Inhalt

"Wildfang" heißt so, weil ihre Tante sie so nennt. Bis der Krieg kommt und sie weg müssen. Von da an nennt ihre Tante sie nicht mehr so und es ist, als hätte sie keinen Namen mehr. In dem neuen Land sind sie und ihre Tante zwar sicher, aber alles ist fremd. Die Klänge, das Essen, die Luft. Niemand spricht so wie sie und ihre Tante. Die neuen Worte der Menschen fühlen sich für das Mädchen wie ein kalter Wasserfall an. Wildfang fühlt sich allein und nicht mehr wie sie selbst. Sie möchte kein Rad mehr schlagen und umhertollen, wie sie es immer tat. Zu Hause kuschelt sie sich in ihre Decke aus eigenen Worten, Geräuschen und Erinnerungen ein. Die Decke wärmt sie und am liebsten würde sie gar nicht mehr aus dem Haus gehen. Bis sie eines Tages mit ihrer Tante im Park spazieren geht und von einem Mädchen angelächelt wird. Sie will zurücklächeln, aber sie traut sich erst nicht. Die Worte des Mädchens sind fremd. Doch es lächelt. Und dabei wird Wildfang ganz warm ums Herz.
Bei ihrem dritten Besuch im Park werden die beiden Mädchen Freundinnen. Wildfang will dem Mädchen sagen, wie glücklich sie darüber ist. Dass sie nicht weiß, wie, macht sie traurig. Am liebsten möchte sich Wildfang wieder unter ihrer Decke verstecken. Doch beim nächsten Mal bringt das Mädchen ihr neue Worte bei. Bei jedem Besuch kommen weitere hinzu. Das Mädchen lässt sie die Worte oft wiederholen. Manchmal sind auch sehr schwere Worte dabei, die Wildfang lernen muss. Dann kommt sie sich albern vor und würde am liebsten weinen. Doch nachts übt sie die Worte und webt sie in ihre neue Decke, sodass sie irgendwann nicht mehr kalt und fremd klingen. So wächst ihre Decke aus neuen Worten von Tag zu Tag. Eines Tages vergisst sie den kalten Wasserfall. Und die Einsamkeit. Und die Traurigkeit. Schließlich ist sie dann auch wieder sie selbst. Ein Wildfang.

Kritik

Irena Kobald ist gebürtige Österreicherin, lebt aber heute – nach unzähligen Stationen in zahlreichen Ländern – mit ihren vier Kindern in Australien, wo sie als Lehrerin für indigene Kinder arbeitet. Die Idee zu diesem Buch kam ihr nach einem Besuch eines sudanesischen Flüchtlingslagers. Für Zuhause kann überall sein hat Kobald eine Reihe von Auszeichnungen bekommen, unter anderem den "Leipziger Lesekompass" 2016 (http://www.stiftunglesen.de/service/leseempfehlungen/leipziger-lesekompass/) .
Die Geschichte, die Kobald erzählt, beginnt abrupt und unmittelbar. Wildfang, deren richtigen Namen wir im Buch nicht erfahren, macht fröhlich einen Handstand. Mit ihrer karamellfarbenen Haut und dem warmen, roten Kleid verschmilzt sie mit ihrer Umgebung. Lehmhütten, arbeitende Menschen und Tiere bilden den Hintergrund. Doch nach dieser Doppelseite verändert sich die Szenerie plötzlich und Wildfang ist umgeben von neuen Farben. Kobald und Blackwood bedienen sich an dieser Stelle des typischen Kontrasts zwischen Stadt und Land. Warmes Rot wird kontrastiert mit kühlem Blau. Die Umgebung wirkt unter Verwendung von hellen Pastellfarben weit und trist. Die Gesichter der Menschen dort sind hell, fast rosa, und bilden einen starken Kontrast zu denen von Wildfang und ihrer Tante, die sich auch durch ihre Kleidung inmitten der neuen Umgebung wie zwei Feuerbälle abheben.

