Michael Stierstorfer: In Ihren Büchern wie Lola rast und andere schreckliche Geschichten oder Struwwelpeters Rückkehr setzen Sie sich u.a. mit rebellischen Kindern und den negativen Folgen für deren Verhalten humorvoll bis morbide nach Vorbild des "Struwwelpeters" auseinander. Gehört Dr. Hoffmann oder gar Wilhelm Busch zu ihren literarischen Vorbildern? Welche Vorbilder haben Sie generell?
Anke Kuhl: Die Verse der Beiden mit ihren Abgründen und ihrer Ironie hatten durchaus eine nachhaltige Wirkung auf mich und sie sind auch in unseren Familienhumor eingeflossen. Aber als Vorbilder für meine eigene Arbeit würde ich eher Andere nennen. Ich war schon sehr früh den Geschichten und den Figuren von Tomi Ungerer, Maurice Sendak, F.K. Waechter und Edward Gorey verfallen. In deren Bildwelten habe ich mich sehr zu Hause gefühlt. Schwarzhumoriges findet man bei ihnen aber natürlich auch.
Diversität spielt in vielen ihrer Bücher eine große Rolle: Familienvielfalt (Alles Familie!) und die Unterschiedlichkeit von Körpern (AnyBody). Möchten Sie mit Ihren Büchern zur Toleranz abseits der "Norm" aufrufen?
Die Ideen zu den Büchern wurden jeweils von den Autorinnen an mich herangetragen. Toleranz und Offenheit gegenüber Diversität liegen aber auch mir selbst und meinem Hauptverlag Klett Kinderbuch am Herzen, da passen wir alle mit unseren Wertvorstellungen gut zusammen. Ich so du so, das in Zusammenarbeit mit meiner Ateliergemeinschaft Labor und dem Beltz und Gelberg Verlag entstanden ist, fügt sich da ebenfalls nahtlos ein. Wir freuen uns alle, wenn Kinder mit ihren Freunden, Eltern und Pädagogen über diese Themen ins Gespräch kommen und wenn sich möglichst viele, sehr unterschiedliche kleine und große Leser in den Büchern wiederfinden.
Jeder Körper ist für sich schön – so könnte eine Lesart Ihres gerade erwähnten Sachcomics AnyBody lauten. Wie stehen Sie zu aktuellen Schönheitsidealen wie sie u.a. auf Social Media und im Privatfernsehen zumeist verbreitet werden?
Natürlich sehr kritisch. Es ist haarsträubend, wie hier überall geschönt, gefiltert und manipuliert wird. Im Endeffekt sehen dann fast alle gleich aus. Besonders Jugendliche haben fürchterlich zu kämpfen, sich davon nicht fertig machen zu lassen und ein gesundes Selbstbild aufzubauen. Aber ich will die sozialen Netzwerke auch nicht nur verdammen. Es gibt mittlerweile auch Stimmen dort, die gerade diese Strukturen sehr clever nutzen, um Diversität sichtbar zu machen und selbstbewusst zu vertreten.
In dem Zweiteiler Klär mich auf! oder im Sachbuch Das Liebesleben der Tiere klären Sie zusammen mit der sachkundigen Katharina von der Gathen über sexuelle Vielfalt im Tier- und Menschenreich auf. Gab es diesbezüglich auch negatives Feedback aus konservativen Kreisen, da kindliche Frühaufklärung immer wieder in Frage gestellt wird?
Ja, gab es. Insgesamt überwiegt aber das positive Feedback. Die Bücher sind sehr beliebt und wurden in viele Sprachen übersetzt. Es war abzusehen, dass wir mit den Büchern polarisieren würden. Das ist eben ein hoch aufgeladenes Thema, bei dem die Grenzen sehr unterschiedlich gesteckt werden. Interessant war es zu erleben, dass es auch Länder gab, denen wir nicht progressiv oder politisch korrekt genug waren. Bei gecko press, wo Klär mich auf und Das Liebesleben der Tiere gerade auf Englisch erschienen sind, mussten wir einiges überarbeiten. Es ging vor allem um eine noch größere Sensibilität für Diversität.
Im Kontext des Buches Alles Lecker ist ein richtiger Shitstorm um Ihre Darstellung von Massentierhaltung entstanden. Hat Sie das persönlich getroffen?
Nein, ich kann mich da ganz gut abgrenzen. Da ich selbst überhaupt nicht in den sozialen Netzwerken unterwegs bin, wurde ich ja auch nie direkt angegriffen. Und ich kann das natürlich auch so locker sehen, weil die Verlegerin Monika Osberghaus sehr klug, besonnen und trotzdem entschieden und deutlich darauf reagiert hat. Wir haben die ganze Geschichte zum Anlass genommen, uns zu überlegen, wo wir unsere Haltung in Alles Lecker präzisieren und nachbessern können. Das ist bei einem Sachbuch nach ein paar Jahren ohnehin wichtig.
