Explikat
Dystopien der aktuellen Jugendliteratur orientieren sich an klassischen Dystopien von Huxley, Orwell, Bradbury und Atwood, greifen Aspekte aus den Texten auf, verweisen auf diese Texte und ergänzen sie. Doch anders als die Klassiker der dystopischen Literatur schreiben die Autoren/innen für ein jugendliches Publikum und greifen somit auch Aspekte aus der Adoleszenzliteratur, dem Liebes-, Entwicklungs- und Abenteuerroman auf. Ein dystopischer Gesellschaftsentwurf kann dazu dienen, Gesellschaften zu kritisieren, aber er kann auch die adoleszenten Problemfelder der jugendlichen Protagonisten/innen aufgreifen. Tatsächlich bietet die Dystopie als mahnende Literatur viele Ansatzpunkte, die Probleme Heranwachsender zu thematisieren und kann somit nicht nur als eine Warngeschichte verstanden werden (vgl. Glasenapp 2003/2012), sondern auch als Adoleszenzliteratur. Im Mittelpunkt der Romane stehen Jugendliche, die sich nicht nur gegen das Regime erheben, nach alternativen Gesellschaftsformen streben, sondern auch eine eigene Identität entwickeln, sich gegen ihre Familien stellen und letztendlich im Laufe der Handlung erwachsen werden. Somit erhalten Dystopien als Lektüre unterschiedliche Bedeutungen: Einerseits lassen sie sich trotz aller Kritik (vgl. Schweikart 2012) als gesellschaftskritische Texte lesen, andererseits ermöglichen solche literarischen Texte "ihren Lesern Erfahrungen, die für seine persönliche Entwicklung und seine Interaktion mit der Gesellschaft von hoher Bedeutung sein können"(Leubner/Saupe 2010, S. 28).
Der vorliegende Beitrag unterscheidet zwei Gruppen von Dystopien:
(1) die ökologische Dystopie (z. B. Die Wolke, Die letzten Kinder von Schewenborn, Die Welt, wie wir sie kannten, Euer schönes Leben kotzt mich an, Die Verlorenen von New York).
Die ökologische Dystopie greift den ökologischen Diskurs auf, zeigt, welche Folgen atomare oder Umweltkatastrophen haben, benennt teilweise klar Schuldige und spielt in einer nahen Zukunft. Die zweite Gruppe steht in der Tradition der Dystopien von Wells, Huxley, Bradbury und Atwood, entwirft eine düstere Zukunft, bleibt jedoch hinsichtlich bestimmter Fragestellungen auch der Zeitdiagnostik verpflichtet.
Dystopien oder auch Anti-Utopien zählen, so Schweikart in seinem Aufsatz Nur noch kurz die Welt retten. Dystopien als jugendliterarisches Trendthema (2012), "zu einer Subgattung der literarischen Utopie" (Schweikart 2012, S. 4). Utopien zeichnen bekanntlich ein positives Zusammenleben und entwerfen harmonische Gesellschaftsformen. Anti-Utopien bzw. Dystopien zeichnen dagegen ein anderes Bild:
"Anders als in der Utopie wird hier die Zukunftsvorstellung in ein Bild des Schreckens gekleidet, welches erst durch die konsequente Weiterentwicklung der gegenwärtigen Missstände entstehen kann." (Kirchner 2009, hier zit. nach Schweikart 2012, S. 4)
Dystopien, so Gabriele von Glasenapp, "dienen im erheblichem Maße […] dazu, Missstände, Ängste und Übel der jeweiligen Gegenwart zu spiegeln" (Glasenapp 2003, S. 14). Daher verwundert es nicht, dass die Anti-Utopie innerhalb der Kinder- und Jugendliteratur entstanden ist, als sich der problemorientierte Jugendroman als realistisch-kritisches Genre durchsetzen konnte, d. h. in den 1970er Jahren. Ähnlich wie im problemorientierten Jugendroman werden auch in Dystopien die jugendlichen Leser/in mit Gesellschaftskritik konfrontiert, wobei sich die Themen im Laufe der letzten vierzig Jahre gewandelt haben.
