Alte und neue Märchen
Der bereits beim Goldenen Spatz und beim Lucas in Frankfurt zu beobachtende Trend, dass Märchenverfilmung derzeit beim Publikum besonders hoch im Kurs stehen, setzte sich auch beim Schlingel fort. Die Europäische Kinderjury mit 16 Kindern aus acht verschiedenen Nationen vergab ihren Preis an den tschechischen Fernsehfilm Der Kronprinz (Korunní princ) von Karel Janák. Im Streit um die Thronnachfolge greift der jüngere Bruder zu unlauteren Mitteln und verabreicht dem Kronprinzen ein Zaubermittel, das ihn seine Herkunft und sogar seinen Namen vergessen lässt, nicht jedoch seine charakterlichen Stärken und seine kämpferischen Fähigkeiten. Der um eine romantische Liebesgeschichte ergänzte Kampf des Guten gegen das Böse aus längst vergangenen Zeiten ist kurzweilig inszeniert, wenn dem Film auch die großen Kinobilder fehlen. (Link zur Schlingel-Festivalseite)
Ungleich mehr Gegenwartsbezüge weist das im Schulalltag verankerte niederländische Märchen Meister Frosch (Meester Kikker) von Anna van der Heide auf. In dieser amüsanten und liebevoll inszenierten Geschichte nach dem Kinderbuch von Paul van Loon rettet die kleine Sita, die Tiere über alles mag, ihren geschätzten Lehrer Frans, der sich immer dann in einen Frosch verwandelt, wenn jemand auf diese Tiere zu sprechen kommt. Zur großen Bedrohung wird dann der böse Direktor Storch, der nicht zufällig genau so heißt. (Link)
Auch Onneli und Anneli im Winter (Onnelin ja Annelin Talvi), der den Publikumspreis erhielt und ebenfalls nach einem Kinderbuch entstand, lässt sich als modernes Fantasymärchen beschreiben. In der finnischen Produktion von Saara Susanna Cantell beschützen zwei Mädchen, die alleine in einem großen Haus leben, die miniaturgroße Familie McTinie vor übelwollenden Dorfbewohnern, indem sie die Familie vorübergehend in ihrem Puppenhaus unterbringen. (Link)
Auf Schatzsuche
Auch das Thema Schatzsuche und damit die sogenannten "Kinder"-Krimis, in denen junge Menschen beweisen können, was in ihnen steckt, erfreuen sich weiterhin großer Beliebtheit. In Der Schatz (Klad) von Ira Wolkowa wollen die beiden Kinder Goscha aus der Provinz und Katja aus Moskau in Anlehnung an ihre Vorbilder Sherlock Holmes und Dr. Watson den Diebstahl eines wertvollen Medaillons aufklären, das der Legende nach zu einem verborgenen Ritterschatz führt. Entstanden nach einer Idee des weltberühmten Clowns Ivan Popov, spielt der Film weitgehend im Milieu eines Wanderzirkus – was über dramaturgische Schwächen allerdings nicht ganz hinwegretten kann.
In der polnischen Literaturverfilmung Die Jagd nach den Stiefeln (Klub Włóczykijów) von Tomasz Szafrański sind es dann ein paar alte Militärstiefel, die aus einem Museum gestohlen werden und die eine Botschaft enthalten, die ebenfalls zu einem Schatz führt. Und damit das Ganze noch etwas spannender wird, beginnt mit der Schatzsuche ein aufregender Wettlauf gegen die Zeit.
Auf die Spitze getrieben wird ein solcher Spannungsbogen schließlich in der deutschen Produktion Allein gegen die Zeit, die Kinofassung der gleichnamigen beliebten Fernsehserie, die in Chemnitz in Welturaufführung lief. Hier befindet sich eine Klasse kurz vor dem Abitur auf einer Projektfahrt ins vermeintlich langweilige Hildesheim und ist nach dem Fund eines uralten heidnischen Relikts plötzlich nicht nur mit dem Leben bedroht, sondern muss gleich die ganze Welt retten. Überaus spannend inszeniert und mit bemerkenswerten Darstellerleistungen glänzend, erfüllt der Film das Bedürfnis vieler Jugendlicher nach Nervenkitzel und Action. Wenngleich auch die Handlung selbst dermaßen übertrieben und an den Haaren herbeigezogen ist, dass im Vergleich dazu die Märchenstoffe über Ritter, Drachen und Zauberer fast schon einen dokumentarischen Touch gewinnen. (Link)
Natur und Wildnis
Dass sich im Kino auch glaubwürdigere Geschichten nicht minder spannend und aufregend erzählen lassen, zeigte sich auf dem Festival mit drei zum Teil mehrfach ausgezeichneten Filmen, in denen die Natur eine gleichberechtigte Rolle neben den Hauptdarstellern spielt. Gleich drei Auszeichnungen, darunter der Preis der Juniorjury, gingen an den neuseeländischen Film Hunt for the Wilderpeople von Taika Waititi, nach einem Buch von Barry Crump. Ein übergewichtiger junger Maori erhält in einer Pflegefamilie weitab von der Zivilisation eine letzte Chance, um dem Jugendgefängnis zu entgehen. Als die Pflegemutter unerwartet stirbt und der Junge wieder abgeholt werden soll, entscheidet er zusammen mit dem Pflegevater, sich über ein halbes Jahr lang in den Wäldern vor der Polizei und dem Jugendamt zu verstecken und in der Wildnis zu überleben. Ein überaus bildgewaltiger Film, der vor anarchischer Kraft strotzt, mit witzigen Einfällen unterhält und mit skurrilen Situationen aufwartet, die in Verbindung mit einer Coming-of-Age-Geschichte bisher noch nicht auf der Leinwand zu sehen waren.
