Herr Sommer, welchem Anspruch müssen literarische Texte gerecht werden, um sie als "Weltliteratur" bezeichnet du dürfen?
Als sich Ende 2014 der Gedanke in meinem Kopf materialisierte, einen YouTube-Kanal mit einfachen, unterhaltsamen und leicht zugänglichen Zusammenfassungen von literarischen Werken zu starten, habe ich mir keine theoretischen Gedanken darüber gemacht, was der Begriff "Weltliteratur" genau bedeutet. Zu diesem Zeitpunkt suchte ich einen griffigen Ausdruck für: "Ich erzähle bedeutende Geschichten, die alle angehen, die künstlerisch und sozial hohe Relevanz haben - und zwar mit Kinderspielzeug". Den Anspruch maximal hochschrauben, um augenzwinkernd Spannung zur Form zu erzeugen.
Was literarische Werke zur Weltliteratur macht, habe ich erst später angefangen zu reflektieren. Klar war mir, dass der globale Anspruch größenwahnsinnig oder von einem kolonialen Blick geprägt ist, nach dem Motto "europäisch-amerikanische Klassiker sind selbstverständlich für die ganze Welt bedeutsam". Ich würde heute sagen: Weltliteratur ist Literatur, die Spuren hinterlässt. Entweder in der Kulturgeschichte, weil die Werke immer wieder rezipiert wurden, oder in der Gegenwart, weil sie von vielen Menschen gelesen wird. Daraus folgt: Objektive Kriterien außer der Verbreitung sind schwer zu formulieren, wir sollten besser keine Snobs des (vermeintlich) guten Geschmacks sein, wenn die qualitativ gute Literatur dann niemanden erreicht und umgekehrt. Worüber wir jedoch reden können, sind die Themen, die Figuren, die Probleme und die Lösungsstrategien in den Geschichten, denn deren Relevanz lässt sich analysieren und argumentieren.
Letzter Punkt: Da ich eine Schwäche für größenwahnsinnige Projekte habe, plane ich mittelfristig tatsächlich Literatur aus der ganzen Welt zu verplaymobilisieren. Und dabei werde nicht ich auf Plantagenbesitzerart bestimmen, was eine relevante Geschichte für ein bestimmtes Land ist.
Bezeichnen Sie sich selbst als Booktuber?
Ach, solche Begriffe kommen und gehen, für mich klingt "Booktube" nach dem Gang, den ein Bücherwurm in eine harte Substanz gefressen hat, durch den jetzt andere auch eindringen können. Was nicht schlecht ist; persönlich bevorzuge ich den wertungsfreien Begriff "Literaturfuzzi".
Sie waren früher als leitender Dramaturg am Theater Ulm tätig, jetzt sind sie vor allem Content-Creator. Was gefällt Ihnen besser?
Jedes Medium hat seine Vor- und Nachteile. Am Theater ist toll, dass man mit Menschen arbeitet und im Idealfall einen kreativen Gruppenprozess miterlebt. An der elektronischen Literaturvermittlung mag ich zum Beispiel meine Unabhängigkeit, kreative Freiheit und den (zwar indirekten, aber immerhin) Kontakt zu vielen Menschen.
Sie erzählen die Handlung eines epischen oder dramatischen Werks als Stimme aus dem Off nach. Dabei fällt auf, dass Sie Handlungsszenen gerne kommentieren oder bewerten. Wie sind Sie auf die Idee gekommen die Inhalte ironisch-parodistisch und zugleich modernisiert darzulegen?
Ich gebrauche die klassische Technik des Figurentheaters, bei dem es sowohl Figurenrede als auch eine Erzählerstimme gibt. Dieser Erzähler hat die Aufgabe, ein in der Regel langes Werk knapp, inhaltlich korrekt und so zusammenzufassen, dass die Zuhörenden dran bleiben. YouTube-Videos sind durchschnittlich 4,4 Minuten lang, meine aber meist 10 Minuten. Ich muss also einiges dafür tun, um das Publikum bei der Stange zu halten. Deshalb verwende ich eine leichte, tendenziell jugendlich eingefärbte Sprache und Humor. Denn eins muss klar sein: Das beste Video nützt nichts, wenn die Leute nicht zuhören. Von Ihrer Beschreibung "ironisch-parodistisch" kaufe ich ironisch, ja, Ironie ist mein zweiter Vorname, aber "Parodie" kaufe ich nicht. Der Zweck der Parodie ist nach meinem Verständnis, sich über etwas (z.B. ein literarisches Werk) zu Unterhaltungszwecken lustig zu machen. Das ist nicht der Zweck meiner Videos. Ich bemühe mich im Gegenteil sehr, die Originale ernst zu nehmen. Natürlich gibt es Menschen, denen Literatur heilig ist und die das nicht sehen können, das verstehe ich, aber persönlich bin ich der Meinung, dass man etwas zu ernst nimmt, wenn man darüber nicht wenigstens mit ein wenig ironischer Distanz schmunzeln kann.