Im Mittelpunkt der Dystopien steht ein Einzelschicksal: Waren es in den klassischen Dystopien wie Brave New World oder 1984 männliche Helden, so sind es in aktuellen (jugendliterarischen) Dystopien vor allem junge Frauen, die sich gegen autoritäre Gesellschaftsmodelle erheben und überleben. Die Hauptfigur fühlt sich bereits zu Beginn der Handlung anders – und zwar sowohl in der 'anerkannten' Gesellschaftsform, aber auch innerhalb der Gruppe der Außenseiter – und findet außerhalb beider Gesellschaftsmodelle Verbündete. Die aktuellen Dystopien wollen eine tradierte Schwarz-Weiß-Malerei verlassen und zeigen, dass selbst jene Lebensmodelle, die außerhalb der Gesellschaft existieren, diese kritisieren und hinterfragen, mit hierarchischen Strukturen arbeiten und es ebenfalls um Macht und Herrschaft geht. Daher sind, wie etwa in der Panem-Trilogie, es die Jugendlichen selbst, die einen anderen, und damit einen dritten gesellschaftlichen Entwurf finden. In der Rolle der Jugendlichen spiegelt sich jedoch ein utopische Charakter der Texte wider und die entworfenen Helden bieten sich nicht nur als Identifikationsfiguren an, sondern besitzen Mut, der die Leser zum Nachahmen animieren soll.
Geschichte der Dystopie in der Jugendliteratur
Dystopien sind seit den 1970er Jahren fester Bestandteil der modernen Jugendliteratur. Bereits in Michael Endes Momo (1973) finden sich Aspekte jener Entindividualisierung, die auch heutige Dystopien charakterisiert und sich auch in der Kleidung widerspiegelt. Die Gefahren der atomaren Energie schildern neben Robert C. O’Briens Z wie Zacharias (1977) insbesondere die Romane von Gudrun Pausewang: Die letzten Kinder von Schewenborn (1983) und Die Wolke (1987) gehören mittlerweile zu Klassikern der dystopischen (Jugend-)Literatur. Aber auch Überwachung und totalitäre Gesellschaftsformen sind keine (literarische) Erfindung der aktuellen Dystopien, sondern werden bereits in Reinhold Zieglers Version 5 Punkt 12 (1997) oder in Lois Lowrys Hüter der Erinnerung (1994) geschildert. Weitere Themen in den 1990er Jahren waren dann Klonen und gentechnische Experimente, von denen u.a. Romane wie Geboren 1999 (1989) oder Blueprint – Blaupause (1999) von Charlotte Kerner erzählen.
Die ökologische Dystopie nach 2000
Beispielhaft werden hier die Moon-Reihe mit den Werken Die Welt, wie wir sie kannten, Die Verlorenen von New York und Das Leben, das uns bleibt von Susan Beth Pfeffer sowie Euer schönes Leben kotzt mich an vorgestellt: Beide lassen sich als Vertreter bestimmter Erklärungsmuster der Umweltzerstörung lesen: Während Pausewang und auch Lloyd ganz klar Schuldige der Umwelt- bzw. atomaren Katastrophe benennen und damit die Elterngeneration offen angreifen, wird in der Moon-Reihe die Umweltkatastrophe nicht als eine von Menschen herangeführte Katastrophe entworfen. Hinzu kommen noch Romane, die u.a. auch Fragen nach Ökoterrorismus zur Diskussion stellen.
In Die Welt wie wir sie kannten, also dem ersten Teil der Moon-Reihe, tritt die Protagonistin Miranda als Ich-Erzählerin auf und schildert ihr Leben und das ihrer Familie vor und während der Katastrophe. Sie lebt mit ihrer Mutter, ihrem jüngeren Bruder in einer Kleinstadt in Pennsylvania. Ihr älterer Bruder Matt ist auf dem College, ihr Vater hat erneut geheiratet und erwartet mit seiner jetzigen Frau Nachwuchs. Als Katastrophe wird der Aufprall eines Asteroiden auf den Mond geschildert. Der Mond gerät aus seiner natürlichen Umlaufbahn und damit verändert sich u. a. auch die Wetterlage auf der Erde. Miranda erlebt die Katastrophe auf dem Land, während der zweite Band, Die Verlorenen von New York, zeigt, wie Menschen in der Stadt leiden und hungern. Erzählt wird aus der Sicht des 17-jährigen Alex, der sich um seine beiden Schwestern Bri und Julie kümmern muss. Seine Mutter ist auf dem Weg zur Arbeit als die Katastrophe beginnt, wahrscheinlich in der U-Bahn ertrunken und ihr Vater ist auf der Beerdigung seiner Mutter in Puerto Rico. Auch hier fehlt ein Lebenszeichen und nach und nach muss sich Alex eingestehen, dass auch der Vater nicht mehr lebt. Alex überlebt, denn er hat einerseits einen starken Glauben, andererseits helfen ihm die Menschen aus seiner Gemeinde und Schule.
