Unzuverlässiges Erzählen in der Kinder- und Jugendliteratur ist bisher relativ wenig beforscht (vgl. Wallraff 2020: 145). Eine der wenigen Ausnahmen bilden Klimeks Ausführungen (vgl. Klimek 2017), die sich gerade der unzuverlässig erzählten Welten in kinder- und jugendliterarischen Texten nähert. Für den allgemeinliterarischen Diskurs gilt diese Beobachtung der dürftigen Forschungslage nicht in demselben Maße (vgl. den Überblick in Martínez/Scheffel 2016; Nünning 2008; Kindt/Köppe 2014: 239-245). Zentrale Unterscheidungen bestehen unter anderem zwischen mimetisch unentscheidbarem Erzählen (Martìnez/Scheffel 2016), täuschendem Erzählen (Kindt/Köppe 2014: 239) und offen unzuverlässigem Erzählen (vgl. ebd.: 242). Darüber hinaus sind grundsätzlich auch paratextuelle oder intertextuelle Signale zu berücksichtigen (vgl. Wallraff 2020: 21 und 313). Fraglich bleibt, welche Rolle unzuverlässiges Erzählen im Literaturunterricht hat/haben kann/haben sollte. So bleibt die Auseinandersetzung mit Unzuverlässigkeit in vielen Handreichungen für den Unterricht aus. Kürschner beispielsweise befürchtet, das die durch Unzuverlässigkeit vorausgesetzten Lesestrategien für kindliche Rezipient:innen zu anspruchsvoll seien (vgl. Kürschner 2014: 29). Leubner und Saupe betonen, Phänomene wie unzuverlässiges Erzählen seien vornehmlich leistungsstärkeren und/oder fortgeschrittenen Lerngruppen vorbehalten (vgl. Leubner/Saupe 2012: 154). Die Frage, die sich stellt, ist allerdings, ob es wirklich zu einer expliziten Auseinandersetzung mit dem Phänomen im Rahmen des Unterrichts kommen muss oder ob der Umgang mit Unzuverlässigkeit auch ohne eine explizite Fokussierung bereits den Umgang mit Texten und Medien aufschließen kann (vgl. dazu auch Bernhardt/Henke 2023).
Eines der wenigen Modelle für den didaktischen Umgang mit erzählerischer Unzuverlässigkeit legt Wittmann (2016) mit seiner Darstellung von Kehlmanns Ruhm vor. Henke (2020) modelliert das Unzuverlässige Erzählen bereits für frühere Jahrgangsstufen und plädiert dafür, das Konzept Unzuverlässigen Erzählens stärker in der Lehrer:innenbildung zu berücksichtigen. Sie zeigt, dass die Auseinandersetzung mit erzählerischer Unzuverlässigkeit auch einen Beitrag zur Demokratiebildung leisten kann (vgl. Henke 2021). Hofmann (2023) demonstriert am Beispiel von Kleists Werken, dass unzuverlässiges Erzählen zu einer Hinterfragung von Machtstrukturen in Texten einladen und dadurch einen machtreflexiven Blick auf Strukturen allgemein ermöglichen könne. Bernhardt (2020, 2022) sowie Beck/Bernhardt (2023) plädieren am Beispiel von Texten ab der Primarstufe für eine stärkere didaktische Berücksichtigung des Phänomens, wobei es nicht darum gehen soll, das narratologische Phänomen bereits zu lehren, sondern vielmehr darum, die Materialität des Gegenstandes zur Förderung literarischer Kompetenzen und zur Anbahnung einer kritischen Hinterfragung zu nutzen. Jakobis (2023) Plädoyer für eine transmediale Erweiterung des Blicks auf Unzuverlässigkeit erscheint dabei als ausgesprochen zentral. Sie stellt heraus, dass auch im intermodalen Zusammenspiel beispielsweise bei Bilderbüchern unzuverlässiges Erzählen vorliegen könne und zeigt, dass eine transmediale Betrachtung des Phänomens wichtig wäre.
Im geplanten Sammelband soll es daher nicht nur um gedruckte Texte, sondern auch um Hörspiele, Filme, Theateraufführungen, Ausstellungen und weitere fiktionale geschichtenerzählende Gegenstände gehen.

Zu klären sind folgende Fragestellungen:

  • Wie lässt sich Unzuverlässiges Erzählen literaturdidaktisch nutzbar machen?
  • Muss Unzuverlässiges Erzählen als Konzept schon Einzug in den Literaturunterricht der Primarstufe halten oder gibt es Möglichkeiten einer Sensibilisierung für eine kritische Hinterfragung ohne Explikation des narratologischen Konzepts?
  • Wie verhält es sich mit transmedialen Besonderheiten?
  • Inwiefern lassen sich durch die Auseinandersetzung mit Unzuverlässigem Erzählen Kognitionsroutinen durchbrechen und so kumulativ und nachhaltig literarische Kompetenzen fördern?

