Andreas Wicke: Lieber Henrik Albrecht, wie kommt man als Musiker eigentlich darauf, Kinderhörspiele zu schreiben bzw. zu komponieren? Und wie sieht Ihre musikalische Biographie aus?
Henrik Albrecht: Als Kind der 70er und 80er Jahre bin ich natürlich ein Kassettenkind – oder doch eher ein Schallplattenkind, denn das Ritual des Schallplatten Auflegens mit dem Säubern und dem Wenden der Platte hat mich immer besonders fasziniert. Es ist die Frage, welches Ritual wir für das Abspielen einer mp3-Datei wohl entwickeln können. Welche Aura hat eine Datei, die wir aus dem Internet heruntergeladen haben? Doch zum Glück gibt es ja noch die CD.
Neben klassischer Musik hörte ich als Kind natürlich auch gerne Hörspiele. Mein absolutes Lieblingshörspiel war 20.000 Meilen unter dem Meer. Das habe ich so sehr geliebt, dass ich es später als Komponist noch einmal neu bearbeitet und mit Orchester und Chor vertont habe. Kapitän Nemo spielte in diesem Hörspiel immer auf seiner Orgel, wenn die Nautilus in die Fluten des Meeres eintauchte (natürlich Bachs d-moll Toccata). Was für ein fantastisches Bild!
Dann hörte ich immer diese Platten über das Leben bekannter Komponisten. Karlheinz Böhm erzählte dort die Biographien, meist sehr romantisch verklärt. Vermutlich würde jeder Musikwissenschaftler heute die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn er eine solche Aufnahme nochmal in die Hände bekäme. Mich aber inspirierten diese Platten so, dass ich sehr unbekümmert mit 6 Jahren meine erste Sonatine für Klavier komponierte. Ich hatte mit 5 Jahren mit Klavierunterricht angefangen. Dann folgte aber erst einmal nichts mehr an Kompositionsversuchen. Später lernte ich noch Geige und Orgelspielen. Durch das Orgelspiel kam ich wieder zum Komponieren. Da muss man ja immer Choralvorspiele und ähnliches entwerfen. Gleichzeitig spielte ich neben meinem Zivildienst in einer Bar Klavier, das war dann mehr am Jazz orientiert. Hierbei war es für mich wahnsinnig spannend herauszufinden, was die Gäste, die in die Bar kamen, wohl hören wollten. Nicht jeder äußert ja seine Wünsche an den Pianisten offen.
Nach dem Zivildienst studierte ich zunächst Klavier, später Schulmusik und Komposition sowie Tonsatz an der Hochschule für Musik und Tanz in Köln. Schon während des Studiums bekam ich Kontakt zum WDR und komponierte meine ersten Hörspielmusiken. Später entwickelte sich daraus mein Beruf als Komponist. Zu Anfang meiner Karriere war das Komponieren für Hörspiele mein wichtigstes Standbein. Jetzt hat sich mein Tätigkeitsfeld auf viele Bereiche ausgeweitet, vermehrt auch auf das Gebiet des klassischen Konzerts und der Oper.
Wenn ich an Hörspielmusik denke, fallen mir zunächst die Titelmusiken bekannter Hörspielserien ein. Außerdem unterstreicht Hörspielmusik die Atmosphäre, markiert räumliche und zeitliche Trennungen etc. Musik ist in fast jedem Hörspiel eine wichtige Zutat, bei Ihnen scheint sie aber noch einmal deutlich mehr zu sein. Wie definieren Sie (Ihre) Hörspielmusik?
