplätze. Berlin: Henschel, 1991.
  • Happ, Alfred: Paul Wegener – Geburtshelfer der Filmkünstlerin Lotte Reiniger. In: Animation und Avantgarde / Animation and Avantgarde. Lotte Reiniger und der absolute Film / Lotte Reiniger and Absolute Film. Hrsg. von Stadtmuseum Tübingen. Tübingen: Universitätsstadt Tübingen – Fachbereich Kunst und Kultur, 2015. S. 129-132.
  • Hobsch, Manfred: Deutsche Märchenfilme für das Kino. In: Lexikon des Kinder- und Jugendfilms. Hg. Horst Schäfer. Meitingen: Corian, 2001.
  • Jacobsen, Wolfgang: Frühgeschichte des deutschen Films. In: Geschichte des deutschen Films. Hrsg. von Jacobsen, Wolfgang, Kaes, Anton, Prinzler, Hans Helmut. Stuttgart: Metzler, 1993. S. 13-38.
  • Kalbus, Oskar: Vom Werden deutscher Filmkunst. Berlin 1935
  • Knaurs Buch vom Film. Hrsg. von Rune Waldekranz und Verner Arpe. München und Zürich: Droemersche Verlagsanstalt, 1956.
  • Kracauer, Siegfried: Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1979.
  • Kranen, Marion/Schoor, Irene: Kino in Köln. Von Wanderkinos, Lichtspieltheatern und Filmpalästen. Köln: Emons-Verlag, 2016.
  • Kümmerling-Meibauer, Bettina: Einleitung. In: Filmgenres. Kinder- und Jugendfilm. Hrsg. von Bettina Kümmerling-Meibauer und Thomas Koebner. Stuttgart: Reclam, 2010. S. 9-23. (= Reclams Universal-Bibliothek Nr. 18728).
  • Lamprecht, Gerhard: Deutsche Stummfilme 1903-1912. Berlin: Deutsche Kinemathek, 1961.
  • Lange-Fuchs, Hauke: Das hässlich Entlein und andere Film-Geschichten. Hans Christian Andersen im Film. Dokumentation Nordische Filmtage. Lübeck, 1999.
  • Liptay, Fabienne: WunderWelten. Märchen im Film. Remscheid: Gardez! Verlag, 2004.
  • Marburg, Hessisches Landestheater. Materialsammlung zu "Cinderella", Spielzeit 2014/15.
  • Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium. Hrsg. von Jörg Schweinitz. Leipzig: Reclam Verlag, 1992.
  • Sadoul, Georges: Geschichte der Filmkunst. Wien: Schönbrunn-Verlag, 1957.
  • Schönemann, Heide: Paul Wegener. Frühe Moderne im Film. Stuttgart: Edition Axel Menges, 2003.
  • Sidler, Viktor: Filmgeschichte – ästhetisch – ökonomisch – soziologisch. Von den Anfängen des Films bis zum Tonfilm. Zürich: Universität Zürich, 1982.
  • StA = Stadt-Anzeiger zur Kölnischen Zeitung. Ab 1798 im Verlag M. Dumont Schauberg, Köln. Ab 1949: Kölner Stadtanzeiger
  • Strobel, Christel: Lotte Reiniger. Erfinderin des Silhouettenfilms. Kinderkino. München, 2013
  • Lotte Reiniger. Materialien zu ihren Märchen- und Musikfilmen. Hrsg. von Christel und Hans Strobel. München: Agentur für Primrose Productions, 1993.
  • Thiel, Reinold E.: Puppen- und Zeichenfilm oder Walt Disneys aufsässige Erben. Berlin: Rembrandt-Verlag, 1960.
  • Wegener, Paul: Die künstlerischen Möglichkeiten des Films. Vortrag 1916. 11 S. Maschinengeschriebenes Original mit handschriftlichen Korrekturen und Ergänzungen. Deutsches Filminstitut Estate Paul Wegener – Kai Möller Collection. Unter dem Titel "Neue Kinoziele" auch abgedruckt in: Kein Tag ohne Kino. Schriftsteller über den Stummfilm. Deutsches Filmmuseum Frankfurt 1984, S. 340 f.
  • Weinsheimer, Stefanie: Märchenfilm. In: Reclams Sachlexikon des Films. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage. Hrsg. Von Thomas Koebner. Stuttgart: Reclam, 2011. S. 415-417.