Pfeffers Romane können hoffnungsvoll bezeichnet werden und die Besinnung auf bestimmte Werte ist offensichtlich: Während im ersten Band vor allem die Familie als Rückzugsort positiv besetzt ist, so ist es im zweiten Band der Glaube von Alex, der zwar zwischendurch ins Wanken gerät und doch sind es immer wieder die Priester oder Nonnen, die ihm und seinen Schwestern helfen. Sie sind es dann auch, die ihm und Julie nach dem Tod von Bri den Auszug aus der Stadt ermöglich. Kritisch dagegen wird der Reichtum der Menschen betrachtet. Sowohl Alex als auch Miranda wachsen an den Aufgaben, verändern sich im Laufe der Handlung und werden zu vernünftigen, altruistischen Wesen, wobei Alex im Vergleich zu Miranda von Beginn an wesentlich vernünftiger konzipiert ist.
In Euer schönes Leben kotzt mich an (dt. 2010, engl. 2009) von Saci Loyd wird die Frage der Umweltzerstörung etwas differenzierter betrachtet. Auch hier ist die Welt nach einem "Großen Sturm" nicht gänzlich zerstört, aber doch so stark, dass sich die Lebensführung der Menschen – insbesondere in Großbritannien – verändert. Erzählt wird die Geschichte von der 16-jährigen Laura. Laura dokumentiert die Veränderungen in ihrem Tagebuch, das ein Jahr umfasst und zeigt, wie sich ihre Familie behaupten muss. Anders als in den Romanen von Susan Beth Pfeffer, aber auch in den Romanen von Gudrun Pausewang, ist Laura keine wirkliche Heldin. Sie leidet unter den Veränderungen und hebt nicht nur hervor, dass jetzt ihr Leben gänzlich anders ist, sondern zeigt auch die Machtlosigkeit der Erwachsenen, die alle samt schwach erscheinen. Hinzu kommen jedoch auch ganz klassische Probleme von Jugendlichen wie unerwiderte Liebe, Konflikte mit Erwachsenen, Identifikationsfragen, die einen breiten Raum in den Tagebucheinträgen einnehmen. Insofern können alle drei Romane auch als Adoleszenzliteratur bezeichnet werden.
Während in Die Welt, wie wir sie kannten die Umweltkatastrophe nicht von Menschenhand gemacht wurde, so ist in Euer schönes Leben kotzt mich an klar, wer die Verantwortung trägt. Es ist die Elterngeneration, die gar nichts getan hat und auch jetzt wenig tut und fast kopf- und machtlos nach Lösungen sucht. Sie suchen Lösungen im religiösen Wahn oder in der Gartenarbeit, ohne jedoch sich selber der Verantwortung zu stellen. Der Roman nimmt Zeitungsnotizen auf, in denen zudem auch die Machtlosigkeit der Politiker gezeigt wird und der Protest der Menschen, der sich immer mehr radikalisiert und schließlich in bürgerkriegsähnlichen Schreckensszenarien endet.
Die Handlung ist im Jahr 2015 angesiedelt. Die britische Regierung beschließt, gesetzlich den CO2-Verbrauch zu reduzieren. Man bekommt eine CO2-Karte, muss seinen Verbrauch notieren und berechnen. Im Mittelpunkt steht Laura, die in ihrem Tagebuch die Veränderungen festhält und reflektiert. Die Rationierung erfolgt auch hier nach einer Umweltkatastrophe, denn ein Sturm hat weite Teile Englands zerstört und so die Lebensmittelknappheit beschleunigt: Die Elterngeneration hat, so zeigt es der Roman, Schwierigkeiten, sich der neuen Situation, u. a. dem Energiesparen und der Notwendigkeit, sich an die neuen Gegebenheiten anzupassen und auf bestimmte Hobbys zu verzichten. Ähnlich wie in dem Roman Die Welt, wie wir sie kannten müssen sich die Erwachsenen erst zurechtfinden und ihre neue Rolle definieren.
Lloyd entwirft anders als Pfeffer die Familie nicht als den Hort des Zusammenhaltes, sondern zeigt, wie eine Familie zerbricht und erst nach und nach wieder zusammenfindet.