Es gibt ganz klassische Hörspielmusiken von mir, bei denen die Musik die Atmosphäre und die Handlung unterstützt und sich weitgehend im Hintergrund hält. Neben diesen klassischen Formen interessierte mich aber immer auch eine besonders enge Verzahnung von Text und Musik, wie sie beispielweise bei der Oper oder dem Melodram vorkommt. Eins meiner ersten Hörspiele, für das ich für den WDR die Musik schrieb, war ein Experiment, bei dem wir Musik und Sprache zugleich aufnahmen. Beide Elemente reagierten aufeinander und die Schauspieler waren hocherfreut und inspiriert, da ihnen die Musik eine andere Sprechhaltung ermöglichte und sie mehr Emotionen und Farben verdeutlichen konnten mit der Musik im Rücken. Dann folgte meine erste Hörspielmusik für Chor und Orchester zu dem neunteiligen Hörspiel Die Säulen der Erde nach Ken Follett. Der Farbenreichtum eines symphonischen Orchesters ist für eine akustische Kunstform wie das Hörspiel eine enorme Bereicherung.
Aus diesen Erfahrungen heraus entwickelte ich schließlich die Kunstform des Orchesterhörspiels. Hier vertone ich klassische Stoffe der Weltliteratur für Sprecher und Orchester. Die Werke sind eine Weiterentwicklung des klassischen Melodrams (ein Musikstück für Sprecher und Instrumente, meist Klavier). Die Sprecher müssen allerdings sehr genau auf die Musik reagieren. Ihre Textpositionen sind taktgenau festgelegt. Wenn sie die Einsätze für ihre Texte nicht richtig erwischen, funktioniert das Zusammenspiel von Text und Musik nicht. Auch kann es dann passieren, dass die Sprecher mit ihrem Text in ein sehr lautes Orchester-Tutti geraten, und niemand versteht mehr den Text. Durch diese enge Verzahnung von Text und Musik entsteht eine neue Kunstform. Musik und Text ergänzen sich und verschaffen ein Hörerlebnis, das mehr ist als die Summe der beiden Teile.
Wie entstehen die Hörspiele der Reihe … mit Pauken und Trompeten bzw. wie arbeiten Sie daran?
Bei meinen Orchesterhörspielen schreibe ich zuerst den Text. Diese Bearbeitung reduziert die Vorlage auf wenige leicht verständliche Bilder. Ähnlich wie in der Oper ist es bei dieser komprimierten Kunstform wichtig, sprachlich nicht zu überladen zu agieren. Bei der Text-Bearbeitung habe ich schon die groben Kulminationsmomente und wichtigsten Szenen der Geschichte im Auge. Dann beginnt die Arbeit des Komponierens. Die ist je nach Stoff vollkommen unterschiedlich. Jedoch versuche ich meist, ein signifikantes Motiv für die Hauptfigur zu entwickeln. Dieses Motiv muss sehr gut in "verschiedenen Lebenslagen" wiedererkennbar sein (bspw. gehetzt, fröhlich, traurig, im Bass, ganz hoch in der Melodie usw.). Für diese verschiedenen Momente lege ich kleine Skizzen an. Diese komponiere ich immer am Klavier mit Papier und Bleistift. Mir ist es in diesem Moment wichtig, die Musik direkt unter meinen Händen zu haben. Wenn das Leitmotiv dann schon durch dick und dünn gegangen ist und es immer noch erkennbar ist und ich schon einige Seiten an Noten vollgeschrieben habe, wechsle ich vom Klavier an den Computer und arbeite die Einfälle aus. Dann nehme ich den Text auf, den ich bearbeitet habe. Am Computer probiere ich dann das Miteinander von Text und Musik anhand einer Klavierskizze aus.
Ihre Hörspielmusik ist äußerst anspielungsreich, immer wieder hört man musikalische Zitate. Wenn Familie Otis in Das Gespenst von Canterville einzieht, klingt der Yankee Doodle, zu den Wunderland-Fantasien von Alice hört man Strauss' Also sprach Zarathustra und in Dickens' A Christmas Carol findet man so viele Weihnachtslieder, dass in der Jurybegründung des BEO von einer "musikalische[n] Schatzsuche" die Rede ist. Was kann man in Ihrer Musik noch alles entdecken?