Das Youtube-Geschäft ist hart und es gibt eine große Konkurrenz. Lohnt sich die viele Mühe bzgl. Ihrer Videos oder sehen Sie sich selbst eher als ehrenamtlicher Kulturerneuerer?
Da ich meine Videos monetarisiere und so Werbeeinnahmen erziele, sich außerdem mittlerweile recht viele Spin-Offs und weitergehende Projekte aus SOMMERS WELTLITERATUR TO GO ergeben haben, ist diese freiberufliche Tätigkeit einfach ein Teil meiner Arbeit. Ein anderer Teil ist meine Lehrtätigkeit als Deutschlehrer an einer Fachakademie für Sozialpädagogik. Hier ist das Thema Literacy-Förderung natürlich auch sehr wichtig, das ergänzt sich prima.
Ihre kurzen Videos erhalten nicht nur viele Klicks, sondern auch großen Zuspruch – ganz unmittelbar in den Kommentaren. Manche Zuschauerinnen und Zuschauer äußern, dass der Inhalt doch recht oberflächlich wiedergegeben wird. Wie rechtfertigen Sie Ihre Art der Literaturadaption gegenüber konservativen Kräften?
Ich finde es einerseits irgendwie schmeichelhaft, wenn jemand ein zehnminütiges PLAYMOBIL-Video mit einem literarischen Werk vergleicht und dann zu der überraschenden Erkenntnis kommt, dass das Original irgendwie doch mehr Tiefgang hat und gehaltvoller ist. Andererseits finde ich es überraschend, dass Menschen den Zweck der Übung derart aus den Augen verlieren können: Dies ist keine Adaption eines literarischen Werkes, sondern eine besondere Art von Inhaltsangabe, die der Erschließung, dem Brückenbauen, der Beziehungsanbahnung mit dem Buch dient. Die Videos wenden sich an Menschen, in deren Leben literarische Klassiker sonst bestenfalls noch in einer Simpsons-Folge vorkommen. Ich bringe mit meinen Videos viele große Geschichten in einer sehr einfachen Form in die Lebenswirklichkeit von jungen Menschen. Das ist der Zweck, an dem ich gern gemessen werden möchte.
Ihre gefilmten Inhaltszusammenfassungen haben großen Einfluss auf den handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht genommen, in denen Lernende heutzutage auch Buchtrailer und andere Kleinformate unter Einsatz digitaler Medien produzieren. Was bedeutet Ihnen die Einbindung Ihrer Videos in die Unterrichtskultur?
Ich freue mich, wenn meine Videos genau diese Art von aktiver und produktiver Medienarbeit inspirieren und vielleicht zum Anstoß werden, selbst etwas in dieser Art zu machen. Noch besser ist es natürlich, Theater zu spielen, aber wenn das Smartphone wenigstens für die Dauer eines solchen Projekts von der Konsumfalle zum kreativen Werkzeug wird, dann ist alles gewonnen.
Kritische Lehrkräfte sagen, dass ihre Schülerinnen und Schüler nach der Rezeption Ihrer Videos die Klassenlektüre nicht mehr lesen. Zudem würden Ihre Videos den Inhalt verändern, ohne dass dies angezeigt wird. Was entgegnen Sie diesen?
Ich sage mal so: Wenn jemand keinen Bock hat zu lesen, dann hat die Literacy-Förderung bisher offenbar nicht gut genug funktioniert, also im Elternhaus, in der Kita, in der Schule. Dass mein bescheidener YouTube-Kanal dafür verantwortlich sein soll, dass Schülerinnen und Schüler ihre Klassenlektüre nicht lesen, halte ich für eine maßlose Überschätzung. Umgekehrt bitte ich zu bedenken, dass es immer wieder Rückmeldungen zu Videos gibt, in denen Menschen äußern, dass sie jetzt total motiviert dazu sind, das Buch zu lesen. Und noch ein Punkt: Nichtleser hat es auch schon gegeben, als ich noch zur Schule gegangen bin. Natürlich sind die Vermeidungsstrategien auch durch meine Videos leichter als früher, aber bitte: Wir leben in einem massiven medialen Wandel und die leichte Verfügbarkeit aller Arten von Informationen ist nicht das Werk meines Kanals.
