In einem Interview über Ihre Graphic Novel Bloody Mary haben Sie einmal geäußert, dass jede Person Zeichentechniken erlernen kann. Wir haben im Seminar vor Kurzem darüber diskutiert, ob jede Person das Schreiben erlernen kann, um zu einer guten Autorin oder einem guten Autor zu avancieren. Wir sind zu dem Fazit gelangt, dass man Schreibstrategien und -techniken durchaus erlernen kann. Aber zu einer erfolgreichen Autorin bzw. Autor gehört wohl auch das gewisse Etwas, der Funken, den wir als Talent beschrieben haben. Lässt sich dieses auch auf das Zeichnen übertragen? Sie haben beispielsweise 2020 auch den Ratgeber im Comic-Format Zeichnen als Beruf. Erfolgreich durchstarten mit Manga, Illustration und Comic veröffentlicht.
Solide handwerkliche Fähigkeiten im Schreiben und Zeichnen kann (fast) jede bzw. jeder lernen. Ähnlich wie Rechtschreibung heute als selbstverständlich vorausgesetzt wird, war bis vor ca. 100 Jahren auch das Skizzieren nach der Natur, um visuelle Informationen festzuhalten, eine weiter als heute verbreitete Fähigkeit (als noch nicht jede bzw. jeder immer eine Kamera dabeihatte) und wurde auch regulär in Schulen unterrichtet. Heute wird Zeichnen in erster Linie als Kunst verstanden und nicht mehr als Handwerk, weswegen es leider viele Leute nie versuchen, weil sie glauben, dafür "Talent" haben zu müssen.
Für "Kunst" wiederum, die über reines Handwerk hinausgeht, gibt es womöglich so etwas wie Talent, wenn man es als eine gewisse Besessenheit und als ständigen Schaffensdrang definiert. Dies führt dazu, dass man i.d.R. immer besser darin wird, die eigene künstlerische Botschaft mitzuteilen und damit auch mit der Zeit ein Publikum findet. Für Erfolg, je nach Definition, ist immer auch eine Portion Glück und Zufall erforderlich; die Chancen darauf steigen aber mit kontinuierlichem Schaffen und Verfeinerung der eigenen Fähigkeiten.
Wann haben Sie begonnen, zu zeichnen?
Seit ich einen Stift halten kann, habe ich nie aufgehört, zu zeichnen. Vor etwa zwanzig Jahren habe ich angefangen, das Zeichnenlernen bewusster anzugehen und darauf hingearbeitet, die Grundlagen zu lernen – Anatomie, Perspektive, Licht und Schatten. Seitdem bin ich aber noch nicht fertig, das Lernen geht weiter.
Sie haben mit Ihrem Debüt sogleich im Jahr 2016 den Deutschen Jugendliteraturpreis (DJLP) in der Sparte Sachbuch gewonnen. Steht man dann nicht permanent unter Druck, diesen Erfolg mit den nachfolgenden Projekten zu wiederholen?
Eher nicht, weil man die Rezeption des eigenen Werks nicht wirklich vorausplanen und beeinflussen kann – nicht mal Verlage wissen im Voraus, was sich verkaufen wird – daher fühlt sich Erfolg auch immer nach Glück und Zufall an; oder zumindest hatte ich nie das Gefühl, dass ich darauf viel Einfluß nehmen kann.
Inwiefern hat die zunehmende Digitalität (der Markt wird ja mittlerweile von zahlreichen Grafik-Apps überschwemmt) Ihren Zeichenstil verändert?
Da hat sich bisher kaum etwas für mich verändert. Ich habe im Alter von 13 Jahren mein erstes Grafiktablett bekommen, und damals in Photoshop Elements gezeichnet, das es als Gratisbeigabe zur Hardware gab. Heute zeichne ich mit einem vergleichbaren, neueren Grafiktablett in einer neueren (aber inzwischen auch schon alten) Version von Photoshop, das Prinzip hat sich nicht geändert. Seit 2019 zeichne ich als Ergänzung manchmal auch auf dem iPad.
Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) wird nicht nur im universitären Kontext aufgrund des Chatbots ChatGPT (Chatbot Generative Pre-trained Transformer) mit großer Sorge betrachtet. Welche Befürchtungen hegen Sie in Bezug auf KI für Ihre Profession?
Meine Position zu KI entspricht der, die mein Berufsverband Illustratoren Organisation e.V. kürzlich veröffentlicht hat: https://illustratoren-organisation.de/2023/04/04/ki-aber-fair-positionspapier-der-kreativwirtschaft-zum-einsatz-von-ki/
Darüber hinaus bin ich der Meinung, dass insbesondere im Bereich der Text-, Video-, Audio- und Bildgeneration die KI-Programme in einem völlig neuen Ausmaß und ohne Hürden die Erzeugung von Fake-Material und Falschinformationen ermöglichen, und dass die Nachteile daher mögliche Vorteile weit überwiegen, bis hin zur Gefährdung der Demokratie weltweit.