Die musikalischen Zitate ermöglichen es mir, etwas, was außerhalb der reinen Klanglichkeit von Musik liegt, auszudrücken. Im Gespenst von Canterville spielt die amerikanische Herkunft von Familie Otis eine große Rolle. Sie ist der Grund für die Furchtlosigkeit der Familie, nur deswegen nimmt sie den altehrwürdigen englischen Spuk so unvoreingenommen und furchtlos wahr. Doch die Nationalität einer Person lässt sich musikalisch nur durch ein erlerntes Zeichen wie beispielsweise eine Nationalhymne oder ein spezifisch amerikanisches Lied ausdrücken. Daher ist das musikalische Zitat ein wichtiges Mittel für mich als Komponist, um die Bedeutungsebene der Musik auszudehnen.
Bei Alice im Wunderland hatte ich das Wachsen und Schrumpfen von Alice schon mit rein musikalischen Mitteln dargestellt. Zum Beispiel durch Zu- und Abnahme der Instrumentation oder Ausdehnung und Schrumpfung des Tonraums des Alice-Themas. Aber das gigantische Wachstum von Alice in einer Szene der Geschichte wollte ich auch noch durch den Gebrauch eines semantischen Mittels verstärken. Daher verfiel ich hier auf eine Zarathustra-Variante des Alice-Themas. Das Strauss'sche Thema zu Also sprach Zarathustra wird immer in sehr gigantischen Zusammenhängen gebraucht, beispielsweise in der Werbung. In der Welt der Filmmusik tauchte es in 2001: Odyssee im Weltraum auf, um die gigantischen Ausmaße unseres Universums darzustellen. Dieses Zitat ermöglichte es mir also, das Wachstum von Alice mit quasi außermusikalischen Anspielungen zu zeigen und zu steigern. Alice wächst durch die Verwendung dieses Zitates auf fast kosmische Größe. Im Anschluss daran weint Alice Riesentränen und erzeugt so einen Ozean, in dem sie (dann wieder geschrumpft) zu ertrinken droht. Hier formen die musikalischen Tränen-Tropfen eine kunstvolle Schichtung von verschiedenen Seemannsliedern (Jetzt fahrn wir übern See, What shall we do with a drunken sailor, My Bonny is over the ocean).
In A Christmas Carol wollte ich die Musik mit Weihnachtslieder-Zitaten durchweben. Die ganze Musik sollte quasi vom Duft nach Weihnachtsplätzchen erfüllt sein. Jedoch wollte ich diese Weihnachtslieder in ein anderes Gewand kleiden, sie sollten erzählerische Funktion übernehmen. So gibt es eine sehr unheimliche Szene, bevor Scrooge von Marleys Geist heimgesucht wird. Hier erklingt Stille Nacht Unheil verkündend in der Bassklarinette. Der erste Auftritt von Scrooges Thema wird im Bass von Morgen, Kinder, wird's was geben begleitet. Und der Klang des Liedes im tiefen Register verrät, dass es wohl nichts Gutes sein wird, was wir von Scrooge erwarten dürfen. Cratchit, der Bürogehilfe, ist hingegen ganz positiv von der Weihnachtsfreude erfüllt. Er wird durch die Lieder Kling, Glöckchen, klingelingeling und Morgen, Kinder, wird's was geben positiv dargestellt. Die Zerbrechlichkeit vom kleinen Tim wird durch das Lied Schneeflöckchen, Weißröckchen charakterisiert. Sein Leben scheint vergänglich wie eine zarte Schneeflocke. Dieser Eindruck wird von mir durch eine neue Harmonisierung des Liedes gesteigert. Die ursprünglichen robusten Harmonien weichen zerbrechlichen, kränklichen, chromatisch gefärbten Harmonien.
Ein wenig erinnert mich das Konzept der Orchesterhörspiele an Wagners durchkomponierte Großformen und an seine Leitmotivtechnik.