Die Welt Jahrzehnte bzw. Jahrhunderte nach der Katastrophe
Dystopien dieser Gruppierungen thematisieren nicht die unmittelbare Katastrophe, sondern entwerfen ein Leben, dass in der Zukunft verortet ist und neue Gesellschaftsmodelle vorstellt. Ihnen gemeinsam ist die Entidividualisierung des Einzelnen, denn erst der Einzelne, so das Credo der Machthaber der neuen Gesellschaftsform, ist für die vergangenen Katastrophen verantwortlich. Eine Gleichheit bzw. Gleichförmigkeit schafft dagegen längerfristigen Frieden und Sicherheit. In allen hier vorgestellten Dystopien basieren die Gesellschaftsmodelle auf Macht einzelner Gruppen, die bewusst der Bevölkerung Wissen vorenthalten, Literatur und Musik verbieten. Die Vielzahl der Romane lässt sich in drei Gruppen einteilen:
1) Totalitarismus (u.a. Dark Canopy, Godspeed, Panem-Trilogie, Amor-Trilogie)
2) "Schöne neue Welt" (u.a. Ugly-Tetralogie, Cassia & Ky-Trilogie)
3) Vormoderne Gesellschaftsformen (u.a. Ashes-Trilogie, Eden-Trilogie)
Weitere in den Romanen behandelten Themen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Pervertierung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts; außer Kontrolle geratene Technik; völlige Manipulation des Individuums sowie totale Überwachung. Hinzu kommt auch eine kulturökologische Sicht auf die Natur, die in den Büchern sowohl als kultivierter (Natur-)Raum entworfen ist, der für den angepassten Menschen Sicherheit samt gleichzeitiger Überwachung bedeutet, als auch als wilde Natur, in der die Menschen fernab der Zivilisation leben und in der sie mit zahlreichen Gefahren konfrontiert werden. Insbesondere dieser Lebensraum wird von den Rebellen besetzt, deren Wildheit, die ihnen von der herrschenden Masse attestiert wird, mit der Wildheit der Natur korrespondiert.
Während in den klassischen Dystopien von Huxley, Bradbury und Orwell der männliche Held die Gesellschaft hinterfragte und letztendlich scheiterte, sind es in den jugendliterarischen Dystopien Heldinnen, die die Gesellschaft hinterfragen und tatsächlich auch Veränderungen schaffen. Eines der wichtigsten Charakteristika der Hauptfiguren der Dystopien ist somit: Die Hauptfiguren sind weiblich, fühlen ihre Andersartigkeit und stellen das System in Frage. Zugleich fällt ihr Gefühl der Andersartigkeit auch in den Bereich der Pubertät, denn alle hier vorgestellten Mädchenfiguren sind mitten in der Pubertät. Die Geschichte wird zudem mit einem "love interest" ausgestattet, so dass das Mädchen oftmals von einer männlichen Figur aufgeklärt und so zur Gegnerin der Gesellschaft wird.
Gesellschaftsformen
Totalitarismus
Die Gesellschaft, so deuten es zumindest Dystopien wie die Amor- und Panem-Trilogie, aber auch Godspeed oder Dark Canopy an, funktioniert nur dann, wenn alle Menschen ihrer Individualität beraubt, kontrolliert werden und ein fremdbestimmtes Leben führen. In der Regel werden den Menschen Nahrungsmittel zugeteilt, die medizinische Vorsorge ist ebenso gewährleistet wie die Berufs- und Partnerwahl. Die Partner werden nach komplizierten Parametern ausgesucht, so dass einer glücklichen Ehe wenig im Wege steht. Biologische Familien geraten dabei in den Hintergrund und auch eine Anklage an die Elterngeneration fehlt. Insbesondere in der Darstellung der Familie deuten sich somit Unterschiede an zu den vorgestellten ökologischen Dystopien. In Die Verratenen von Ursula Pozananski, in denen Kinder überwiegend in Vitro gezeugt sind, heißt es:
"'Familien', erkläre ich Quirin dennoch, 'werden überschätzt. Eltern stehen ihren eigenen Kindern zu nah, um sie optimal fördern zu können. Bei uns war das anders und es war gut.' "(Poznanski 2012, S. 390)
In den totalitären Dystopien wachsen die Jugendlichen in Gemeinschaften auf, sind oftmals nicht auf biologischem Wege gezeugt. Damit existiert keine enge Verbindung zu der Familie, sondern vielmehr zum Staat. In der Regel gibt es in den Erzählungen eine Gemeinschaft, die den Staat bildet und befürwortet, und eine Gemeinschaft der Anderen bzw. der Ausgestoßenen, die gegen den Staat kämpfen:
"Die Welt außerhalb der Biosphäre nannten sie die 'Todeszone'. Dort draußen gab es eine Million Möglichkeiten, sein Leben zu verlieren. Aria hätte nie geglaubt, dass es für sie einmal so eng werden würde." (Rossi 2012, S. 7)
Die Gemeinschaft der Befürworter lebt ein geordnetes Leben, gehört oftmals zu der Elite bzw. den Hochbegabten. Gemeinsam ist ihnen, dass sie keine Zweifel an der Gesellschaft hegen. In der Tat ist die Welt außerhalb der sicheren Zonen zerstört und, so wird es zumindest den Einwohnern der Zonen suggeriert, eine Gesellschaftsform existiert dort nicht: Es herrscht Gewalt. Die Bewohner der Zonen außerhalb werden als Barbaren, Wilde oder Primitive wahrgenommen: Ihre Welt ist nicht hochtechnisiert, sie sind weniger gebildet und werden daher kaum akzeptiert. Doch die Menschen außerhalb der Zonen haben ihre Individualität nicht verloren, werden nicht kontrolliert und erscheinen daher freier.