Filmliste (Auswahl) (*)

1899 Cendrillon – B und R Georges Méliès – 120 m

1910 Das Mädchen mit den Schwefelhölzern – R Gebhard Schätzler-Perasini K Guido Seeber. 120 m

1910 Die Spinne. Ein Märchen-Trickfilm – R und B Charles Decroix D Claire Kretschmer. 185m

1914 Aschenbrödel – R und B Urban Gad D Asta Nielsen. 3 Akte. 864 m

1914 Hans im Glück. Humoristisch – R Nunek Danuky

1915 Aschenbrödel – Das Volksmärchen – R Hans Oberländer

1916 Rübezahls Hochzeit. Regie/Buch/Darsteller: Paul Wegener. Titelsilhouetten: Lotte Reiniger. Produktion: Produktions AG Union Berlin5 Akte. 1264 m.

1917 Dornröschen – R und Ba Paul Leni – 4 Akte 1315 m – Zwischentitel in Versform. Rudolf Presber D Harry Liedtke, Käthe Dorsch, Mabel Kaul (als Dornröschen)

1917 Hans Trotz im Schlaraffenland – R, B und D Paul Wegener

1918 Der Rattenfänger von Hameln – R, B und D Paul Wegener -  5 Akte 1749 m. Titelsilhouetten: Lotte Reiniger

1920 Der verlorene Schatten – R Rochus Gliese, B Paul Wegener – Silhouetten Lotte Reiniger – Pr Produktions AG Union Berlin – 5 Akte 1755 m

1920/21 Der kleine Muck – R Wilhelm Prager – B Johannes Meyer, Wilhelm Prager – 5 Akte 1734 m - Pr Kulturabteilung der Ufa

1921 Tischlein deck dich, Eselein streck dich, Knüppel aus dem Sack. Ein Märchenfilm. B Wilhelm Prager – 4 Akte 1320 m – Pr Kulturabteilung der Ufa

1921 Der fliegende Koffer – Silhouettenfilm von Lotte Reiniger nach dem Märchen von Hans Christian Andersen. Mitarbeiter Carl Koch Pr Institut für Kulturforschung – 9 Min

1922 Der falsche Prinz – R Wilhelm Prager – Pr Kulturabteilung der Ufa – 4 Akte 1445 m

1923  Der verlorene Schuh – R und B Ludwig Berger – 5 Akte 2349 m – nach dem Aschenputtelmärchen mit Motiven von E.T.A. Hoffmann und Brentano

1924 Armes kleines Mädchen – R Ulrich Kayer – B Paul Reno – 3 Akte 819 m – nach Andersens "Mädchen mit den Schwefelhölzern" (u.a. mit Fritz Kortner)

1925 Das Mädchen mit den Schwefelhölzern – R Guido Bagier B Hanns Kyser – 1 Akt 506 m. Dieser Film war ein nach dem Tri-Ergon Verfahren aufgenommener Tonfilm. Er war infolge technischer Mängel ein Misserfolg – P Tri-Ergon-Film der Ufa

1924-26 Die Abenteuer des Prinzen Achmed – Ein Silhouettenfilm von Lotte Reiniger – 5 Akte 1811m

1928 Schneewittchen – R und B Aloys Alfons Zengerling – 6 Akte 1930 m – P Märchen-Film-Produktion GmbH Berlin

1928 Geheimnisse des Orients. Ein Prunkfilm – R Alexander Wolkoff  - 12 Akte – 3105 m

1929 Dornröschen – R Carl Heinz Rudolph B Ludwig Aechter – 6 Akte 1842 m. Titel in Versen

1929 Das kalte Herz – Nach dem Märchen von Wilhelm Hauff – 5 Akte 2186 m. P Mercedes-Film München

1929 Die Sterntaler – Pr Märchen-Film Produktion Alfons Zengerling – 1 Akt – 366 m


(*) Die Dauer eines Films ist abhängig von seinem Format, seiner Länge und der Vorführgeschwindigkeit (18, 24 oder 25 Bilder pro Sekunde). Vergleiche mit Filmen von heute sind daher nur Annäherungswerte. Bei dem Kinderfilm-Klassiker Drei Haselnüsse für Aschenbrödel (DDR/CSSR 1974) ist mit einer Länge von 2354 m eine Laufzeit von 86 Min. angegeben. (Das große Lexikon der DEFA-Spielfilme. Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, Berlin 2000, S. 120)

Weiterführende Lektüre und Quellenhinweis:


Dieser Beitrag ist eine ausführlichere Fassung von

Schäfer, Horst: Verkannt, vergessen, verschollen: Märchen-Stummfilme in Deutschland. In: Märchen im Medienwechsel. Hrsg. von Ute Dettmar, Claudia Maria Pecher und Ron Schlesinger. Stuttgart: Metzler, 2017. S. 59-84.