Bei der Leitmotivtechnik verhält es sich eigentlich ähnlich wie bei den Zitaten. Nur ist das Leitmotiv (im Gegensatz zum Zitat, das ja schon bekannt ist) ein musikalisches Zeichen, dessen Bedeutung vom Zuhörer im Verlauf (oder besser noch zu Anfang) des Stückes erlernt wird. Wenn diese Verknüpfung hergestellt ist, kann man als Komponist dieses Motiv zahlreichen musikalischen Transformationen unterziehen und so die Geschichte von dem Helden des Orchesterhörspiels, der durch dick und dünn geht, erzählen.
Bei A Christmas Carol habe ich das Scrooge-Motiv sehr plakativ zu Anfang eingeführt, um es von den bereits bekannten Weihnachtsliedern abzugrenzen. Da der Text von der inneren Wandlung handelt, die Scrooge erfährt, war es hier besonders notwendig, dies über ein Leitmotiv mit seinen Wandlungen zu erzählen. Zu Anfang des Stückes poltert das Scrooge-Motiv noch sehr verbittert durch die Welt. Doch nach den Erlebnissen mit den Geistern hat es sich zu einem versöhnlichen Weihnachtschoral verändert, dessen melodische Linie die ganze Welt umarmen möchte.
Gibt es eine Szene, die besonders effektvoll ist, auf die Sie besonders stolz sind oder an der Sie besonders lange getüftelt haben?
Die Verknüpfung der Handlung in 20.000 Meilen unter dem Meer mit dem Chor war für mich eine der bisher schwierigsten Aufgaben. Denn eigentlich hat man als Zuhörer und Komponist mit Sprechern und Orchester schon genug zu tun. Hier wollten wir aber auch noch das wunderbare SWR Vokalensemble einbinden. So gestaltete sich die Textbearbeitung und Komposition in diesem Werk besonders schwierig. Doch nach ein paar Skizzen schälte sich dann die Rolle des Chores im Verlauf der Komposition heraus. Eine meiner Lieblingsszenen ist Der Kampf mit dem Ungeheuer. Hier wechselt der Chor sehr schnell die Rollen. Mal stellt der Männerteil des Vokalensembles als Komparse die Besatzung des Schiffes dar, mit dem Aronnax und Ned Land das Meeresungeheuer fangen wollen, dann wechselt der Chor die Rolle und zählt in einer Art gesungenem Countdown die Entfernung bis zur Kollision mit dem unbekannten Objekt herunter. Hier steigert der Einsatz des Chores die Spannung der Orchestermusik und die Sprecher in ihrem aufgeregten Disput über die Herkunft des Objekts ergeben mit allen ein vielstimmiges Ganzes, was von drei Seiten an dem spannenden Handlungsfaden webt.
Dann liebe ich besonders Der Garten des Todes aus dem Gespenst von Canterville. Der Dialog zwischen Virginia und dem Gespenst ist sehr elegant im Orchester mit Violine und Bassklarinette gespiegelt. Die große Schwierigkeit war hier, den Tod (denn nichts anderes ist ja der Garten des Todes) als eine Heimat, als etwas, wonach sich das Gespenst sehnt, darzustellen. Hier hat Oscar Wilde in seinem Text unheimlich schöne Bilder gefunden und ich wollte mit meiner Musik nicht hinter diesem symbolistischen Meisterwerk zurückstehen.
Das kalte Herz war für mich auch eine große Herausforderung. Hier wird im Märchen mit dem Bild des verkauften Herzens etwas dargestellt, was wir heutzutage vielleicht als Burnout bezeichnen würden. Da gibt es diese Szene, in der Peter endlich reich ist und mit steinernem Herzen in der Kutsche fährt. Alle seine Wünsche sind erfüllt und doch ist er nicht glücklich. Diese Emotion zu komponieren, war sehr schwer.
Hat man als Komponist wirklich immer wieder Lust auf Orchesterhörspiele für Kinder? Überspitzt formuliert gibt es doch viele Beschränkungen: Hörspielmusik hat dienende Funktion und untermalt eine vorgegebene Handlung, Musik für Kinder klingt oftmals besonders eindeutig und plakativ. Sind Orchesterhörspiele für Kinder dann nicht – ketzerisch gefragt – Beschränkung im Quadrat?