Die Schauplätze, in denen die neuen Gesellschaftsformen angesiedelt werden, sind den Lesern/innen bekannt: Nordamerika – etwa Chicago –, aber auch Köln, Augsburg, New York oder Wien.
Einen etwas anderen Weg beschreitet die deutschsprachige Dystopie Dark Canopy (2012) von Jennifer Benkau: Nicht mehr Menschen regieren und beherrschen die Welt, sondern ihre Klone, so genannte Percents. Sie wurden geschaffen, um Menschen zu schützen und zu retten. Sie wurden in Kriegen eingesetzt und ihre Körper als Spender missbraucht. Doch sie haben sich gewehrt, die Herrschaft erobert und üben jetzt brutal ihre Macht aus: Menschen werden wie Sklaven behandelt, Frauen als Spielzeug oder als Dienerinnen. Innerhalb der Städte bestimmen sie also das Leben, außerhalb der Städte haben sich Rebellen zu Clans zusammengetan, um gegen die Percents zu kämpfen. Doch der Kampf der letzten Jahre war zermürbend und mittlerweile sind die Rebellen in einen fast lethargischen Zustand verfallen. Auch die Trilogie Godspeed der us-amerikanischen Autorin Beth Ravis entwirft eine Gesellschaft, die auf totalitärer Herrschaft beruht. Der erste Teil – Godspeed. Die Reise beginnt – setzt in der unmittelbaren Gegenwart ein, also irgendwann zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Das etwa 17-jährige Mädchen Amy schildert, wie ihre Eltern beschlossen haben, sich einfrieren zu lassen, um auf das Raumschiff Godspeed zu gehen und in dreihundert Jahren auf einem neuen Planeten aufzuwachen. Sie überlassen es Amy, ihnen zu folgen oder ihr Leben auf der Erde ganz normal weiterzuführen. Amy entscheidet sich, ihren Eltern zu folgen und auf den nächsten Seiten lesen wir, wie sie eingefroren wird und einen langen Schlaf durchlebt. Rund 250 Jahre später wird sie jedoch aufgetaut und muss sich auf dem Schiff zurecht finden. Die Menschen auf dem Schiff werden in Gruppen eingeteilt, bekommen unterschiedliche Aufgaben und folgen ihren Anführer ohne Widerspruch. Wer andere Gedanken äußert, bekommt Medikamente und wird im Krankenhaus untergebracht. Während Amy gerade diese Menschen als 'normal' empfindet, gelten sie auf der Godspeed als verrückt. Erst nach und nach zeigt sich, dass die Gesellschaft nur funktioniert, weil drastische Mittel eingesetzt werden. Das, was Menschen, nämlich der freie Wille und das eigenständige Denken, charakterisieren, wird jedoch abgelehnt bzw. den Menschen erst gar nicht ermöglicht. Nur so funktioniert eine Gesellschaft, so der Anführer des Schiffes, auf dem engen Raum. Zugleich wurden hier Menschen 'gezüchtet', die gleich sind: Unterschiede sind gefährlich und führen zu Kriegen, auch das ist eine Lehre des Anführers, die er immer wieder Junior predigt.
Die Entwertung menschlicher (Liebes-)Beziehungen wird in der Amor-Trilogie mit den Bänden Delirium und Pandemonium von Lauren Oliver radikalisiert. Diese Romane können sicherlich als Extrembeispiel im Kontext der romantischen Dystopie betrachtet werden. Im Mittelpunkt steht das Mädchen Lena, die als Ich-Erzählerin auftritt, und den Lesern einen Blick in ihre Alltagswelt gestattet. Sie ist 17 Jahre alt und steht genau fünfundneunzig Tage vor dem Eingriff, der am 3. September, ihrem Geburtstag, stattfinden soll. Der Eingriff soll sie vor der Krankheit 'amor deliria nervosa' schützen, also vor der Krankheit Liebe, die verantwortlich gemacht wird für Kriege, Hass und Elend. Der Eingriff, der sie immun macht gegen unterschiedliche Liebeserfahrungen, soll Lena ein glückliches Leben ermöglichen. Tatsächlich glaubt Lena, dass ein solcher Eingriff ein besseres Leben ermöglicht und die Menschen einander nicht nur näher bringt, sondern sie gleich macht und somit zahlreiche Probleme überwindet:
"Ich bin froh, dass jemand anders die Wahl für uns trifft. Ich bin froh, dass ich nicht selbst wählen muss – aber in erster Linie bin ich froh, dass ich nicht jemand anderen dazu bringen muss, mich auszuwählen. Für Hana wäre es natürlich kein Problem, wenn die Dinge immer noch so wären wie in den alten Zeiten." (Oliver 2011, S. 29)
Fast alle Menschen lassen solche Eingriffe durchführen. Wer sich wehrt, wird verhaftet und gilt als gefährlich. Bis zu ihrem Eingriff, der alle Empfindungen zerstört, werden Jungen und Mädchen getrennt erzogen und Begegnungen zwischen den Geschlechtern sind streng untersagt. Später können sich die Menschen nicht mehr verlieben, weder Schmerzen noch Glück empfinden. Sie leben in einer Art 'Wattebausch', erleben eintönige Tage, bekommen einen Partner zugewiesen. Die Regierungen kontrollieren, ob sich die Menschen auch 'richtig' benehmen: Nach dem Eingriff lachen sie kaum, zeigen keine Spontaneität und vergessen auch ihr Leben und ihre Freunde vor dem Eingriff.
