Auf den bisher zwei Tagungen zur Kinder- und Jugendliteratur in der DDR, die jeweils im September 2022 und 2023 an der Universität Potsdam stattfanden, ging es darum, sich im zeitlichen Abstand der Kinder- und Jugendliteratur (KJL) in der DDR überhaupt erst wieder zu nähern. Es war betont worden, dass in den 1990er Jahren noch verschiedene Arbeiten zur DDR-KJL erschienen sind (u.a. Dolle-Weinkauff/Peltsch 1990; Gansel 1995, 1997, 1999; Richter 1991, 1995, 1996, 2000; Rouvel 1995). Das wichtige Handbuch zur DDR-Kinderliteratur SBZ/DDR 1945-1990, das von einem Team um Rüdiger Steinlein verantwortet wurde (Steinlein u.a. 2006) sowie das Kapitel „Kinder- und Jugendliteratur der DDR (Dolle-Weinkauff/Peltsch 2008) in der überarbeiteten 3. Auflage der „Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur“ (Wild 2008) bilden gewissermaßen den Abschluss. Seitdem finden sich nur vereinzelt Beiträge zur KJL in der DDR (u.a. Becker 2020, Gansel 2010, 2022, Max 2020, Kümmerling-Meibauer/Meibauer 2021, Roeder 2020, Hernik 2022), die einzelne Aspekte der DDR-KJL in den Blick nahmen. Die Tagungen, an denen auch Autorinnen und Autoren teilnahmen, zielten darauf, Aspekte des Handlungssystems KJL in der DDR einsehbar zu machen und dies nicht zuletzt deshalb, weil das Wissen über die Zusammenhänge in den letzten Jahrzehnten zunehmend verloren gegangen ist. Dies betraf etwa das Profil einzelner Verlage (u.a. Kinderbucherlag, Verlag Neues Leben) wie auch Fragen danach, wie konkret im einzelnen Fall die Druckgenehmigungsverfahren aussahen. Grundsätzlich wurde dabei methodologisch versucht, einem modernisierungstheoretischen Ansatz zu folgen. Dies bedeutet, die Unterschiede in Struktur und Funktion der Literatursysteme in den beiden deutschen Staaten zu berücksichtigen.
Für das Literatursystem DDR ergaben sich entsprechend andere „Funktionssetzungen“, die Literatur übernahm in den ersten Jahren nach Gründung der DDR zunächst – vereinfacht gesagt – „sozialaktivistische Aufgaben“ (Uwe Johnson), und dies betraf sowohl die Allgemeinliteratur als auch die KJL. Mit anderen Worten: Literatur suchte identitätsstiftend, kollektivbildend und gesellschaftslegitimierend zu wirken. Und sie konnte sich dabei in marxistischem Sinne auf reale Veränderungen der sogenannten materiellen Basis berufen (u.a. kein Privateigentum an Produktionsmitteln, daher neues Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen). Dass auf dieser Grundlage – unabhängig davon wie man sie rückblickend einschätzt – andere „Geschichten“ entstanden und entstehen mussten, und das „Was“ und „Wie“ des Erzählens sich von der zeitgleich veröffentlichten Literatur in der Bundesrepublik unterschied, ist erklärlich. Uwe Johnson, der 1959 die DDR verließ, hat entsprechend betont, dass die „Verhältnisse der Geschichte“ die Art und Weise der Darstellung bestimmen. Später brachte er dies auf die Formel: „Die Geschichte sucht, sie macht sich ihre Form selber“ (Uwe Johnson). Von daher erscheint es problematisch, wenn die Suche nach modernen literarischen Techniken einseitig als Maßstab des Erzählens gilt und daher seit den 1950er Jahren allein die „junge deutsche Literatur der Moderne“ (Walter Jens) des Westens zum Gradmesser avancierte. In einer sozialkritisch-realistischen Erzähltradition verankert, suchten Autoren wie Heinrich Böll, Wolfgang Koeppen, Max Frisch oder Martin Walser, in anderer Weise dann Günter Grass, das Spannungsfeld von „faschistischer Vergangenheit und kapitalistischer Gegenwart“ (Schnell 1986) mit neueren Erzählverfahren zu erfassen. Von solchen Prämissen hob sich die Literatur in der DDR mit Notwendigkeit ab, wenngleich es natürlich auch um die Auseinandersetzung mit Faschismus und Krieg ging, nicht zuletzt in der KJL.
Aus den genannten Gründen soll es nunmehr neben Veränderungen, die das letzte Jahrzehnt in der DDR betreffen, vor allem um eine gründliche Textanalyse gehen. Anders gesagt, nicht eine „vordergründige Einordnung in systemstabilisierende und systemkritische Texte und Autoren“ (Richter 2000) – wie oftmals praktiziert – ist angestrebt, sondern das Herstellen von Zusammenhängen zwischen „exakter Textanalyse“ und den literarischen wie außerliterarischen Kontexten. Ursula Heukenkamp hatte nach dem Ende der DDR betont, dass es darum gehen müsse, sich den „literarischen Texten samt ihren Kontexten“ mit Achtung vor der „Einzelheit und Einmaligkeit der je anderen Zeit“ zu nähern. Dazu gehöre nicht zuletzt, dass es nun um eine „Periode des beinahe positivistischen Sammelns von Sachverhalten gehe“ (Heukenkamp 1991). Diese Forderung ist – zumindest hinsichtlich der KJL in der DDR – weitgehend uneingelöst.
Auf der Tagung soll es daher ausgehend von bestimmten stofflich-thematischen Zugängen um Narratologisches gehen, mithin um „story“ und „discourse“. Ziel ist es, durch konzise Einzelanalysen jene KJL-Texte herauszustellen, die für ihre Zeit Innovatives einbrachten. Damit in Verbindung steht die Frage nach einem möglichen Kanon von Texten der DDR-KJL. Eine solche Frage nach dem Kanon ist immer eine danach, „was bleibt“!? Beim Kanon geht es nämlich um Textmenge, einen Korpus maßgeblicher, bedeutungsvoller Werke. An den ausgewählten Texten lassen sich Gesellschaftsdeutungen, Wirklichkeitserfahrungen, Gefühle, Visionen von Generationen festmachen, ja sie ermöglichen das Gespräch von Menschen, sie fördern Kommunikation, sie erzeugen und sind Ausdruck von Werten (Vgl. Gansel 2002, Korte 2002). Eine solche Verständigung erscheint mit Blick auf die KJL in der DDR überfällig und sollte im Abstand von mehr als 30 Jahren neu geführt werden. Dass dabei in narratologischer Perspektive Figuren-Handlungskonstellationen sowie die jeweiligen Schauplätze ebenso zu hinterfragen sind, steht außer Frage. Die Einzelanalysen ausgewählter Texte können wiederum als Reflex auf gesellschaftliche Modernisierungsphänomene in der DDR betrachtet werden. Von daher ist mitzudenken, dass es ab den 1960er Jahren in der KJL in der DDR – wie auch in der Allgemeinliteratur – einen Wandel gab und es zu einer „ästhetischen Emanzipation“ kam. Vor diesem Hintergrund seien exemplarisch einige mögliche Themenfelder angesprochen und Texte genannt:

  • Kinder- und jugendliterarische Texte, in denen es um die Auseinandersetzung mit Krieg und Faschismus sowie die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung und den Holocaust geht. In diesem Rahmen ist zu beachten, dass zum Themenfeld „Faschismus und Widerstand“ über die Jahrzehnte bis 1988/89 allein über 200 Texte im Bereich von erzählender Literatur und Sachbuch entstanden sind (Vgl. Dolle-Weinkauff/Peltsch 2008; Hähnel-Mesnard/Schubert 2016). Zu denken ist an Texte wie: Karl Neumann „Das Mädchen hieß Gesine“ (1966); Horst Beseler „Käuzchenkuhle“ (1965); Peter Abraham „Pianke“ (1981) und „Fünkchen lebt“ (1988); Bodo Schulenberg „Markus und der Golem“ (1987); Vera Friedländer „Späte Notizen“ (1982); Gisela Karau „Loni“ (1982); Gerhard Holtz-Baumert „Die pucklige Verwandtschaft“ (1985) und „David – ein glückliches Kind“ (1981); Jürgen Jankowsky „Ein Montag im Oktober“ (1985); Dieter Schubert „O Donna Klara“ (1981). 

  • Die Neu- und Nacherzählung mythologischer Stoffe sowie älterer Stoffe der deutschen und internationalen Literatur. Dazu gehören: Günter de Bruyn „Tristan und Isolde“ (1975), Franz Fühmann „Das hözerne Pferd“ (1982) und „Prometheus“ (1976); Gerhard Holtz-Baumert „Daidalos und Ikaros“ (1987); Werner Heiduczek „Die seltsamen Abenteuer des Parzival“; (1974); Hannes Hüttner „Herakles“ (1979). Die zwölf Abenteuer“ (1980); Rolf Schneider: „Die Abenteuer des Herakles: Nach alten Sagen neu erzählt“ (1978). 

  • Texte, die das Reisemotiv nutzen, um aus der „Welt der Gewöhnungen“ zu entkommen: Benno Pludra „Die Reise nach Sundewit“ (1966); Bernd Wolff „Alwin auf der Landstraße“ (1971); Gerhard Holtz-Baumert „Trampen nach Norden“ (1975); Günter Ebert „Mein Vater Alfons“ (1977); Siegfried Weinhold „Stelzenbeins Reise mit dem Onkel“ (1978); Uwe Kant „Die Reise von Neukuckow nach Nowosibirsk“ (1981). 