Zunächst einmal mache ich gar keinen Unterschied, ob ich für Kinder oder Erwachsene komponiere. Ich komponiere in erster Linie einmal für mich. Ich bin quasi der Ersthörer und mir muss das Ganze gefallen. "Musik für Kinder" empfinde ich als vollkommen seltsame Bezeichnung. Was soll das für Musik sein? Hier denken Erwachsene, sie müssten sich irgendwie auf ein anderes Niveau einstellen. Aber so funktioniert Musik meiner Meinung nach nicht. Musik kann auf unterschiedlichste Weise den Hörer ansprechen. Es mag sein, dass ein Kind etwas anderes in Musik hört als ein Erwachsener, aber deswegen muss ich doch nicht anders (vielleicht sogar simpler, oh Graus!) komponieren. Auch im Text muss da gar nicht so stark Rücksicht genommen werden. Kinder sind ja in ihren Fragestellungen viel unverstellter und noch viel näher an metaphysischen Problemen dran als Erwachsene. So habe ich die metaphysische Ebene im Gespenst von Canterville immer als sehr fesselnd für die Kinder erlebt. Da ist kein Mucks im Zuschauerraum zu hören, wenn das Gespenst mit Virginia über den Garten des Todes spricht. Auch Kapitän Nemo ist eine sehr komplexe Figur. Wieso soll man solche Charaktere nicht auch Kindern nahebringen können? Es geht hier lediglich um die Art des Erzählens. Insofern würde ich sagen, dass es für mich keinerlei Unterschied macht, ob ich für Kinder oder Erwachsene komponiere, außer, dass die Dramaturgie in einem Stoff für Kinder stimmiger sein muss als bei Erwachsenen – die dürfen sich auch schon mal gepflegt langweilen.
Alice im Wunderland und Peter Pan sind auch alles Stoffe, die sehr komplizierte Fragestellungen behandeln. So sehe ich diese Werke auch eher als etwas, was einen lange Zeit begleiten kann. Nicht nur in der Kindheit. Sollte es einmal dazu kommen, dass ein erwachsen gewordener Hörer seine alten CDs ausgräbt und noch einmal hört, so soll er auf ihnen immer noch etwas Neues entdecken können. So als würde er eine Flaschenpost aus seiner Kindheit entkorken. Dann ist es natürlich gut, wenn dieses Werk vielschichtiger ist und der Hörer als Erwachsener einen neuen Inhalt entdecken kann. Es ist ja auch so, dass eine CD von einem Kind oft in Dauerrotation gehört wird. 300maliges Hören ist da nicht selten. Dies wird bei einem Hörspiel für Erwachsene nicht passieren. Daher ist auch hier in der Umsetzung eine höhere Komplexität wünschenswert als bei einem Stoff für Erwachsene. Und dann muss man ja auch an die Eltern denken, die das Ganze ebenso oft hören müssen. So stelle ich mir meine Musik als ein mehrdimensionales Gebilde vor, das man als Erwachsener ebenso wie als Kind betrachten kann. Meine Orchesterhörspiele laufen daher sowohl in Konzert- und Radio-Programmen für Erwachsene als auch für Kinder. Da wird von den Programmmachern kein Unterschied mehr gemacht und ich bin sehr froh, diese seltsame Schranke zwischen Erwachsenen- und Kinder-Programm passiert zu haben. Die Verknüpfung von Text und Musik kann eine neue Hörerschaft erreichen, anders als dies evtl. ein normales Konzertprogramm tun würde.