Wie sieht ihr typischer (Arbeits)alltag aus? Wie wichtig ist Ihnen dabei die Work-Life-Balance?
Ich habe einen regulären Arbeitsalltag, ähnlich wie andere – morgens aufstehen, hauptsächlich vormittags zeichnen. Nach dem Mittagessen nachmittags weiterzeichnen, aber oft auch einkaufen gehen oder Sport, usw. bis Feierabend.
Aus zahlreichen Interviews mit Kunstschaffenden ist zu entnehmen, dass vor allen Dingen die Nacht als kreativer Schaffenszeitraum betrachtet wird. Wie ist es bei Ihnen? Zeichnen Sie eher tagsüber oder ebenfalls nachts?
Immer tagsüber, weil man dann auch viele andere Dinge (z.B. einkaufen) besser erledigen kann. Nachts schlafe ich immer.
Wie gehen Sie mit Zeichenblockaden um? Gibt es so etwas?
Die gibt es und ich habe sie auch manchmal. Da weiß ich keine universellen Lösungen, da muss man einfach durch. Oft muss man ja sowieso zeichnen, weil man in einem Auftragsprojekt steckt und einen Abgabetermin hat.
Hat die Corona-Pandemie Ihren (Arbeits)Alltag verändert?
Für einige Illustratorinnen und Illustratoren wurde es aufgrund Corona schwierig (z.B. im Bereich Graphic Recording, Workshops...); bei mir hat die Pandemie eigentlich nichts verändert. Ich illustriere hauptsächlich für Verlage und diese haben auch während der Pandemie wie gewohnt produziert und Illustrationen in Auftrag gegeben.
Wie ist es dazu gekommen, dass Sie die Escape Adventures illustrieren?
Es ist eine reguläre Auftragsarbeit, die verlaufen meist nach demselben Schema: Kunde findet meine Arbeiten online und fragt bei mir an, daraus ergibt sich eine freiberufliche Zusammenarbeit und davon lebe ich.
Wenn man Ihre Publikationen betrachtet, fällt auf, dass Sie ein Faible für historische Themen zu haben scheinen. Was fasziniert Sie daran?
Dass das wirkliche Leben die interessantesten Geschichten schreibt! Auch heute noch ist die Franklin-Expedition wie ein tausendteiliges Puzzle, von dem nur hundert Teile gefunden wurden. Sogar die vor kurzem gefundenen Schiffswracks der HMS Erebus und HMS Terror haben bislang eher mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet.
Wie kamen Sie auf die Idee, ausgerechnet diese in einer Katastrophe endenden Expedition grafisch umzusetzen? Der New Yorker Illustrator William Grill hat sich nahezu zeitgleich ebenfalls mit einer Polarexpedition des Polarforschers Sir Ernest Shakleton in seinem Bilderbuch Shakletons Reise befasst, die aber im Gegensatz zur Franklin-Expedition auf wundersame Weise in der Form endete, dass alle Besatzungsmitglieder überlebt haben. Was faszinierte Sie, sich damit auseinanderzusetzen.
Ich bin 2012 beim Stöbern in Wikipedia auf die Geschichte gestoßen und fand sie faszinierend. Nachdem ich den Roman Terror von Dan Simmons gelesen habe, der ebenfalls diese Geschichte erzählt (nur mit Fantasy-Elementen), habe ich erstmal ein paar Bilder als "Fanart" zu dem Thema gezeichnet.
Wie lange hat die Recherche zu der Expedition gedauert?
Daran erinnere ich mich nicht genau, ich habe auch nebenher beim Zeichnen immer wieder darüber gelesen und dazugelernt. Ingesamt habe ich von 2013-2015 an Im Eisland gearbeitet.
Die Expedition endet mit einer Katastrophe, in der alle Crewmitglieder versterben und auch Kannibalismus aufgrund der Funde der menschlichen Überreste eine Rolle gespielt zu haben scheint. Konnten Sie von diesen Schreckensszenarien auch "abschalten" oder spukten diese Tag und Nacht im Kopf herum?
Die historische Distanz (die Tatsache, dass das Ganze Jahrhunderte her ist) hilft dabei. Und als Autorin bzw. Autor betrachtet man das Ganze in erster Linie eher aus erzählerischer Sicht, also als Fiktion, ausgehend von erfundenen Figuren; auch wenn man gleichzeitig weiß, dass in der historischen Grundlage reale Personen ein schreckliches Schicksal gefunden haben.
Gab es während Ihrer Arbeit an der Trilogie auch Phasen, in denen Sie darüber nachgedacht haben, das Projekt vorzeitig zu beenden?