Die neue Sprache der noch fremden Menschen wird durch kleine Symbole dargestellt, die wild umherschwirren und von Wildfang als "kalter Wasserfall" bezeichnet werden. Sie kommen aus den Mündern der korpulenten Männer und Frauen, die mit weit aufgerissenen Mündern in ihre Mobiltelefone brüllen. Wildfangs Anwesenheit zeichnet sich durch die Präsenz von kräftigen Farben aus. Wildfang bleibt jedoch in der ersten Hälfte des Buches immer kleiner als ihre Umgebung – ein Stilmittel, das Blackwood verwendet, um die Hilflosigkeit und Isolation zu verbildlichen. Es verdeutlicht auch die große Herausforderung, vor der sich Wildfang sieht: eine völlig neue Kultur und Sprache zu lernen. Ist sie bereit dazu? In der ersten Hälfte des Buches scheint sie es nicht zu sein. Sie hat ein besorgtes Gesicht und eine abwehrende Körperhaltung.
Wildfangs Decke fungiert als Bild für die Erinnerung an die Heimat, als Flucht in das Gewohnte. Die Angst vor dem Neuen - eine Gefahr, mit der sich nicht nur geflüchtete Kinder konfrontiert sehen. Die Decke ist in denselben Rottönen gehalten wie Wildfangs Heimat. Auch die Symbole darin unterscheiden sich deutlich von denen, die aus den Mündern der ihr fremden Menschen kommen.
Das Auftreten des netten Mädchens im Park wird durch die Verwendung von kräftigeren Farben, etwa in einem strahlend blauen Himmel, angekündigt. Das Mädchen bringt Wildfang neue Symbole mit, die für die Begriffe der bisher unbekannten Sprache stehen. So überreicht sie ihr z. B. einen kleinen Origamivogel, den Wildfang mit nach Hause nimmt. Das Einweben der neuen Symbole ersetzt nach und nach die roten Muster und Formen der alten Decke. Die blauen Symbole stehen für das langsame  Eingewöhnen in die neue Kultur. Das wird vor allem dadurch deutlich, dass Wildfang sich mit einem Buch, eingekuschelt in ihre neue Decke, zurückzieht. Je größer die Decke wird, desto stärker ist der Bezug zu der neuen Heimat von Wildfang. Am Ende wird aus der roten Decke eine blaue und man sieht Wildfang wieder lächeln und spielen. Das Buch schließt ab mit den Worten: "Heute ist meine neue Decke genauso warm, weich und gemütlich wie meine alte. Und ich weiß, dass es egal ist, welche Decke ich benutze, denn ... Ich bin immer ich!"

Es liegt zwar durch die erste Doppelseite nahe, dass die Heimat von Wildfang auf dem Kontinent Afrika liegen mag. Die Anonymität der Protagonistin und ihrer Bekanntschaften sorgen jedoch für eine Allgemeingültigkeit der Geschichte. Die warmen Farben zu Beginn der Geschichte sollen nur den Kontrast zu der neuen Heimat von Wildfang darstellen. Und was könnte drastischer sein, als der Gegensatz zwischen der warmen Savanne Afrikas und dem Großstadtleben Europas? Die Bilder in dieser Geschichte sind viel mehr als nur die Unterstützung des Textes. Sie vermitteln die Emotionen der Protagonistin: Ihre Illusion, ihr Kummer und ihr Wunsch nach einem normalen Leben. All dies drückt sich in diesem Buch vor allem durch Farben aus.

Obwohl diese Geschichte vor allem durch ihre kultur- und sprachübergreifende Gestaltung besticht, macht einen die neu gewebte Decke von Wildfang nachdenklich. Steht die Decke wirklich nur für die neue Sprache? Oder bedeutet sie nicht doch viel mehr, nämlich die neue Kultur in ihrer Gänze? Wäre letzteres der Fall, wäre es doch mehr als schade, dass Wildfang ihre alte Kultur durch die neue (blaue) Decke gänzlich abzulegen scheint. Die neue Decke könnte jenen Menschen in die Karten spielen, die dafür plädieren, dass sich Neuankömmlinge in Deutschland der völligen Assimilation hingeben. Für ein multikulturelles Zusammenleben wäre das Weben einer rot-blauen Decke ein wesentlich stärkeres Plädoyer gewesen.

Fazit

Alles in Allem ist dieses Buch eine sehr gute Grundlage für die Vermittlung von Empathie gegenüber Geflüchteten. Kinder identifizieren sich möglicherweise mit dem Mädchen im Park, oder lernen so, wie sie am besten mit Kindern umgehen, die nicht dieselbe Sprache sprechen wie sie selbst. Geflüchtete Kinder bekommen durch die Geschichte das Gefühl, nicht allein mit diesen Emotionen umgehen zu müssen. Dass Wildfang am Ende glücklich ist, gibt auch ihnen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Das völlige Auslassen von politischen Parolen, geschichtlichen Ursprüngen und Kriegsszenerien unterstützt die Altersempfehlung von fünf bis sieben Jahren. Sowohl im privaten als auch im schulischen Kontext stellt dieses Buch eine wertvolle Erweiterung der kindlichen Sicht auf die Welt und ihre Menschen dar.

Titel: Zuhause kann überall sein
Autor/-in:
  • Name: Irena Kobald
Originalsprache: Englisch
Übersetzung:
  • Name: Tatjana Kröll
Illustrator/-in:
  • Name: Freya Blackwood
Erscheinungsort: München
Erscheinungsjahr: 2015
Verlag: Knesebeck
ISBN-13: 9783-86873-757-8
Seitenzahl: 32
Preis: 12,95 €
Altersempfehlung Redaktion: 5 Jahre
Kobald, Irena/Blackwood, Freya: Zuhause kann überall sein