Etwas anderes ist die Vermittlung dieser Musik. Hier finde ich es eine große Herausforderung, die Prozesse, die beim Komponieren ablaufen, auch für den Laien verständlich zu machen. Wie kann man sich Musik ausdenken? Was ist der Unterschied zum Malen eines Bildes? Musik ist ja eine recht geheimnisvolle Kunstform, da der Komponist nicht an dem Endergebnis arbeitet, sondern erst einmal ein Notenbild entwirft, das dann dazu dient, die Musik aufzuführen. Wenn mein Werk fertig ist und zu Papier gebracht wurde, so ist in der realen Welt ja noch kein einziger Ton erklungen. Das alles passierte nur in meinem Kopf. Gleichzeitig haben wir das Gefühl, dass Musik zu uns spricht und unser Empfinden unmittelbar ausdrücken kann. Wie dies sein kann und wie ich mir das als Komponist zu Nutze mache, damit beschäftige ich mich, seit ich komponiere. Und schon mehrfach habe ich hierzu Vorträge vor Laienpublikum – sowohl vor Erwachsenen als auch Kindern – gehalten, hier aber jeweils verschieden formuliert. Gerade die Bedeutungsebene, die meine Musik im Hörspiel-Kontext haben muss, kann einen Zugang zu dem Verständnis von Musik herstellen. Die Funktion der Weihnachtslieder in A Christmas Carol zeigt, dass es gar nicht so sehr auf die Melodien ankommt (in diesem Fall Weihnachtslieder), sondern auf deren Verwendung (Bassregister, Begleitung mit Spannungspuls usw.). So hören wir in diesem Fall kein besinnliches Adventskonzert, sondern vielmehr eine beziehungsreiche, dramaturgische Musik, welche die Handlung, ähnlich wie ein Filmscore, fortwährend vorantreibt. So eine Hörerfahrung kann die Sinne für die Dimensionen der Musik – Melodie, Rhythmus, Harmonie, Instrumentation – schärfen.
Natürlich stellt dieses beziehungsreiche Jonglieren mit Bedeutungsebenen keine Beschränkung dar, sondern ist für mich vielmehr eine Befreiung. Seit ich die Kompositionsstile der Avantgarde studiert und auch meine atonalen Streichquartette "abgeliefert" habe, stelle ich mir die Frage, wie ich das Kommunikationsverhältnis zwischen Hörer und Komponist verbessern kann. Wie lässt es sich vermeiden, dass sich ein Zuhörer zu dumm fühlt und daher verzweifelt im Programmheft blättert und schaut, ob die dort abgedruckten Adorno-Zitate vielleicht den Zugang zum Klanggeschehen auf der Bühne erleichtern können. Mein Ziel war es, wieder einen Zugang zum unverstellten Erleben von Musik beim Zuhörer zu bekommen.
Wenn Tinker Bell in Peter Pan "spricht", tut sie das ausschließlich in Tönen, dabei kann man Tschaikowsky durchhören. Gibt es solche konkreten musikalischen Vorbilder?
Natürlich wollte ich eine starke Verwandtschaft zwischen Tinker Bell und der Zuckerfee von Tschaikowsky herstellen. Die Zuckerfee ist praktisch die Großmutter aller Märchenwesen, die durch eine Celesta dargestellt werden. Bei Tinker Bell war es mir aber auch möglich, eine gewisse Bedeutung in ihrer "Sprache", also den Celesta-Melodien, einzuführen. So "spricht" sie über Wendy und wir hören natürlich das Wendy-Motiv aus ihrem "Munde", also aus der Celesta. Genauso verhält es sich, wenn sie von Hook oder Peter Pan spricht. Diese Motive haben natürlich, wenn sie von der Celesta gespielt werden, eine ganz andere Wirkung. Gleichzeitig konnte ich mit dieser Gleichsetzung von Celesta und Tinker Bell auch Tinker Bell als handelnde Figur musikalisch darstellen. Dies geschieht besonders deutlich an der Stelle, als Peter die giftige Medizin trinken will. Hier übernimmt die Celesta die Handlung und wir hören ihrem Dahinsiechen und ihrer Auferstehung zu.
Musik kann ja durchaus subversiv sein. Unterlaufen Sie bisweilen das gesprochene Wort und erzählen musikalisch etwas ganz anderes als im Text gesagt wird?