Schöne neue Welt
"Noch nie zuvor ist eine Gesellschaft der Perfektion so nahe gekommen." (Condie 2011, Band 1, S. 143): Dieses Zitat charakterisiert eine mögliche Gesellschaftsform, die den Aspekt der schönen neuen Welt, wie sie bereits Huxley in seinem Roman Brave New World (dt. Schöne neue Welt) aufgenommen hat. Entworfen wird eine perfekte Welt, die zwar totalitäre Züge trägt, diese jedoch hinter einer Ordnung und auch einer Unterhaltungsindustrie versteckt werden.
In der Ugly-Reihe von Scott Westerfeld werden nicht nur die Menschen in einer sicheren Welt gezeigt, sondern sie werden mit 16 bzw. 17 Jahren einer Schönheitsoperation unterzogen, um Neid und Missgunst zu unterbinden. Die Operationen erfolgen nach bestimmten Schönheitsvorstellungen. Nach einer erfolgreichen OP genießen die Menschen ein erfülltes Partyleben, sind beruflich erfolgreich und zufrieden. Sie leben in der Stadt "New Pretty Town" (Westerfeld 2005, S. 7), in der sie ein, so zumindest der erste Eindruck, ein erfülltes Leben führen. Die Schönen leben in einer bunten und fröhlichen Gesellschaft, während die Hässlichen außerhalb dieser Welt auf ihre Schönheitsoperation vorbereitet werden. Erst nach und nach wird der Protagonistin Tally deutlich, dass Hässlichkeit nicht wirklich existiert, sondern von der Gesellschaft definiert und konstruiert wird. Schönheit bedeutet zugleich den Verlust der Individualität, und damit der eigenen Identität. Mittels Drogen werden die Menschen in einen tranceähnlichen Zustand versetzt und leben in einer oberflächlichen Welt, in der vor allem der Spaß dominiert.
Auch die Trilogie Cassia & Ky von Ally Condie entwirft zwar eine Gesellschaft, die totalitäre Züge trägt, zumindest noch im ersten Band Cassia & Ky. Die Auswahl erinnert an Huxleys Brave New World: Auch hier wird jeder Aspekt des Lebens kontrolliert: Ernährung, Partnerwahl, Sterben, Kleidung und Beruf. Trotzdem wirken die Menschen glücklich und zufrieden. Auch sie besitzen keine Individualität, sondern handeln wie Marionetten.
Vormoderne Gesellschaftsentwürfe
Nach der Katastrophe können sich gesellschaftliche Modelle entwickeln, die sich zwar totalitärer Muster bedienen, die jedoch auch Strukturen aus früheren Epochen aufgreifen. Insbesondere das Geschlechterverhältnis verändert sich in diesen Romanen, denn während sowohl die Dystopien mit totalitären Systemen als auch jene mit "schönen" Welten eine Gleichberechtigung der Geschlechter praktiziert wird, so greifen die Romane, die zu dieser Gruppierung zugerechnet werden können, patriarchale, aber auch matriarchale Muster auf und zeigen, wie ein 'gendertrouble' in der Zukunft entworfen werden könnte.
In seiner Trilogie Das verbotene Eden zeigt Thomas Thiemeyer eine radikale Veränderung der Gesellschaftsordnung: Nach dem Freisetzen eines Virus entstand ein Kampf der Geschlechter. Seit fast 70 Jahren leben Männer und Frauen getrennt. Ein gemeinsames Leben existiert nicht und doch wird im Laufe der Trilogie angedeutet, dass es noch versteckte Formen gibt, in der das Miteinander der Geschlechter funktioniert.
