Melanie Trolley: Wie ist es dazu gekommen, dass Sie Michael Endes Romanfragment beendet haben?
Wieland Freund: Der Thienemann Verlag ist 2015 auf mich zugekommen.
Wissen Sie, warum gerade Sie für die Vollendung des Fragments angefragt wurden? Wurde das Manuskript vorher bereits anderen Autorinnen oder Autoren angeboten?
Ob es andere Versuche gegeben hat, weiß ich nicht. Und darüber, warum man mich gefragt hat, kann ich auch nur spekulieren. Ich schreibe für Kinder und ich habe mich immer für Michael Ende interessiert.
Was hat Sie dazu bewegt, diese Aufgabe anzunehmen?
Der Reiz war einfach enorm. Das Fragment ist ein toller, reicher, im Wortsinn verheißungsvoller Text. Und ich war einmal eines der Kinder gewesen, für die Michael Ende geschrieben hat. Ich war zehn, als Die unendliche Geschichte erschien. Allein die Vorstellung, nun wie Bastian Balthasar Bux gewissermaßen in eine Geschichte von Michael Ende gerufen zu werden, war wunderbar.
Stellte Sie die Übernahme des Fragments unter Druck? Waren es Freude, Respekt oder vielleicht doch Angst, die Sie beim Schreiben begleitet haben?
Bevor es losging, hatte ich Bammel. Beim Schreiben war es irgendwann das reine Glück.
Bammel – wieso das?
Man braucht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, wie man an einem solchen Projekt scheitert. Ich habe aber eine ganze Menge Fantasie. Mir sind also ziemlich viele Scheiterszenarien eingefallen.
Wie haben Sie mit dem Romanfragment gearbeitet? In der Unendlichen Geschichte heißt es: „Tu was du willst“, konnten auch Sie bei der Arbeit an Rodrigo Raubein tun was Sie wollen, oder waren Sie durch die vorgegebenen Figuren und Handlungsansätze eingeschränkt?
Die berühmte Aufforderung aus der Unendlichen Geschichte ist ja kein Aufruf zur Anarchie. Und von „Einschränkung“ möchte ich auch nicht sprechen. Dass es schon drei prall erzählte Kapitel gab, war ja das Wunderbare. Ich war also nicht eingeschränkt, sondern beschenkt. Und ich meine das, wie ich es sage. Je länger ich mit diesen drei Kapiteln gearbeitet habe, desto reicher erschienen sie mir.
Sie berichten, dass Sie bereits als Kind Michael Endes Die unendliche Geschichte gelesene haben. Welche Rolle spielt das Werk Endes für Sie und wie wichtig war es für die Arbeit an Rodrigo Raubein Ende und seine Texte zu kennen?
„I contain multitudes“, hat Walt Whitman gesagt, und das gilt, glaube ich, für jeden Menschen. Der Junge, der ich einmal war, hat die Unendliche Geschichte tatsächlich nie vergessen; er muss sie dem jungen Mann, der ich auch einmal war, wieder eingeflüstert haben, als der sein erstes Buch schrieb. In dem, Lisas Buch heißt es, gibt es nämlich eine ganze Menge Anklänge. Bei der konkreten Arbeit an Rodrigo Raubein hat aber auch meine ganz unkünstlerische Beschäftigung mit Michael Ende eine Rolle gespielt. Es war zum Beispiel sehr hilfreich, ein bisschen was über seine Leidenschaft für Marionetten zu wissen.
Liest man die Geschichte um Rodrigo Raubein und Knirps ist kein sprachlicher oder stilistischer Unterschied zwischen den Kapiteln Endes und Ihren zu erkennen. Wie ist Ihnen das gelungen? Und wie passen Endes Schreiben und Ihrer eigenen Art Geschichten zu erzählen zusammen?
Ich freue mich, dass Sie das so empfunden haben. Es sollte kein Bruch entstehen. Andererseits habe ich Ende auch nicht imitieren wollen – zumal es „den“ unverwechselbaren Ende-Stil gar nicht gibt, dazu war Michael Ende ein viel zu guter Erzähler. Wenn also Endes und mein Schreiben zusammenpassen sollten, dann weil auch ich für jedes Buch eine passende Stimme suche. Denken Sie dran: Erzähler und Autor sind nicht identisch. Und dann kommt erschwerend noch Walt Whitman dazu. Sie wissen schon: multitudes.
In einem Ihrer Artikel über Michael Ende aus dem Jahr 2009 schreiben Sie, dass jeder Schriftsteller eine eigene Ikonografie habe. Wie gelang es Ihnen die Ikonografie Endes mit Ihrer eigenen zu verbinden?
Ich habe hoffentlich keine. In diesem Artikel habe ich mich ja beklagt, dass Michael Ende nur eine hat – und über dem Märchenerzähler mit dem schönen Bart zum Beispiel der junge Erzähler des Jim Knopf verlorengegangen ist. Oder der noch jüngere Schauspieler.
Sehen Sie Verbindungen zwischen Rodrigo Raubein und anderen Büchern Endes? Wie ordnen Sie das Buch bzw. dessen Anlage in das Gesamtwerk Endes ein?
Diese Verbindungen gibt es. Die zum Wunschpunsch ist, glaube ich, augenfällig. Roman Hocke hat bereits als er das Fragment zum ersten Mal ediert hat, darauf hingewiesen. Er hat damals auch einen Bogen zurück zum Jim Knopf geschlagen. Der späte Ende schreibt so heiter wie der frühe. Er kehrt auch zurück zu einem sehr jungen Publikum. Originell finde ich aber auch die These, die Julia Voss nach dem Erscheinen von Rodrigo Raubein in der FAZ vertreten hat. Sie sieht den Rodrigo als „Ausbruchsversuch“ Endes. Ich bin nicht sicher, ob das stimmt, aber es lohnt, darüber nachzudenken.