  • Eine maßgebliche Rolle spielen Adoleszenzromane, wenngleich diese Gattungsbezeichnung, die in einzelnen Texten mit dem Reise- und Umzugsmotiv verbunden war (Gerhard Holtz-Baumert „Trampen nach Norden“, 1975; Rolf Schneider „Die Reise nach Jaroslaw“, 1974) nicht verwendet wurde (Gansel 1999, 2004, 2011; Fernández Pérez 2022, Hernik 2022). Systemprägend wirkte in diesem Zusammenhang Ulrich Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W.“, 1972). Es folgten wichtige Texte wie Gunter Preuß „Tschomolungma“ (1981); „Feen sterben nicht“ (1987); Günter Görlich „Das Mädchen und der Junge“ (1981). Ein frühes Beispiel war Joachim Wohlgemuths „Egon und das achte Weltwunder“ (1962), auch Karl Neumanns erfolgreiche Trilogie „Frank“ (1958), „Frank und Irene“ (1964) und „Ulrike“ (1974) gehören in diesen Kontext. Zahlreiche Texte, die von Jugend bzw. Adoleszenz erzählten, wurden sodann in der extra eingerichteten „Neuen Edition für junge Leute“ im Verlag Neues Leben publiziert. In diesem Rahmen steht die Frage danach, ob es in der DDR-KJL eine „Mädchenliteratur“ gegeben hat bzw. in welcher Weise sich die Texte, in denen Mädchen im Zentrum standen, in ihrer Modernität von der zeitgleichen Literatur in der Bundesrepublik unterschieden.
  • Beim Blick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der KJL in der DDR und der BRD ist auch die sogenannte Abenteuerliteratur zu nennen, die in der DDR auf „Authentizität und nichtrassistische Darstellung“ (Dolle-Weinkauf/ Peltsch 2008) zielte. Hierzu zählen Ludwig Renns „Trini“ (1954) wie auch die später von der DEFA verfilmten Romane von Lieselotte Welskopf-Henrich über den Kampf der Dakota in Nordamerika (u.a. „Die Söhne der großen Bärin“, 1951 ff.) In anderer Weise wird die Auseinandersetzung um Schuld im Dritten Reich mit einer abenteuerlichen Handlung in Horst Beselers Roman „Käuzchenkuhle“ (1964) verflochten, der über Jahrzehnte zum Kanon des Deutschunterrichts gehörte. 

  • Die sogenannte „Umzugsliteratur“, zu der Texte gehören, in denen die jugendlichen Helden durch Mobilitätsanforderungen sich unter veränderten örtlichen Verhältnissen zurechtfinden müssen (Günter Görlich: „Den Wolken ein Stück näher“ (1971); Edith Bergner „Das Mädchen im roten Pullover“ (1974); Benno Pludra „Insel der Schwäne“ (1980); Joachim Nowotny „Der Riese im Paradies“ (1969) und „Abschiedsdisko“ (1981). 

  • Eine gesonderte Rolle spielten seit den 1970er Jahren KJL-Texte, in denen es um Fragen nach dem Verhältnis zur Natur und Umwelt geht. Dazu gehören: Horst Beseler „Die Linde vor Priebes Haus“ (1970) und „Tiefer Blauer Schnee“ (1976); Bernd Wolff „Biberspur“ (1979); Kurt David „Antennenaugust“ (1975) und vor allem die Bücher von Wolf Spillner “Wasseramsel“ (1984) und „Taube Klara“ (1988). 
Die Auflistung von thematischen Zugängen könnte fortgesetzt werden. Als Grundsatz für die Auswahl der ins Auge gefassten Texte sollte nolens volens die Frage nach der literarischen Qualität stehen. Es geht also letztlich um den Versuch, einen Kanon der DDR-Kinder- und Jugendliteratur zu entwerfen, der seine Grundlage in konzisen Einzelanalysen findet. Was ausdrücklich nicht angestrebt ist, das sind Darstellungen, von denen der Historiker Jürgen Kocka sagt, dass ihre „moralisch-politischen Urteile der Gegenwart relativ ungefiltert auf die Interpretation der DDR-Geschichte“ (Kocka 1993) und ihrer Literatur durchschlagen. 


Die genannten Aspekte verstehen sich als Rahmen für Beitragsvorschläge. Weitere Anregungen sind ausdrücklich erwünscht. Die Veranstalter erbitten kurze Abstracts und Informationen zum CV (ca. 15 Zeilen) bis zum 31. März 2024 an folgende Anschriften:

  • Prof. Dr. Carsten Gansel Justus-Liebig-Universität Gießen FB 05 Sprache, Literatur, Kultur Germanistisches Institut Otto-Behaghel-Str. 10B
35394 Gießen Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.
  • Dr. Monika Hernik Universität Potsdam Universitätscampus II Golm Haus 16, Raum 2.05 Karl-Liebknecht-Str. 24-25 14476 Potsdam OT Golm Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.
  • Dr. José Fernández Pérez Justus-Liebig-Universität Gießen FB 05 Sprache, Literatur, Kultur Germanistisches Institut Otto-Behaghel-Str. 10B
35394 Gießen Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.

[Quelle: Pressemitteilung]