Inhalt und Gameplay
Die Handlung beginnt nach der neuesten Alkoholeskapade des Protagonisten, die nun anscheinend zu einem gesamtheitlichen Gedächtnisverlust geführt hat. Was zunächst wie der klischeehafte Einstieg von dutzenden Rollenspielen wirkt, hat in Disco Elysium einen sehr speziellen Charme: Der Hauptcharakter bewegt sich kindesgleich durch die ihm – und den Spieler*innen – unbekannte Welt und muss erstmal mit Konzepten wie Geld oder Politik bekannt und vertraut gemacht werden, was in absurden bis melancholischen, aber immer originellen Dialogen resultiert. So entdecken die Spieler*innen mit ihm zusammen die Welt von Revachol und können nach und nach die verschiedenen historischen Schichten des Hafenviertels der einstigen Metropole aufdecken: erst florierende Monarchie, dann kommunistischer Umsturz, eine militärische Intervention der benachbarten Handelspartner und nun wirtschaftliche Dauerkrise unter selbstverwalteter Fremdherrschaft – die osteuropäische Herkunft der Schöpfer*innen ist spürbar, Revachols Geschichte wirkt aber gerade in Hinblick auf gegenwärtige Krisen hochaktuell.
Schnell stellt sich heraus, dass es sich bei der Hauptfigur um einen Detektiv handelt, der aufgrund einer an einem Baum hängenden Leiche gerufen wurde und jetzt mit seinem Partner Kim Kitsuragi die Hintergründe klären soll. Es gilt, in klassischer Detektivmanier den Tatort zu untersuchen, nach Hinweisen Ausschau zu halten und potenzielle Zeug*innen zu befragen, um so nach und nach einer Lösung des Mysteriums näher zu kommen, das ähnlich vielschichtig ist wie die Geschichte der Stadt selbst.
Spielerisch erinnert Disco Elysium nicht nur durch seine erzählerische Tiefe, sondern auch durch die isometrische (also halbschräge Vogel-)Perspektive an Rollenspiele wie Planescape Torment oder Baldur’s Gate. Diese Präsentation wurde gegenüber den genannten Inspirationen deutlich modernisiert, was sich besonders an der Benutzeroberfläche bemerkbar macht: Statt die Dialoge wie zu groß geratene Untertitel die untere Bildschirmhälfte schlucken zu lassen, werden sie im rechten Drittel im Smartphone-Format präsentiert und in einer mitreißenden Frequenz aktualisiert, die an Twitter-Feeds angelehnt ist. Alle Dialoge sind (inzwischen durch das Final Cut-Update) vertont und tragen zur verfremdenden Atmosphäre des Spiels bei. So sind im Schmelztiegel Revachol verschiedenste, für europäische Ohren schwer zuordenbare Akzente zu hören – beispielsweise wird die rassistische Figur Measurehead vom marokkanischen Rapper Dizzy DROS vertont.
Das Spielprinzip wiederum ist an Pen & Paper-Rollenspiele angelehnt: Entscheidende Handlungen des Protagonisten werden ausgewürfelt und mit vorher von den Spieler*innen festgelegten Charaktereigenschaften verrechnet – sei es nun das Öffnen einer Tür, das Erspähen eines Fußabdrucks oder das Entlarven eines Verdächtigen im Gespräch. Dargestellt werden alle diese Aktionen im gleichen Dialogsystem, in dem auch die Gespräche mit anderen Charakteren stattfinden.
Die Erfolgschancen dieser Skill-Checks können von den Spieler*innen beeinflusst werden, indem sie durch gelöste Teilaufgaben Erfahrungspunkte verdienen und damit die verschiedenen Fähigkeiten des Charakters ausbauen. Im Gegensatz zu anderen Spielen, in denen man beispielsweise die Stärke oder Geschicklichkeit seines Charakters levelt, handelt es sich bei den Skills in Disco Elysium jedoch um Verhaltenscharakteristika, Denkmuster oder körperliche Tendenzen. Was auf den ersten Blick befremdlich klingt, sorgt dafür, dass ein Detektiv ganz nach eigenem Genre-Geschmack gestrickt werden kann: Fans von Sherlock Holmes können ihrem Detektiv visuelles Vorstellungsvermögen, enzyklopädisches Fachwissen, Vertrautheit mit psychoaktiven Substanzen und damit auch die dazugehörigen Abhängigkeiten geben; Anhänger von David Lynch skillen "Inland Empire" und "Conceptualization", wodurch der Charakter hinter alltäglichsten Phänomenen Übernatürliches vermutet und seine Untersuchungen als künstlerische Performance begreift; und wer Hard-Boiled-Cop-Dramas mag, macht seinen Charakter autoritär und gewalttätig. Welche Dialoge und welche Ausschnitte der Welt man dann zu sehen bekommt, ist jeweils völlig anders, aber jeder Weg führt ans Ziel.