Was den zweiten Punkt betrifft: Freilich mache ich bei meinen Zusammenfassungen Fehler, aber keinesfalls verändere ich die Handlung eines Werkes bewusst oder gezielt. Natürlich kürze ich - das geht ja auch nicht anders, bei Inhaltsangaben - und daraus ergeben sich Schwerpunkte, aber das ist keine Veränderung des Inhalts. Ich freue mich immer über sachliche Kritik und in diesem Fall bin ich sehr auf Beispiele für "Veränderungen des Inhalts" gespannt.
Neben Klassikern drehen Sie seit geraumer Zeit auch Videos zu wirkungsmächtigen Werken aus der Jugendliteratur (z.B. Der große schwarze Vogel to go - Höfler in 11 Minuten). Wie sind sie darauf gekommen?
Kinder- und Jugendliteratur ist eher wichtiger als Literatur für Erwachsene, der einzige Grund, weshalb ich speziell vor Kinderliteratur einige Zeit lang zurückgeschreckt bin, ist, dass ich sehr skeptisch gegenüber der Nutzung von YouTube durch Kinder bin. Es läuft mir kalt den Rücken herunter, wenn ich mitbekomme, dass Erwachsene Kinder vor dem Smartphone und YouTube & Co. "parken".
Auch Videos über antike Dramen und Sagen spielen in Ihrem Channel eine immer größere Rolle, nicht wahr?
Die großen literarischen Klassiker der Antike hatte ich von Anfang an im Repertoire, siehe zum Beispiel ANTIGONE TO GO (Episode 7) oder ODYSSEE TO GO (Episode 46). Mit den Sagen der griechischen Mythologie habe ich mich anlässlich einer Miniserie beschäftigt, in der ich jeweils einerseits ein Tutorial liefere, wie man so ein PLAYMOBIL-Geschichtenvideo in der Art meiner To-Go-Filmchen selbst erstellen kann und andererseits beispielhaft eine solche Sage erzähle. Das war übrigens das erste Mal, dass ich direkt mit Geobra Brandstätter, dem PLAYMOBIL-Konzern, zusammengearbeitet habe, diese haben mir die Spielesets ihrer Reihe zur griechischen Mythologie dafür zur Verfügung gestellt. Das war also ein Auftragswerk, aber mit einem Mehrwert fürs Publikum, denke ich. Die Reihe heißt "Spielen macht schlau!".
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, nun Gastbeiträge bei Ihnen zu publizieren? Welche Kriterien sollten die Videos haben?
Literatur und der spielerische Umgang damit ist allen Vorurteilen zum Trotz nichts für Alleinunterhalter, sondern ein sozialer Vorgang. Ich glaube, dass mein Kanal und mein Vorhaben, Freude an Literatur erlebbar zu machen, davon extrem profitieren. Bisher gibt es noch nicht viele Gastvideos bei SOMMERS WELTLITERATUR TO GO, aber diejenigen, die bisher eingetrudelt sind, weisen schon eine tolle Bandbreite an Herangehensweisen auf. Und sie sind von sehr unterschiedlichen Menschen zu sehr unterschiedlichen Zwecken geschaffen worden. Das soll Lust und Mut machen und dazu anstoßen, so etwas vielleicht selbst mal zu versuchen, wenn man eine Geschichte zu erzählen hat. Grundsätzlich geht es mir um die kreative Vermittlung von Literatur, das muss nicht mit PLAYMOBIL-Figuren stattfinden, sondern kann gern unter Zuhilfenahme von Haushaltsgegenständen oder Steinen oder weiß der Teufel was passieren. Je verrückter, desto besser. Der Zweck soll es sein, Literatur und/oder Geschichten zugänglich zu machen, indem man sie knapp erzählt. Das ist ein Angebot, das sich ganz ausdrücklich auch an Lehrende und Lernende richtet.
Welche Projekte haben Sie für die Zukunft, sofern Sie diese verraten wollen und dürfen?
Im letzten Oktober habe ich die Weltliteratur-Community auf "Steady" gestartet, das ist ein Netzwerk von Menschen, die meine Arbeit (auch monetär) unterstützen, die regelmäßig im Austausch mit mir sind, die exklusiven Content bekommen - hier arbeite ich noch an den langfristigen Formaten. Dann wird es mittelfristig das "richtige" Weltliteratur-Projekt geben, ich hatte es oben schon angedeutet. Und natürlich arbeite ich auch noch an vielen anderen Projekten, zum Beispiel einem Workbook zu den literarischen Epochen.
Wir wünschen Ihnen weiterhin kreative Ideen und viel Erfolg bei der produktiven Umsetzung!
Danke für das Interview.