Beide Geschlechter entsprechen bekannten tradierten Rollenmustern: Das Weibliche symbolisiert das Natürliche, lebt im Einklang mit der Natur, kennt sich in Heilkunde aus und betet zu Naturgöttinnen. Die Frauen leben in der Natur und sind auch diejenigen, die die Natur mit Erfolg bewirtschaften. Die Männer dagegen leben in den zerstörten Städten, sind stark religiös geprägt und äußerst brutal. Sie respektieren die Natur nicht, aber auch nicht die Gesetze, die nach der Trennung der Geschlechter erfolgt.
In der Trilogie Ashes von Lisa J. Bick ist die Situation eine andere: Die Hauptfigur Alex zieht sich in die Natur zurück, um über ihr Leben und ihre unheilbare Krankheit nachzudenken. Während ihrer Wanderung geschieht eine Katastrophe, die die Menschheit ausrottet und die nur die Alten und Jungen überleben. Bis auf wenige Ausnahmen sind alle zwischen 20 und 60 verstorben. Die Ursachen der Katastrophe werden nicht erläutert, aber die Auswirkungen. Junge Menschen mutieren, ernähren sich von Menschenfleisch, alte Menschen werden gesund und möchten die Welt beherrschen. Alex kommt in das Dorf Rule, das von alten Männern beherrscht wird. Entworfen wird eine Gesellschaft, die nicht nur patriarchale Strukturen aufgreift, sondern stark von dem fundamentalistischen Glauben der Männer geprägt ist. Jüngere Frauen und Mädchen werden als Gebärmaschinen betrachtet, sollen mit den jungen Männern verheiratet werden uns den Fortbestand der Gesellschaft sichern.
Fazit
Die Dystopie boomt und da die meisten Bände als Mehrteiler konzipiert sind, ist ein Ende noch lange nicht in Sicht. Die hier vorgestellten Dystopien stehen in der literarischen Tradition eines Orwells oder Huxleys. Die Dystopien, das zeigt die Auswahl, thematisieren neben Problemen des Aufwachsens und damit gängige jugendliterarische Themen, auch das Thema der Andersartigkeit und des Umgangs mit Andersartigkeit.
Wichtig erscheint mir zudem, dass nach einer phantastischen Kinder- und Jugendliteratur mit Vampiren, Hexen und anderen fantastischen Wesen, der Überspitzung der romantischen Liebe, jetzt erneut eine gesellschaftskritische und problemorientierte Jugendliteratur den Markt erobert, die in der Tradition der Aufklärung steht.
Bibliografie
Primärliteratur
- Benkau, Jennifer: Dark Canopy. Bindlach: Script5, 2012; Bick, Ilsa J.: Ashes. Brennendes Herz. Köln: INK Egmont, 2011.
- Bick, Ilsa J.: Ashes. Tödliche Schatten. Köln: INK Egmont, 2012.
- Condie, Ally: Cassia & Ky. Die Auswahl. Frankfurt am Main: FJB, 2011; Condie, Ally: Cassia & Ky. Die Flucht. Frankfurt am Main: FJB, 2012.
- Condie, Ally: Cassia & Ky. Die Ankunft. Frankfurt/Main: FJB, 2013; Lloyd, Caci: Euer schönes Leben kotzt mich an. Ein Umweltroman aus dem Jahr 2015. Würzburg: Arena, 2010.
- Oliver, Lauren: delirium. Hamburg: Carlsen, 2011.
- Oliver, Lauren: Pandemonium. Hamburg: Carlsen, 2012.
- Pausewang, Gudrun: Die letzten Kinder von Schewenborn. Ravensburg: Maier, 1987.
- Pausewang, Gudrun: Die Wolke. Ravensburg: Ravensburger Buchverlag, 1997.
- Pfeffer, Susan Beth: Die Welt, wie wir sie kannten. Hamburg: Carlsen, 2010.
- Pfeffer, Susan Beth: Die Verlorenen von New York. Hamburg: Carlsen, 2011.
- Pfeffer, Susan Beth: Das Leben, das uns bleibt. Hamburg: Carlsen, 2012.
- Poznanski, Ursula: Die Verratenen. Bindlach: Loewe, 2012.
- Ravis, Beth: Godspeed. Die Reise beginnt. Hamburg: Dressler, 2011.
- Ravis, Beth: Godspeed. Die Suche. Hamburg: Dressler, 2012.
- Rossi, Veronica: Gebannt. Unter fremden Himmel. Hamburg: Oetinger, 2012.
- Roth, Veronica: Die Bestimmung. München: Cbt, 2012.
- Thiemeyer, Thomas: Das verbotene Eden. David und Juna. München: Pan, 2011.