In ihrem Langcomic Lehmriese lebt! greifen sie die Figur des Golems auf und machen ihn zu einem Spielgefährten von fantasievollen Kindern. Wie intensiv haben Sie sich dafür mit Meyrinks Der Golem auseinandergesetzt und welche Rolle spielen (klassische) Romane für Ihr künstlerisches Schaffen?
Die Anregung für meinen Comic war der Stummfilm Der Golem und wie er in die Welt kam und die jüdische Golem-Legende. Damit hatte ich mich sehr intensiv beschäftigt. Den Roman Der Golem von Meyrink habe ich erst gelesen, als der Comic schon fertig und erschienen war. Auch ansonsten haben klassische Romane keinen so großen Einfluss auf meine künstlerische Arbeit.
In ihrem aktuell für den DJLP nominierten Comic Manno! Alles genau so in echt passiert erinnern sie sich an ihre Kindheit. Darin finden sich auch sehr private Szenen wie der drastische Ehestreit der Eltern, welcher aus kindlich naiver Perspektive wahrgenommen wird. Wie war es für Sie, derart intime Ereignisse für die breite Öffentlichkeit zu publizieren?
Nicht ohne! Ich habe beim Entwickeln und Zeichnen der Geschichten immer wieder überlegen müssen, wo meine Grenzen sind. Auch hatte ich zunächst in Erwägung gezogen, die Personen und Namen zu verändern, aber nachdem ich ein, zwei Geschichten mal so unverfälscht aufgezeichnet hatte, gab es irgendwie kein Zurück mehr. Insgesamt habe ich in dem Buch nur so viel preisgegeben, wie es für mich in Ordnung ist. Die Elternstreit-Geschichte ist natürlich die extremste. Aber es gibt sooo viele Kinder, die ähnliche Erfahrungen machen. Deshalb fand ich es wichtig, das nicht auszusparen. Ich wollte ein möglichst breites Spektrum an emotionalem kindlichen Erleben abbilden. Die Reaktionen auf das Buch haben gezeigt, dass offenbar ein besonderer Reiz der Geschichten darin liegt, dass sie wirklich so passiert sind. Man kann sich beim Lesen dadurch sehr unmittelbar einfühlen und seine eigenen Erinnerungen damit in Verbindung bringen.
Manche ihrer Werke wie Sirenensang und Schweinezauber oder Höchste Zeit, Herold! sind implizit bzw. explizit inspiriert von der griechisch-römischen Mythologie. Welche Rolle spielt dieses Kulturgut für ihre Arbeit?
Im Studium habe ich mich theoretisch und zeichnerisch intensiv damit beschäftigt. Mein Vordiplomsthema waren Nymphen und Wasserfrauen und mein Diplomthema der Medusa-Mythos. Ich mag es, mit den kollektiven Bildern, die wir dazu in unseren Köpfen abgespeichert haben, zu spielen. Im Illustratorinnenalltag bietet sich nicht so häufig die Möglichkeit dazu – außer man begibt sich in die Mainstream-Fantasy-Sparte, die mich aber dann wieder gar nicht interessiert. Wenn ich frei für mich zeichne, kommen immer wieder mythologische Geschichten und Wesen vor.
(c) Klett Kinderbuch
Wieso haben Sie sich gerade für die Figuren der Nymphen bzw. der Medusa als Diplomarbeit entschieden. Letztere begrüßt auch die Besucher des Internetauftritts ihrer Arbeitsgemeinschaft und ziert das von Ihnen gestaltete Cover des Gruselromans Mr Morleys Monster.
Beides sind Motive, die sowohl künstlerisch als auch trivialästhetisch inflationär dargestellt wurden und werden. Dabei sind diese Darstellungen meistens Männerphantasien. Nymphen sind verführerische Kindfrauen und Medusa ist eine tödliche Gefahr und oft ein misogynes Symbol. Ich wollte diese Figuren aus meiner weiblichen Perspektive zeigen und fand es eine spannende Herausforderung, sie neu, überraschend und mit Witz zu interpretieren. An der Medusa hat mich vor allem auch der "böse Blick" fasziniert. Expressive Augen und Blicke sind ja so ein Lieblingsthema von mir.
(c) Ravensburger
Weshalb interessieren Sie sich weniger für die Mainstream-Fantasy bzw. Phantastik, die häufig auf Bestsellerlisten landet und somit auch von der breiten Masse wahrgenommen wird, wobei der Markt davon regelrecht überschwemmt wird?
Oftmals sind es so konstruierte, hermetisch in sich geschlossene Welten, die da entworfen werden und die mir zu klischeehaft sind. Ich glaube, mir fehlt der Bezug zum Jetzt, eine spürbare Distanz, ein Blick von außen und auch Humor. Aber ich rätsele selbst immer ein bisschen, was es genau ist, das mich von diesem Genre Abstand halten lässt.
Ihr individueller Zeichenstil ist ein Unikat und zumeist auf den ersten Blick zu erkennen. Wie konnten sie diesen ausprägen. Mit welchen Techniken und Materialien arbeiten sie am liebsten?