Erbeten werden Beitragsvorschläge zu folgenden Themenspektren:

1 Konzepte zum Umgang mit Unzuverlässigem Erzählen in unterschiedlichen Klassenstufen
1.1 in Romanen
1.2 in Dramen
1.3 in Bilderbüchern
1.4 in Hörspielen/Hörbüchern
1.5 in Filmen
1.6 in seriellen Formaten
1.7 in Ausstellungen
1.8 in Medienverbünden
1.9 gern weitere Vorschläge (Comics, Spiele, ...)
2 Beispielausarbeitungen (bitte konkrete Gegenstände (Hörspiele, Theateraufführungen, Romane) angeben, gern auch Praxisbeispiele
3 Diskussion von Voraussetzungen und Schwierigkeiten bei der curricularen Umsetzung der Fokussierung von Unzuverlässigkeit

Um den Lesefluss nicht zu stören, sollten die Beiträge auf eine ausführliche theoretische Herleitung verzichten und den Schwerpunkt auf die didaktischen Perspektiven legen. Es sollte also nur eine Festlegung des eigenen Theoriebezugs erfolgen und keine Genese des Forschungsstandes abgebildet werden. Eine theoretische Grundierung wird in der Einleitung und in den Grundlagenartikeln erfolgen, sodass die Konzepte in den Einzelausarbeitungen vorausgesetzt werden können. Nach einer Sichtung aller Beitragsvorschläge wird es auch die Möglichkeit zum gemeinsamen Austausch geben, um Überschneidungen zu vermeiden. Das Projekt ist also genuin als kommunikativer Arbeitsprozess erwünscht.

Bei Interesse senden Sie bitte bis zum 5.10.2023 einen Beitragsvorschlag (max. 1 Seite) mit bio-bibliographischen Angaben an den Herausgeber:

Prof. Dr. Sebastian Bernhardt
Germanistisches Institut der Universität Münster
Abteilung: Literatur- und Mediendidaktik,
Professur für Literatur- und Mediendidaktik (Prof. Bernhardt)

Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.

Zeitplan:
Abgabe der Beiträge (Umfang: maximal 40.000 Zeichen): 8.4.2024 Erscheinen des Bandes: spätestens 1.8.2024
Die Beiträge werden allesamt bis spätestens 10.4. lektoriert und kommentiert. Es gibt dann eine Überarbeitungsphase und eine zweite Rücklaufschleife. Damit der Band zügig erscheint, bitte ich darum, diese Schleifen gleich einzuplanen, damit wir im Sommer gut mit der Einreichung des Manuskripts fortfahren können.
Der Band wird als print und eBook in meiner Reihe „Literatur – Medien – Didaktik“ im Verlag Frank & Timme erscheinen und über die Springer Bibliotheken abrufbar sein.

Literaturhinweise (sehr selektiv)

  • Beck, Natalie/Bernhardt, Sebastian (2023): „Wahrheit in Reifenbergs metafiktionalen Kinderromanen. Die Unzuverlässigkeit des Erzählens und ihre Potenziale für das literarische Lernen ab der Primarstufe.“ In: Bernhardt, Sebastian (Hg.): Frank Maria Reifenberg in literaturdidaktischer Perspektive. Berlin: Frank & Timme. S. 69–89. 

  • Bernhardt, Sebastian (2020): „Fremdverstehen in und durch Juli Zehs Kinderbuch‚Das Landder Menschen‘ (2008)“. In: Standke, Jan (Hg.): Das Werk Juli Zehs in literaturdidaktischer Perspektive. Trier: WVT. S. 63–76. 

  • Bernhardt, Sebastian (2022): „Kehlmanns historische Romane im Deutschunterricht.“ In: ders. und Standke, Jan (Hg.): Historische Romane der Gegenwart im Deutschunterricht. Bielefeld: transcript. S. 217–238. 

  • Hansen, Per Krogh (2007): „Reconsidering the unreliable narrator.“ In: Semiotica 165, 1/4, S. 227–246. 

  • Heiser, Ines (2023): „Wenn man auf den wichtigsten Teil erst sehr spät kommt – Unzuverlässiges Erzählen in Reifenbergs Identity X – Wer ist Boston Coleman? (2022)“. In: Bernhardt, Sebastian (Hg.): Frank Maria Reifenberg in literaturdidaktischer Perspektive. Berlin: Frank & Timme. S. 111- 130. 

  • Henke, Ina (2021): „Unzuverlässig erzählte Welten verstehen. Kognitive Operationen von Schüler*innen beim Umgang mit narrativer Unzuverlässigkeit.“ In: MiDU. Medien im Deutschunterricht 3, H.2, S. 1–19. 

  • Hermann, Leonhard (2021): „Wann ist Erzählen eigentlich zuverlässig? Mimetisch unzuverlässiges Erzählen als graduelles Phänomen und seine Funktion in Romanen der Gegenwart.“ In: ZfG NF XXXI, S. 19–35. 

