Nachdem in den 1990er Jahren mit und nach dem Ende der DDR verschiedene Arbeiten zur Kinder- und Jugendliteratur in der DDR erschienen sind (u.a. Dolle-Weinkauff/Peltsch 1990; Gansel 1995, 1997, 1999; Richter 1991, 1995, 1996), bildet das wichtige Handbuch zur DDR- Kinderliteratur SBZ/DDR 1945-1990, das von einem Team um Rüdiger Steinlein verantwortet wurde (Steinlein u.a. 2006), gewissermaßen den Abschluss. Seitdem sind nur vereinzelt Beiträge zur KJL in der DDR erschienen (u.a. Becker 2020, Gansel 2010, 2022, Max 2020, Kümmerling-Meibauer/ Meibauer 2021), die einzelne Aspekte in den Blick nahmen. Einige der bis dahin erschienenen Arbeiten gingen dabei – wie in der Allgemeinliteratur – von einem modernisierungstheoretischen Ansatz aus. Dies betraf auch Fragen des Wandels der Literaturen. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass Veränderungen im Literatursystem zunächst Folge von veränderten Wirklichkeitsverhältnissen und -erfahrungen sind. Jörg Schönert (1993) hat in diesem Sinne herausgestellt, dass Veränderungen im "System der Gattungen und Genres" eine Reaktion "auf die Umwelt, auf die Entwicklungen in den Sozialsystemen, auf Prozesse der gesellschaftlichen Modernisierung" sind. Unter diesem Blickwinkel läßst sich sagen, dass es in der DDR zu einer Auflösung der vormodernen Klassenmilieus der 1930er Jahre kam, allerdings letztlich nur eine "selektive Modernisisierung" stattfand, weil ein Primat der Politik existierte (Gansel 1997). Anders gesagt, das System Politik bremste die Ausdifferenzierung moderner Teilsysteme (u.a. Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur) ab. Dieser Umstand ist in der Folgezeit durchweg als Defizit beschrieben worden (Emmerich 1988, Erbe 1993). Zutreffend haben Stefan Pabst und Anderea Jäger (2020) darauf hingewiesen, dass entsprechend ein literaturgeschichtlicher Ansatz vertreten wurde, der an der Dichotomie Heteronomie/Autonomie ausgerichtet war. Insofern erfahren der Zugewinn an Autonomie eine positive Wertung, Einschränkungen von Autonomie stattdessen eine negative (vgl. ebd.). Allerdings existierte in der DDR eine Struktur von Gesellschaft, in der davon ausgegangen wurde, dass das 'System Politik' berechtigt, ja sogar verpflichtet ist, in andere Teilsysteme, in diesem Fall in das 'System Kultur‘, "hineinzuwirken". Diese Auffassung, die der West-Moderne widerspricht und von Autorinnen und Autoren bis Mitte der 1960er Jahre mitgetragen wurde, ist allerdings unter den existierenden Rahmenbedingungen insofern "legitim", als sie Abbild einer anders arbeitsteilig organisierten Gesellschaft mit veränderten Handlungsrollen war. Den "literarischen Handlungen" in einem so beschriebenen System ist daher weder mit moralisierenden Wertungen, noch mit einem Modernebegriff beizukommen, der westlichen Gesellschaften abgezogen ist. Für das Literatursystem DDR ergaben sich mithin zunächst andere Funktionssetzungen, sie übernahm zunächst – vereinfacht gesagt – "sozialaktivistische Aufgaben" (Uwe Johnson), und diese betraf sowohl die Allgemein-, als auch die Kinder- und Jugendliteratur. Mit anderen Worten: Literatur suchte identitätsstiftend, kollektivbildend und gesellschasftslegitimierend zu wirken. Und sie konnte sich dabei in marxistischem Sinne auf reale Veränderungen der sogenannten materiallen Basis berufen (u.a. kein Privateigentum an Produktkionsmitteln, daher neues Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen). Wenn also beispielsweise auf dem II. Schriftstellerkongress 1950 von der "Darstellung des Neuen" die Rede war und immer wieder der "neue Gegenstand" angesprochen wurde, dann ist in systemtheoretischer Perspektive das "Programm" der neuen DDR-Literatur gemeint. Es geht mithin um die favorisierten Gattungen und Genres und letztlich um die literarischen Darstellungsweisen. Im Kern ist mit dem "neuen Gegenstand" vor allem auf das "Was", also die histoire Bezug genommen. In den Fokus geraten nämlich der Raum bzw. Schauplätze, es geht um Figuren mit entsprechenden Handlungen auf "Feldern der Neubauernhöfe" oder in neuen volkseigenen Betrieben. Es sind dies in der Tat "Geschehnisse" von einer neuen historischen Qualität. Denn zweifellos stellt die "Überführung in Volkseigentum", also die Herstellung des sogenannten gesellschaftlichen Eigentums, etwas dar, das es in der deutschen Geschichte in dieser Form bis dahin nicht gab. Für die KJL in der DDR in den 1950er Jahren spielt – um ein Beispiel zu geben – daher auch das Dorf als Schauplatz eine zentrale Rolle (u.a. Benno Pludra In Wiepershagen