Nicht minder überzeugend war der slowenische Film Komm mit! (Pojdi z Mano) von Igor Šterk, in dem sich vier Jugendliche auf eine Foto-Tour durch ein wildes unbekanntes Slowenien begeben, sich dabei jedoch verlaufen und ohne Orientierung und Handyempfang durch den Wald irren. Dabei fühlen sie sich beobachtet und geraten immer mehr in Panik. Die Geschichte soll auf einer Literaturvorlage beruhen, wenngleich die Parallelen zu dem Horror-Filmklassiker The Blair Witch Project unübersehbar sind. Da dieser ausgezeichnet erzählte Film den Sonderpreis des MDR erhielt, ist zu hoffen, dass er demnächst auch in einer deutschen Version herauskommt.
Eine übermächtige Natur spielt schließlich auch in Der lange Weg nach Norden von Rémi Chayé eine zentrale Rolle. Die französisch-dänische Koproduktion erhielt den Preis für den besten Animationsfilm und handelt von einer mutigen jungen Russin, die sich auf die Spuren ihres verschollenen Großvaters begibt, der einst auf einer Expedition zum Nordpol ums Leben gekommen ist.
Fremde und seltene Tiere
Die Wildnis ist selbstverständlich auch die Heimat von wilden Tieren, die zu einer Bedrohung für den Menschen werden können. Manchmal lassen sich diese aber auch zähmen oder sind bereits seit Jahrhunderten domestiziert, wie etwa Hunde oder Katzen, die in unzähligen Kinder- und Jugendfilmen zu besten Freunden vorzugsweise junger Menschen wurden. In diesem Festivaljahrgang allerdings hat der Schlingel solche längst ausgetretenen Pfade verlassen.
Der US-amerikanische Film The Eagle Huntress von Otto Bell etwa spielt im mongolischen Teil des Altaigebirges. Weitgehend dokumentarisch erzählt er die authentische Geschichte der 13-jährigem Aisholpan und ihrer kasachischen Familie. Neben ihrem Wunsch irgendwann Ärztin zu werden, verfolgt sie das Ziel, als erstes Mädchen mit einem Adler jagen zu dürfen. Diese Tradition war bisher nur den männlichen Nachkommen vorbehalten und erfordert viel Mut und Kraft, zumal ein junger Adler erst aus dem Nest "gestohlen" und trainiert werden muss, bevor er nach sieben Jahren wieder seine Freiheit erhält. Gegen den Widerstand vieler alter Stammesmitglieder und mit Unterstützung ihres Vaters gelingt es Aisholpan tatsächlich, ihr Ziel zu erreichen.
Wer noch nie ein Wasserbüffel-Rennen gesehen hat, sollte sich unbedingt Der Büffelreiter (Buffalo Rider) von Joel Soisson ansehen. In seiner Dramaturgie durch und durch amerikanisch, wurde der Film in Thailand gedreht. Die in Los Angeles aufgewachsene 13-jährige Jenny ist noch immer nicht über den Verlust ihrer thailändischen Mutter hinweggekommen. Daher sträubt sie sich, als sie für mehrere Monate zu ihrer Großmutter nach Thailand muss und mit einer ihr völlig fremden Kultur konfrontiert wird. Durch die Begegnung mit ihrem gleichaltrigen stummen Mitschüler Boonrod, der wie sie kein Wort spricht und von den anderen Kindern schikaniert wird, findet sie zu ihren eigenen Wurzeln und kann zugleich ihrem neuen Freund helfen.