  • Hofmann, Michael (2023): „Unzuverlässiges Erzählen als Herausforderung der Literaturdidaktik. Konzeptionelle Überlegungen mit Bezug auf Heinrich von Kleists Verlobung in St. Domingo.“ In: Bernhardt, Sebastian/Henke, Ina (Hg.): Erzähltheorie(n) und Literaturunterricht. Verhandlungen eines schwierigen Verhältnisses, Stuttgart: J.B. Metzler. S. 87-100. 

  • Jakobi. Stefanie (2023): „Wider die Rezeptionsästhetik? Transmediale und transgenerische Unzuverlässigkeit in den Kinder- und Jugendmedien aus wirkungsästhetischer Perspektive“. In: Bernhardt, Sebastian/Henke, Ina (Hg.): Erzähltheorie(n) und Literaturunterricht. Verhandlungen eines schwierigen Verhältnisses, Stuttgart: J.B. Metzler. S. 101-114. 

  • Kindt, Tom/Köppe, Tilmann (2014): Erzähltheorie. Eine Einführung. Stuttgart: Reclam. 

  • Klimek, Sonja (2017): „Unzuverlässiges Erzählen in Kinder- und Jugendliteratur und -medien? Eine vergleichende Studie.“ In: kids&media. Zeitschrift für Kinder- und Jugendmedienforschung 2, S. 24– 44. 

  • Kürschner, Manja (2014): „Vom Verstehenwollen und dem Wertschätzen des Nichtverstehens– Unzuverlässiges Erzählen als Naturalisierungsstrategie beim Lesen postmodernistischer Romane.“ In: Niebuhr, Oliver (Hg.): Formen des Nicht-Verstehens. S. 25-44. Frankfurt am Main: Peter Lang. 

  • Martínez, Matías/Scheffel, Michael ([11999] 2016): Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck. 

  • Nünning, Ansgar (1998): „Unreliable Narration zur Einführung: Grundzüge einer kognitiv- narratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens.“ In: Ders. (Hg.): Unreliable narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. S. 3–40. Trier: WVT. 

  • Rietz, Florian (2021) „Unzuverlässiges Erzählen in Andreas Steinhöfels Rico, Oskar und die Tieferschatten. Überlegungen zur Förderung von Perspektivübernahmekompetenz im Literaturunterricht.“ In: Standke, Jan/Wrobel, Dieter (Hg.): Andreas Steinhöfel. Texte–Analysen– didaktische Potenziale. Trier: WVT. S. 97-110. 

  • Schulte Eickholt, Swen (2023): „Wolf Schmids idealgenetisches Modell der narrativen Ebenen im Kontext eines handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts“. In: Bernhardt, Sebastian/Henke, Ina (Hg.): Erzähltheorie(n) und Literaturunterricht. Verhandlungen eines schwierigen Verhältnisses, Stuttgart: J.B. Metzler. S 135-150. 

  • Wittmann, Jan (2016): „Unzuverlässiges Erzählen im Deutschunterricht: Kehlmanns Roman ‚Ruhm‘“. In: Pieper, Irene/Stark, Tobias (Hg.): Neue Formen des Poetischen: Didaktische Potenziale von Gegenwartsliteratur, Frankfurt am Main: Peter Lang. S.17-34. 

  • Wallraff, Nana (2021): Unzuverlässiges Erzählen als narratives Verfahren in der Kinder- und Jugendliteratur seit der Jahrtausendwende. Köln: epub. URL:https://kups.ub.unikoeln.de/50389/1/Wallraff_Unzuverlaessiges_Erzaehlenhttps://kups.ub.unikoeln.de/50389/1/Wallraff_Unzuverlaessiges_Erzaehlen.pdf (letzter Zugriff: 01.09.2023). 

  • Wallraff, Nana (2020): „Unzuverlässiges Erzählen.“ In: Kurwinkel, Tobias/Schmerheim, Philipp (Hg.): Handbuch Kinder- und Jugendliteratur. Berlin: Springer, S. 145–150. 

  • Wicke, Andreas (2022): „Intertextualität und Intertextualitätstheorien im Deutschunterricht.“ In: Bernhardt, Sebastian & Hardtke, Thomas (Hg.): Interpretation. Literaturdidaktische Perspektiven. Berlin: Frank & Timme, S. 95–114. 

  • Wittmann, Jan (2016): „Unzuverlässiges Erzählen im Deutschunterricht: Kehlmanns Roman ‚Ruhm‘.“ In: Pieper, Irena & Stark, Tobias (Hg.): Neue Formen des Poetischen. Didaktische Potenziale von Gegenwartsliteratur. Frankfurt a.M.: Peter Lang, S. 17–34. 

[Quelle: Pressemitteilung]