krähn die Hähne, 1953; Erwin Strittmatter Tinko, 1954; Alfred Wellm Die Kinder von Plieversdorf, 1959). Die Autorinnen und Autoren – unabhängig davon, für wen sie schrieben – wollten mit ihren Texten "'teilhaben an der Veränderung der Welt'" (Christa Wolf). Die Weitung des kindlichen Blickwinkels auf soziale Realität und ihre Probleme bedeutete einerseits einen Gewinn, andererseits führte er auch zu einem gewissen Ausblenden von Individuellem, von kindlichen Interessen und inneren Widersprüchen (Gansel 1999). Genau dies wurde ab Beginn bzw. Mitte der 1960er Jahre offenbar, und es kam zu Modifizierungen. Die kindliche bzw. jugendliche Identität gewinnt an Bedeutung (u.a. Karl Neumann Frank und Irene, 1964; Alfred Wellm Kaule, 1962). Maßgebliche Veränderungen in der KJL in der DDR ergaben sich dann ab den 1970er Jahren, und sie reichen bis in die 1980er Jahre hinein (Richter 2000). Bei einem grundsäzlichen Festhalten am Gesellschaftsbezug und dem "Zukunftsversprechen DDR" (Uwe Johnson) begannen Autorinnen und Autoren (u.a. Edith Bergner, Christa Kozik, Benno Pludra, Gerti Tetzner) zu prüfen, welche Möglichkeiten die Gesellschaft dem Einzelnen lässt, wie sich Ideal und Wirklichkeit zueinander verhalten, wie es um die proklamierten Ideen der Anfangsjahre bestellt ist, welche Möglichkeiten der Einzelne hat, wie er bzw. sie sich einbringen kann und was dem entgegensteht (Gansel 1999/2020). In diesem Kontext spielen auch die Wiederentdeckung der Potentiale phantastischen Erzählens eine Rolle (Roeder 2006, Gansel 1989) wie auch das Neuerzählten antiker Mythen und klassischer Stoffe der Weltliteratur (Franz Fühmann Prometheus, 1974; Werner Heiduczek Die seltsamen Abentuer des Parzival, 1974; Stephan Hermlin Argonauten, 1974, Rolf Schneider Herakles, 1978).
Der Ansatz der Tagung lässt sich so beschreiben: Es geht explizit nicht darum, die KJL in der DDR an einem Moderne-Begriff zu messen, der westllichen Gesellschaften abgezogen ist, sondern darum das, was man Ost-Moderne und in Folge Post-Ost-Moderne nennen kann (Pabst 2016) ernst zu nehmen. Dies bedeutet, dass die Ost-Moderne und die in dem gesellschaftlichen Gefüge entstehende Literatur an den systemeigenen Regularitäten gemessen wird. Damit ist auch die jeweilige "gesellschaftliche Funktion" von Literatur in den einzelnen Phasen mitzudenken und zu fragen, inwieweit der konkrete Text den aktuellen "Vereinbarungen" entspricht oder aber möglicherweise eine Art "Vorgriff" darstellt, der irritierend bzw. als Aufstörung wirken kann (Gansel 2016).
Die Beiträge können entsprechend auf folgende Schwerpunkte ausgerichtet sein:
- Darstellungen zu einzelnen Entwicklungsetappen in Verbindung mit dem jeweiligen Stand der Ost-Moderne;
- Einzelanalysen ausgewählter Texte als Reflex auf gesellschaftliche Modernisierungsphänomene in der DDR;
- Untersuchungen zur Rolle phantastischer Präsentationsarten und zu Adaptionen mythischer Stoffe;
- Beiträge zur KJL in der DDR, die zeigen, warum einzelne Texte in den Status einer „Aufstörung“ gerieten.
In einem zweiten Teil der Tagung soll es um Texte der Post-DDR-Literatur gehen. Dabei interessiert vor allem die Frage, in welcher Weise DDR-Kindheit und -Jugend nach 1989 erinnert werden. In diesem Zusammenhang ist zu fragen, inwieweit Texte dem entsprechen, was der Historiker Martin Sabrow seit der Wende zum 21. Jahrhundert herausgestellt hat, dass nämlich im "öffentlichen Umgang mit der DDR" die "klaren Schwarz-Weiß-Linien des Diktaturgedächtnisses" dominieren, das den "Unterdrückungscharakter der SED-Herrschaft und ihre mutige Überwindung in der friedlich gebliebenen Revolution von 1989/90" (Sabrow 2010) betonen. Neueste Untersuchungen suchen zu zeigen, welche Folgen sich aus derartigen Schemata ergeben können (Gansel/Fernandez-Perez 2022, Fernandez-Perez 2022).
Die genannten Aspekte verstehen sich als Rahmen für Beitragsvorschläge. Weitere Anregungen sind ausdrücklich erwünscht. Die Veranstalter erbitten kurze Abstract und Informationen zum CV (ca. 15 Zeilen) bis zum 20. Juni 2022 an folgende Anschriften:
Prof. Dr. Carsten Gansel
Justus-Liebig-Universität Gießen FB 05 Sprache, Literatur, Kultur Germanistisches Institut
Otto-Behaghel-Str. 10B 35394 Gießen
Dr. José Fernández Pérez
Justus-Liebig-Universität Gießen FB 05 Sprache, Literatur, Kultur Germanistisches Institut
Otto-Behaghel-Str. 10B 35394 Gießen
Sekretariat: Katja Wenderoth
Justus-Liebig-Universität Gießen FB 05 Sprache, Literatur, Kultur Germanistisches Institut
Otto-Behaghel-Str. 10B 35394 Gießen
[Quelle: Pressemitteilung]