Der visuelle Stil ist an Ölmalerei angelehnt. Dies reicht von den Umgebungen, über die Charakterportraits der Figuren, bis hin zu den verschiedenen Spielmenüs. Gerade weil die Darstellung wie aus einem Guss wirkt, gelingt es, eine breite emotionale Tonalität zu erzeugen, die sowohl die sozioökonomischen Katastrophen als auch kleinen Lichtblicke Revachols umreißen kann. Das Wechselspiel zwischen Ausweglosigkeit und Hoffnung wird vom einnehmenden Soundtrack der britischen Band Sea Power zusätzlich unterstrichen.
Kritik
Sowohl beim Gameplay als auch in der Narration sind Disco Elysium die Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit als Merkmal eingeschrieben: Entsprechend ist es eine der wichtigsten Eigenschaften des Spiels, dass Scheitern tatsächlich auch Spaß macht. In der Logik der meisten anderen Spiele würde es für Frust oder schlicht zum Wiederholen von Spielpassagen führen. Hier geschieht aber das genaue Gegenteil: Misslungene Aktionen führen zwar nicht unbedingt zu dem Ergebnis, das man sich ursprünglich erhofft hat, wohl aber zu einem, das die Handlung in vielleicht sogar originellerer Weise fortsetzt. Im Wechselspiel mit vorangegangenen kleinen und großen Entscheidungen, führt dieses System dazu, dass jeder Spieldurchgang hoch individuell ist und alle Spieler*innen auf andere Arten und Weisen an ein Ende gelangen.
Und genau der jeweilige Weg an ein Ende dieser Reise ist es, der erzählerisch so begeistert und u. a. von den Videospielzeitschriften GameStar oder PC Gamer als beste Geschichte aller Zeiten in einem Videospiel ausgezeichnet wurde. Dabei wäre es aber zu einfach, das Spiel auf seinen Plot um das zentrale Mysterium des Mannes im Baum zu reduzieren. Viel wichtiger als die Auflösung ist das eigene Vorgehen und die Interaktion mit der erzählten Welt, die es ermöglicht, absurdeste Handlungen in ernste Einsichten, aber auch ernste Themen in einsichtsreichen Humor münden zu lassen. Dafür werden den Spieler*innen alle möglichen Werkzeuge an die Hand gegeben, um sich in die Biographien einzelner Charaktere oder gar die sozioökonomische Geschichte der Spielwelt zu vertiefen – oder eben nicht. Doch überfordert das Spiel dabei nie, sondern überlässt es allen Spieler*innen selbst, wie tief sie wirklich eintauchen wollen. Wer lediglich stringent dem eigentlichen Fall folgen will, kann dies problemlos tun. Das dynamische Dialogsystem, das die großen Mengen an Text gut verdaulich portioniert, führt im Zusammenspiel mit der großen Handlungs- und Entscheidungsfreiheit dazu, dass kaum Leseverdruss entsteht – auch wenn eine gewisse Bereitschaft zum Lesen Voraussetzung bleibt.
Fazit
Das Spielen von Disco Elysium sowie die konstruktive Auseinandersetzung mit seinen Themen erfordern zweifelsohne ein gewisses Weltwissen und ein hohes Level an Lesekompetenz. Auch eine gewisse Resilienz gegenüber ernsten Thematiken wie geistigen Erkrankungen, Drogenmissbrauch und Gewalt sind zwingend notwendig, wobei diese im Spiel nahezu ausschließlich in Textform behandelt und nicht bzw. kaum grafisch dargestellt werden.
Das Spiel ist in seiner Originalversion auf Englisch, enthält aber zumindest auf dem PC eine Funktion, mit der sich per Knopfdruck sofort zwischen zwei vorher ausgewählten Sprachen (z.B. Englisch und Deutsch) hin- und herschalten lässt. Das erlaubt es beispielsweise, das Spiel in der englischen Originalsprache zu spielen, und in Fällen, in denen man sich bei einem Wort oder einer Formulierung etwas unsicher ist, einfach kurz ins Deutsche umzuschalten und damit weiterhin inhaltlich alles zu verstehen, was die Zugänglichkeit für jüngere und/oder in der englischen Sprache nicht so sichere Spieler*innen deutlich erhöht. In der Konsolenversion ist dieses Feature trotz mehrerer Sprachen leider nicht vorhanden.
Insgesamt lässt sich der Altersempfehlung der USK, die Disco Elysium für Spieler*innen ab 16 Jahren freigegeben hat, zustimmen.
Literatur:
ZA/UM: Disco Elysium. 2019. Microsoft Windows (PC) und Nintendo Switch.