- Thiemeyer, Thomas: Das verbotene Eden. Logan und Gwen. München: Pan, 2012.
- Westerfeld, Scott: Pretty – Erkenne dein Gesicht. Hamburg: Carlsen, 2007.
- Westerfeld, Scott: Ugly – Verlier nicht dein Gesicht. Hamburg: Carlsen, 2007.
- Westerfeld, Scott: Special – Zeig dein wahres Gesicht. Hamburg: Carlsen, 2011.
- Westerfeld, Scott: Extra – Wer kennt dein Gesicht. Hamburg: Carlsen, 2012.
Forschungsliteratur
- Ökologische Transformationen und literarische Repräsentationen. Hrsg. von Maren Ermisch, Ulrike Kruse und Urte Stobbe. Göttingen: Universitätsverlag, 2010.
- Glasenapp, Gabriele von: Alptraum Zukunft. Die Risikogesellschaft und ihre literarischen Utopien. In: Anderswelt in Serie. Hrsg. von Roswitha Terlinden und Hans-Heino Ewers. Tutzinger Materialien Nr. 89. S. 9-28.
- Glasenapp, Gabriele von: Apokalypse now! Future-Fiction-Romane und Dystopien für junge LeserInnen. Unveröffentlichter Vortrag, 2012.
- Goodbody, Axel: Literatur und Ökologie: Zur Einführung. In: Literatur und Ökologie. Hrsg. von Axel Goodbody. Amsterdam: Ropodi, 1998. S. 11-40.
- Kümmerling-Meibauer, Bettina: Emotional Connection: Representation of Emotions in Young Adult Literature. In: Contemporary Adolescent Literature and Culture. Hrsg. von Mary Hilto und Maria Nikolajeva. Farnham, Surrey: Ashgate, 2012. S. 127-138.
- Leubner, Martin/Saupe, Anja/Richter, Matthias: Literaturdidaktik. Berlin: Akademie Verlag, 2010.
- Lindenpütz, Dagmar: Das Kinderbuch als Medium ökologischer Bildung. Untersuchungen zur Konzeption von Natur und Umwelt in der erzählenden Kinderliteratur seit 1970. Essen: Die blaue Eule, 1999.
- Lindenpütz, Dagmar: Natur und Umwelt als Thema der Kinder- und Jugendliteratur. In: Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Hrsg. von Günter Lange. Band 2: Medien und Sachbuch, Ausgewählte thematische Aspekte, Ausgewählte poetologische Aspekte, Produktion und Rezeption, KJL und Unterricht. 2., korrigierte Auflage. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 2000. S.727-745.
- Melzer, Helmut: Warnung aus der Zukunft. In: Abenteuer Buch. Hrsg. von Otto Schober. Bochum: Kamp, 1993. S. 98-107.
- Mikota, Jana: "This Land is your Land": Kindliche und jugendliche Umweltschützer in der Kinder- und Jugendliteratur. In: Interjuli 1 (2012). S.6-26.
- Mikota, Jana: Umweltschutz im Kinderfilm oder wie Kinder die Natur retten. In: Exner, Christian/Kümmerling-Meibauer, Bettina (Hg.): Von wilden Kerlen und wilden Hühnern. Perspektiven des modernen Kinderfilms. Hrsg. von Christian Exner und Bettina Kümmerling-Meibauer. Marburg: Schüren, 2012. S. 171-199.
- Nickel-Bacon, Irmgard: Fantastische Literatur. In: Wild, Reiner (Hg.): Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. Hrsg. von Reiner Wild. 3., vollst. überarb. u. erweit. Auflage. Stuttgart u. Weimar: Metzler, 2008. S. 393-405.
- Oeste, Bettina: Natur und Umwelt-(schutz) in der Kinder- und Jugendliteratur. Eine kurze Geschichte der deutschsprachigen ökologischen KJL. In: Die angekündigte Katastrophe oder: KJL und Umweltschutz. Hrsg. von Jörg Knobloch. kjl&m, 2009, H. 4. S. 3-9.
- Rüster, Johannes: All you need is love? Aktuelle Trends im dystopischen Jugendbuch. In: Eselsohr: Fachzeitschrift für Kinder- und Jugendmedien, 31 (2012), H. 1. S. 6-8; Schweikart, Ralf: Nur noch kurz die Welt retten. In: Kein Ort. Niemals? Endzeitstimmung und Dystopie als Themen der Kinder- und Jugendliteratur. kjl&m 31 (2012), H. 3. S. 3-11.
1 An der Siegener Universität existiert die Forschungsstelle "Kulturökologie", in der u.a. auch ökologische Kinder- und Jugendliteratur von mir ausgewertet wird. Eine Datenbank dazu entsteht.