Ich habe da nichts strategisch entwickelt. Ich glaube, ein eigener Stil entwickelt sich, wenn man seine Weltwahrnehmung irgendwie transportieren kann. In meinem Fall merkt man vielleicht, dass ich Menschen und Tiere ziemlich genau beobachte und mir deshalb der Ausdruck von Figuren am wichtigsten ist. Autos, Maschinen, Architektur ... solche Dinge kann ich nicht besonders stilsicher zeichnen. Wenn es Menschen um einen herum gibt, die die Zeichnungen verstehen und lesen können, bestärkt einen das darin, weiterzumachen und sich eigenständig zu entwickeln. Ich hab Glück gehabt, dass ich immer solche tollen Menschen in meinem Leben hatte: Erst meine Eltern, später meine Freunde, meinen Mann, Kollegen und eine tolle Verlegerin.
Ich zeichne gerne mit einem weichen Druckbleistift und mit Feder und Tusche. Beim Kolorieren ändern sich immer mal meine Vorlieben. Jahrelang habe ich das vor allem am Rechner gemacht. Momentan finde ich es toll, wieder ganz analog mit Buntstiften und Aquarellfarben zu malen.
In ihrer Ateliergemeinschaft Labor publizieren sie sehr außergewöhnliche Mal-, Bastel- und Skizzenbücher die auf kreativ-intelligente Weise den Rahmen von "simplen" Ausmal- oder Malen-nach-Zahlen-Büchern aufbrechen. Wie sind sie auf dieses Konzept gekommen? Wird ein solch gewagtes Konzept am Buchmarkt überhaupt ausreichend wahrgenommen?
Diese Bücher haben wir in Zusammenarbeit mit Barbara Gelberg vom Beltz und Gelberg Verlag entwickelt. Vor ein paar Jahren schwappte eine ganze Welle mit dieser Art von Aktivitätsbüchern auf den Markt, da waren wir zwar früh mit am Start, aber es gab und gibt mittlerweile zahllose ähnliche Produkte. Die Nachfrage ist immer noch ziemlich groß und die Bücher werden wegen ihrer Kreativitätsanregung sowohl von den Kindern als auch von Eltern, Pädagogen und dem Buchhandel gut angenommen.
Nominierungen für bedeutende Preise oder auch Prämierungen sind für Sie fast schon Routine, wenn man die Fülle an Auszeichnungen betrachtet, die Sie bereits erhalten haben. Wie viel Wert legen Sie auf solche Preise und inwiefern wird dadurch ihre Arbeit beeinflusst?
Durch Auszeichnungen und Preise wird die eigene Arbeit wertgeschätzt, das ist immer eine große Freude. Und Preisgelder erlauben es, mir Freiräume und kleinere Auszeiten zu nehmen, in denen ich neue Ideen entwickeln kann. Außerdem bekommen meine Bücher dadurch noch etwas mehr mediale Aufmerksamkeit. Das ist sehr hilfreich, weil ich völlig unmotiviert bin, mich in den sozialen Netzwerken umzutreiben und selbst auf meine Projekte aufmerksam zu machen.
Auch wenn diese sicherlich noch strenggeheim sind. Auf welche weiteren "kuhlen" Kuhl-Projekte dürfen wir uns in naher oder ggf. ferner Zukunft noch freuen?
Momentan sitzt das Labor mal wieder an einem Gemeinschaftsprojekt, das im Herbst erscheinen wird. Im Sommer stehen Vignetten und Cover für einen schönen Kinderroman an, und ich arbeite seit langem mal wieder an einem klassischen Bilderbuch, das im nächsten Jahr erscheinen wird. Aber die Sehnsucht nach einem nächsten Comicprojekt ist definitiv auch da.
Das hört sich alles sehr spannend an. Gestatten Sie mir dazu eine Idee aus altphilologischer Perspektive: Wie wäre es mit einem Langcomic, der die griechisch-römische Sagenwelt auf den Kopf stellt und parodistisch-morbide mit der Vorlage umgeht? Ggf. könnten auch die Kindheiten von Heroen, Göttern und Hybridwesen gegen den Strich dargestellt werden. Das fänden Antikenfans sicher ergiebig.
Danke für die Anregung! Über einen Comic mit mythologischen Figuren habe ich sogar schon öfters nachgedacht. Wobei ich die Gestalten immer eher aus ihren historisch verankerten Geschichten herauspflücken und in einen anderen Kontext holen würde. Ich mag es besonders, wenn sich Mythen- und Fabelwesen wie selbstverständlich unter die Menschen mischen, ohne dass es überhaupt erklärt oder kommentiert wird (vgl. Lehmriese lebt!).
Vielen Dank Ihnen für die ausführliche Beantwortung der Fragen und ganz viel Erfolg für Ihre weiteren ambitionierten Projekte, die den Literaturmarkt bereichern! Wir würden uns sehr freuen, wenn bald ein paar von Ihnen gestaltete mythologische Fabelwesen, wie z.B. Medusa, unsere Alltagswelt aufmischen würden.
(c) Anke Kuhl