Als Literatur einer gesellschaftlichen Minorität befand sich die jüdische Kinder- und Jugendliteratur im deutschsprachigen Raum stets in einem Spannungsverhältnis zur Literatur der Mehrheitsgesellschaft, neben und mit der sie eine unsichere Position im literarischen Produktionsfeld einnahm. Dies spiegelt auch das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden wider, das in diachroner Perspektive "nahezu durchgängig von Spannungen, Misstrauen, im besten Fall von Ignoranz und Gleichgültigkeit, vielfach jedoch von extremer Gewalt" geprägt war (Glasenapp 2021: 52). Dass sich unter diesen Bedingungen im 19. Jahrhundert dennoch eine belletristische Kinder- und Jugendliteratur entwickeln konnte, die sich an ein dezidiert jüdisches Publikum richtete und schließlich im 20. Jahrhundert zu einem nach unterschiedlichen innerjüdischen Strömungen und Positionen aufgefächerten Lektüreangebot wurde, ist seit den 1990er Jahren von der Literaturwissenschaft intensiv aufgearbeitet worden.
Die Shoah stellt einen Bruch in dieser Entwicklung dar, der die jüdische Kinder- und Jugendliteratur bis heute prägt, bedeutete jedoch keinesfalls das Ende der Publikation und des Schreibens für jüdische Kinder und Jugendliche. Auch nach 1945 erschienen, zunächst vereinzelt, Schriften, die an jüdische Kinder und Jugendliche (mit)adressiert waren oder jüdische Themenkomplexe verhandelten. Während in der Schweiz seit den 1980er Jahren vorwiegend religiöse Literatur verlegt wurde, die sich an ein exklusiv jüdisches Publikum richtete, begann in den 2000er Jahren u.a. mit der Auszeichnung von Holly-Jane Rahlens Jugendroman Prinz William, Maximilian Minsky und ich (2002, DJLP 2004) eine Entwicklung, die einerseits durch ein zunehmendes Interesse des kinderliterarischen Systems an jüdischen Themen und Autor:innen geprägt ist und gleichzeitig durch einen Anstieg der Produktion in Form von Verlagsgründungen (Ariella Verlag 2010), Kinderbuchlinien mit jüdischem Profil (Hentrich & Hentrich, Jüdische Verlagsanstalt, Lichtig Verlag) oder Veröffentlichungen in etablierten Verlagen.
Der geplante Workshop fokussiert die Entwicklung jener jüdischen Kinder- und Jugendliteratur, die nach 1945 im deutschsprachigen Raum erschienen ist. So soll u.a. der Frage nachgegangen werden, auf welche Weise sich nach dem Bruch der Shoah jüdisches Schreiben für Kinder wieder neu konstituierte, auf welche Weise diese Disruption, gegebenenfalls aber auch die Kontinuität zur Vorkriegstradition sich in die Texte einschreibt und auf welche Weise sie jüdische Identitäten konstruieren. Die Kinder- und Jugendliteratur zur Schoah ist so umfangreich, dass sie nicht nur als eigenes Genre gefasst werden kann, sondern zuweilen der (unrichtige) Eindruck entsteht, es handele sich um ein Korpus, das mit dem der sog. jüdischen Kinder- und Jugendliteratur weitgehend deckungsgleich sei. Dieser Fehlkonzeption tritt der Workshop entschieden entgegen. Stattdessen soll der Rolle der Schoah im Schreiben für jüdische Kinder nachgegangen werden – sowohl als thematischer Fokus z.B. eines intergenerationalen Gesprächs (Eva Lezzi: Beni, Oma und ihr Geheimnis, Monika Helfer/Michael Köhlmeier: Rosie und der Urgroßvater), wiederkehrendes Dilemma deutsch-jüdischer Begegnungen, als unerzählbare Leerstelle und schließlich als Folie, vor der die Produktion einer neuen jüdischen Kinderliteratur stattfand. Auch mit Blick auf weitere Themenfelder soll an neuere Forschungen angeschlossen werden, die jüdische Kinder- und Jugendliteratur mit Blick auf Genderkonstruktionen sowie postsowjetische und/oder postmigrantische Positionen sowie deren Status als transkultureller Literatur untersuchen.
Neben den bereits skizzierten Themenfeldern sind für den Workshop u.a. folgende Themen von Interesse:
- Produktionsbedingungen jüdischer KJL im deutschsprachigen Raum: Entwicklungen in Österreich und der Schweiz sowie den beiden deutschen Staaten, Renaissance ab den 2000er Jahren
- Genreentwicklungen nach 1945: u.a. Märchen, Kinderbibel, Adoleszenzroman in ihrer literaturhistorischen Entwicklung, fantastisches und realistisches Erzählen
- Religiöse und säkulare Positionen in der KJL: Normalität, Störung und Dissens
- Reflektionen gesellschaftlichen Wandels in der jüdischen Kinder- und Jugendliteratur: Nachkriegszeit, Wende, Veränderung der Gemeindestrukturen in den 1990er Jahren, Zuzug sog. „Kontingentflüchtlinge“ aus den Staaten der ehem. Sowjetunion
- Die Rolle von Neuauflagen und Übersetzungen
- Jüdisches Schreiben – schreiben (nur) für ein jüdisches Publikum? Poetik jüdischer Autor:innen
- Deutsch-jüdisch, deutsch/jüdisch, deutsch oder jüdisch? Konfigurationen des Verhältnisses von Mehrheitsgesellschaft und jüdischer Selbstverortung in der Literatur, Auseinandersetzung mit der „Tätergesellschaft“
- Postsowjetische und postmigrantische Positionen in jüdischer KJL
- Jüdische Sachliteratur und Sachliteratur über das Judentum
- Jüdische Adoleszenz nach 1945 als Auseinandersetzung mit einer nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft
Neben den Einzelreferaten soll der Workshop Gelegenheit zur gemeinsamen Arbeit am Text liefern. Darüber hinaus soll am zweiten Tag Interessierten die Möglichkeit gegeben werden, sich in einem Netzwerk künftig weiter miteinander zu verbinden. Die Ergebnisse sollen in einem Tagungsband publiziert werden. Interessierte sind eingeladen, bis zum 31.01.2024 ein kurzes Abstract (300 Wörter) an
Ort: Universität Bremen
Datum: 18./19.03.2024
Organisation: Dr. Hadassah Stichnothe (Universität Bremen)
[Quelle: Pressemitteilung]