Das ist eine Frage, die mir öfter gestellt wird. Es gibt ja seit den filmtheoretischen Texten von Eisenstein und auch von Eisler den Begriff der kontrapunktisch verwendeten Filmmusik. Es wurde sogar in solchen Texten konstatiert, dass die kontrapunktisch eingesetzte Filmmusik ästhetisch höher einzuschätzen sei als die parallel zur Handlung verlaufende, illustrierende Musik. Aus meiner Einschätzung heraus möchte ich aber sagen, dass die emotionale Wirkung von solcher Musik doch recht eindimensional ist. Sie ermöglicht eigentlich immer nur ein Heraustreten des Hörers oder Zuschauers aus der Handlung. Eine Entkoppelung. Mehr ist dazu meiner Meinung nach nicht zu sagen. Eine solche Entkoppelung kann mitunter recht wirkungsvoll sein. In A Christmas Carol beispielsweise lasse ich Fezziwigs Weihnachtsfest mit Musik und Tanz vor den Ohren des Zuhörers entstehen, verlasse dann aber die akustische Kulisse des Tanzfestes. Ich entkoppele also das innere Geschehen von Scrooge von dem Fest und nehme eine "liebliche" akustische Fokussierung auf Isabel, seine Verlobte, vor. Der rustikale Festtanz wird von einem Schleier weggewischt und ein sehnsüchtiger langsamer Walzer leitet eine Erinnerung von Scrooge ein. Im Film würde man aber trotz allem noch die Paare weitertanzen sehen, vielleicht in Zeitlupe.
In den Booklets zu den Orchesterhörspielen klingt Instrumentenkunde an, bei Alice im Wunderland wird die Querflöte als Alices Instrument vorgestellt, bei Peter Pan wird die Celesta erklärt. Die Figuren treten sogar metaleptisch aus ihren Rollen und sprechen die Orchestermusiker an. Sind die Orchesterhörspiele auch eine Art Instrumentenkunde?
Mein Gedanke, der diese Instrumentenkunde angeregt hat, war eine stärkere Verknüpfung zwischen den Sprechern und der Musik herzustellen. Die Musik soll ja auf einer Ebene mit dem Text wahrgenommen werden und so stellen diese Teile einen Durchgang der Wahrnehmung zwischen den zwei Ebenen dar. Zum anderen hat dieses Aus-der-Handlung-Heraustreten etwas von einem Brecht'schen V-Effekt. Das amüsiert mich immer sehr an diesen Stellen. Aber dieses Stilmittel habe ich länger nicht mehr eingesetzt. Zuletzt bei Alice im Wunderland.
In den Booklets versuche ich wahrhaftig so etwas wie Unterrichtsmaterial bereitzustellen. Oder zumindest das Ohrenmerk des Hörers auf irgendein musikalisches Element zu lenken, das mich beim Komponieren beschäftigt hat. Das kann ein Instrument sein, wie z. B. die Trompete beim Krieg der Knöpfe, oder eine Wahrnehmung wie der Herzschlag beim Kalten Herz.
Erwachsene Hörer versuche ich aber durchaus auch über meine Inspiration aufzuklären. In meinem Konzert für vier Holzbläser und Orchester Viel Lärm um Nichts nach der Komödie von Shakespeare möchte ich den Zuhörer nicht im Unklaren über das zu Grunde liegende Programm lassen. In der Musiktheorie gibt es immer so eine Diskussion über den Wert der Programmmusik. Steht sie vielleicht in der Hierarchie unter der absoluten Musik? Solche Wertungen interessieren mich aber recht wenig. Für mich ist das Verständnis und Empfinden von Musik beim Hörer wichtig. Und durch so ein Programm kann man eine andere Hörerwartung im Publikum abrufen als beispielsweise mit einer Symphonie.
Gibt es einen Stoff, der Sie besonders reizt, aus dem Sie gern noch ein Orchesterhörspiel machen wollen?
Derzeit entsteht ein neues Orchesterhörspiel. Es trägt den Titel Der Prinz und der Betteljunge und ist nach der Erzählung von Mark Twain. Mal schauen, wohin mich dieser Text diesmal führt.
Foto: Ekkehart Reinsch