Sogar ein Belugastör kann inzwischen zum Filmhelden werden, wie der iranische Film Beluga von Mehdi Jafari zeigt. Ihres wertvollen Roggens wegen, der als Kaviar auf dem Markt verkauft wird, sind diese Tiere im Kaspischen Meer unmittelbar vom Aussterben bedroht. Als der junge Damon, der wie sein Vater später einmal Fischer werden möchte, zufällig einen solchen Stör fängt, gerät er in Gewissenskonflikte und in große Gefahr: Denn skrupellose Fischräuber versuchen mit allen Mitteln, dem Jungen seine Beute abzujagen, der zugleich vor der schweren Entscheidung steht, entweder seiner notleidenden Familie finanziell zu helfen oder dem Tierschutz Vorrang zu geben und den Stör in eine Zuchtstation zu bringen. Typisch für viele iranische Filme ist die moralische Entwicklung der jungen Protagonisten. Erstmals jedoch stehen thematisch nun auch Nachhaltigkeit und Tierschutz im Mittelpunkt eines Kinderfilms.
Erste Liebe – ganz anders als man denkt
Liebesgeschichten spielen für Publikum fast jeden Alters eine wichtige Rolle; von der ersten unschuldigen oder romantischen Liebe wie im oben genannten Märchenfilm bis zu tiefgreifenden Beziehungen, die eine besondere dramatische Entwicklung erfahren. Drei solcher Geschichten letzterer Art sind beim diesjährigen Schlingel besonders in Erinnerung geblieben.
Halb und Halb (Yarim) von Çağıl Nurhak Aydoğdu beginnt zunächst wie ein typisches Drama über Kinderehe und Zwangsverheiratung in der Türkei und anderswo. Die kurdischen Eltern der 15-jährigen Fidan sehen in ihrer Not tatsächlich keinen anderen Ausweg, als ihre Tochter einer wohlhabenden türkischen Familie als Ehefrau zu verkaufen. Was wie ein grauenhaftes Sozialdrama beginnt, entwickelt sich allerdings unversehens zu einem wunderbaren Liebesfilm über die Freiheit des Einzelnen und die Würde des Menschen. Fidans Ehemann Sidah ist 20 Jahre älter, geistig zurückgeblieben und von seiner Mutter komplett verzogen. Mit Fidan kann er zunächst nichts anfangen, Hauptsache, er hat nun endlich das Smartphone bekommen, welches ihm vor der Heirat versprochen wurde. Völlig unerwartet nähern sich die beiden Eheleute wider Willen einander an, spielen bald wie Kinder miteinander, rebellieren und verbinden sich gegen Sidahs Familie, die nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht war und den Sohn selbst nie ernst genommen hat. Vielleicht ist das auch nur ein schönes Märchen, aber mit unmittelbarem Realitätsbezug, der unaufdringlich zur Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen und Problemen anregt.
Gelbe Blumen auf grünem Gras (Yellow Flowers on the Green Grass) von Victor Vu ist die Verfilmung eines Romans des vietnamesischen Schriftstellers Nguyen Nhat Anh. Die Geschichte über zwei Brüder, die in einfachen Verhältnissen aufwachsen und beide in ihre Mitschülerin Moon verliebt sind, spielt in Vietnam Ende der 1980er Jahre. Dem Film gelingt es in eindringlichen Bildern voller Mystik und Magie, die Gefühlswelt dieser Kinder im Wechselspiel von Traum und Realität, Zuneigung, Hass und Neid zu vermitteln. Ein wunderschöner Film, der an einer fremden Kultur teilhaben lässt und zugleich die universelle Geschichte einer Kindheit unter erschwerten Bedingungen erzählt.
Stärker an ein jugendliches Zielpublikum richtet sich Das bin ich, Emily (My Name is Emily) von Simon Fitzmaurice, der den Filmpreis der Jugendjury erhielt. Das irische Roadmovie handelt von zwei jungen 16-jährigen Außenseitern, die allen äußeren Umständen zum Trotz zueinander finden. Emilys Vater, ein berühmter Schriftsteller, erlitt nach dem Tod seiner Ehefrau einen Nervenzusammenbruch und wurde schließlich in eine psychiatrische Klinik eingeliefert. Da Emily schon lange nichts mehr von ihm gehört hat, beschließt sie, ihn aufzusuchen und aus der Klinik zu holen. Ihr neuer Mitschüler Arden, der in einem dauernden Konflikt mit seinen Eltern liegt, möchte ihr helfen. Auf ihrer langen Reise erfahren beide und mit ihnen die Zuschauer eine Menge über das Leben, die Liebe und den Tod. Glücklicherweise werden diese Themen nicht nur über bedeutungsschwere Dialoge, sondern auch über symbolkräftige Bilder transportiert. Die Auszeichnungen für diesen und andere Filme beweisen aufs Neue, dass junge Menschen über spannende Abenteuer hinaus weiterhin an Geschichten aus dem wahren Leben interessiert sind, die sie emotional bewegen.
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