Durch das Lesen von Geschichten entdeckt der Papagei Sokrates Knirps´ Spuren. Haben auch Sie Knirps´ Geschichte in anderen gesucht? Und sind Teile dieser Geschichten in den Roman eingeflossen?
Sokrates ist clever, aber leider unoriginell. Mit seiner Methode kann man per se nur Klischees produzieren. Ich glaube, er hat selbst diesen Verdacht … Aber es gibt durchaus versteckte Zitate im Buch. Sie sind – auch nach dem dritten Kapitel – alle von Michael Ende.
Viele meiner Fragen zielten auf eine Einordnung in bzw. Anknüpfung an das Werk Endes ab, doch wie viel Wieland Freund steckt eigentlich in Rodrigo Raubein? Wie fügt sich dieses Buch in Ihr eigenes Werk ein? Haben Sie Gedanken und Ideen aus eigenen Texten wieder aufgenommen und weitergesponnen?
Wenn dieses Buch da jetzt so neben den anderen steht, fügt es sich eigentlich ganz gut in die Reihe. Ich nehme es jedenfalls nicht als Fremdkörper wahr und habe sehr schöne Erinnerungen ans Schreiben. Und sonst? Eine Vogelfigur wie Sokrates ist sicher typisch für mich, aber erfunden hat sie Michel Ende. Verrückt, oder?
Sie bezeichnen neben Michael Ende auch Otfried Preußler und Max Kruse als Teil Ihrer schriftstellerischen Großelterngeneration. Lässt sich Rodrigo Raubein als ein intertextueller Flickenteppich lesen, der nicht nur das Werk Endes und Ihr eigenes in sich aufnimmt, sondern auch von weiteren literarischen Vorbildern geprägt ist?
Ich hoffe sehr, dass Rodrigo Raubein kein Flickenteppich ist. Dass es intertextuelle Beziehungen gibt, kann ich natürlich in diesen Fall nicht abstreiten, aber sie beschränken sich auf das Werk Michael Endes. Es ist aber schon richtig, dass ich zu der Generation Ende/Preußler eine besondere Beziehung habe. Zum Beispiel, weil ich wie sie Fantastik schreibe. Wofür Michael Ende und Otfried Preußler übrigens schrecklich beschimpft worden sind. Zumindest in diesem Punkt habe ich es deutlich leichter.
Michael Ende betonte, dass er beim Schreiben nicht an Kinder denke. Er habe nicht daran gedacht, „die 'Schönheit' auf dem Altar der Zugänglichkeit zu opfern“ – ich bin so frei an dieser Stelle aus einem Ihrer Artikel zu zitieren. Dennoch ist Ende uns allen vorwiegend als Kinder- und Jugendbuchautor in Erinnerung geblieben und auch Rodrigo Raubein ist doch eine klassische Kindergeschichte, oder?
Aber sicher doch. Und das Tollste daran ist: Das ist kein Widerspruch!
Können Sie das noch weiter erläutern?
Der Begriff von Kinderliteratur ist manchmal seltsam undifferenziert. Dass sie kleingeredet wird, hat Tradition. Mittlerweile kommt es mir aber immer öfter so vor, als würden wir sie nicht als eine spezielle Form von Literatur, sondern als Warengruppe betrachten. Der Begriff „All Age“, der sich ja auch nicht mehr auf die eine Textgestalt, sondern auf eine Zielgruppe bezieht, deutet schon seit geraumer Zeit in diese Richtung. Literatur für Kinder ist aber schlicht und einfach eine Kunstform. Sie könnten auch sagen: Sie ist eine Literatur, die sich auch oder vor allem für Kinder eignet. Eine Literatur, die den Namen verdient, verträgt sich aber schlecht mit übertriebener Rücksichtnahme. Michael Ende hat nicht irgendwie „schwierig“ geschrieben, aber er wollte sich und seine Texte auch nicht zurichten lassen – weder nach Maßgabe irgendeiner Pädagogik noch nach Maßgabe des Markts. Sein Protest gegen die Verfilmung der Unendlichen Geschichte ist legendär.
Wenn Sie selbst Zeit zum Lesen haben: Wo lesen Sie gerne, was lesen Sie gerne und welches Buch wartet darauf, als nächstes gelesen zu werden?
Ich bin ja ein Berufsleser, weshalb meine Antworten auf diese Fragen öfter mal in die Irre führen – wobei die Irre für Leser eigentlich gar kein so schlechter Ort ist. Zuletzt habe ich eine ganze Menge T.H. White gelesen, sein Buch über den Habicht und Der König auf Camelot. Was unter anderem daran liegt, dass ich in meiner kleinen Irre nach der Verbindung zwischen Nature Writing und Fantasy suche.
Gibt es bereits ein neues Projekt, an dem Sie arbeiten?
Ja, immer.
Verraten Sie uns, wie dieses Projekt aussieht?
Zuletzt habe ich erstaunlich lange an einem schmalen Buch geschrieben, das Nemi und der Hehmann heißt. Mein Lektor behauptet, es sei ein Märchen. Als ich fertig war, fingen die Fridays for Future-Demonstrationen an, und ich dachte: Da würde Nemi bestimmt mitmarschieren.
Lieber Herr Freund, ich danke Ihnen für dieses sehr interessante Interview und bin gespannt, was Sie uns demnächst von Nemi erzählen werden.