Nein, tatsächlich nicht, dazu fand ich die Geschichte immer zu spannend, auch wenn die Arbeit natürlich eine Herausforderung war.
Haben Sie während des Erstellungsprozesses darüber nachgedacht, der Geschichte ein Happy-End zu verleihen?
Nein, weil ich das sicher nicht überzeugend hätte erzählen können, bzw. ich hätte keinen guten Grund dafür gefunden. Andere Autorinnen und Autoren oder Zeichnerinnen und Zeichner können so etwas überzeugend darstellen, aber ich persönlich – jedenfalls damals – nicht.
Woran haben Sie sich bei den fiktionalen Elementen orientiert?
Wie es Roman-Autorinnen und Autoren meist auch machen, habe ich versucht, mich in die Charaktere hineinzuversetzen und sie die Geschichte quasi von selbst vorantreiben zu lassen.
Was bedeutet Fiktion und Wahrheit in diesem Kontext?
Man sollte Im Eisland als Fiktion betrachten, genauso wie wenn man eine historische Fernsehserie schaut oder einen historischen Roman liest. Es soll in erster Linie unterhalten, die Möglichkeit zur Flucht in eine andere Welt bieten (Eskapismus), und idealerweise auch auf die realen Personen und Ereignisse neugierig machen. Die wahren Begebenheiten (bzw. der Konsensus aus Sicht von Historikerinnen und Historikern) dienen als Grundlage und zur Inspiration einer Erzählung.
Sie haben für diese Tragödie den Manga-Stil ausgewählt und den Protagonisten eine moderne Sprache in den Mund gelegt. Welche Überlegungen führten zu dieser Entscheidung?
Ich lese manchmal auch gern Mangas (z.B. Monster, Vinland Saga, Cesare) und es war für mich damals eine natürliche Wahl, weil ich solche Zeichenstile kannte und zugänglich fand.
Uns interessiert natürlich sehr, wie Sie von der Idee zur grafischen Umsetzung gelangen und vor allen Dingen, wie die einzelnen Überarbeitungsschritte aussehen. Könnten Sie uns diese bitte erläutern?
Den Anfang mache ich auf "echtem" Papier. Aus den allerersten Skizzen wird, zusammen mit dem Text in handschriftlichen Notizen, eine Art Drehbuch oder Storyboard.
Abb.1: Storyboard © Kristina Gehrmann
Erst, wenn dieses Drehbuch für den kompletten Comic fertig ist, beginnt das Zeichnen am Computer. Hierfür benutze ich das Programm Manga Studio 5, das speziell zum Comiczeichnen gedacht ist, sowie ein Grafiktablett von Wacom. Jetzt beginnt die Arbeit in Manga Studio. Ausgehend vom Drehbuch skizziere ich jede einzelne Seite mit einem digitalen Bleistift vor.
Abb. 2: Die Seiten werden vorskizziert. © Kristina Gehrmann
Wenn mit dem vorskizzierten Comic alles stimmt, zeichne ich alle Seiten mit digitaler Tusche auf einer neuen Ebene nach. So fangen die fertigen, detaillierten Schwarzweißzeichnungen an. Dieser Arbeitsschritt dauert am längsten, da hier das meiste Detail gezeichnet und auch die meisten Korrekturen gemacht werden. Die darunterliegende Skizzenebene wird anschließend gelöscht. Übrig bleibt nur die Tuschezeichnung.
Als nächstes werden die Linienzeichnungen sozusagen belebt, mit großen und kleinen schwarzen Flächen, Kontrasten, Schraffuren und Texturen. Dieser Arbeitsschritt gibt Gelegenheit, eine Seite durch den Einsatz gezielter Kontraste dramatisch zu verändern. Insbesondere dort, wo die Figuren in Räumen sitzen und es wenige Lichtquellen gibt, kann man hier mit dramatischen Schatten experimentieren. Als Letztes werden hellgraue und dunkelgraue Flächen eingesetzt, um mehr Variation in den Seiten zu schaffen. Dies kann auch helfen, die Seiten besser lesbar zu machen. Passenderweise bietet das Zeichenprogramm Manga Studio 5 eine große Auswahl an fertigen digitalen Rasterfolien (vgl. Abb. 3 und 4).
Abb. 3: Schwarze Flächen und erste Grauflächen werden hinzugefügt. © Kristina Gehrmann
Abb. 4: Zuletzt werden verschiedene Grauflächen („Rasterfolie“) hinzugefügt. © Kristina Gehrmann
Welche Figur stellt eigentlich Ihre Lieblingsfigur dar?
Fitzjames, denke ich. Aus meiner Sicht hat er die größte Verwandlung durchgemacht.
Die beiden Schiffe sind mittlerweile an einer anderen Stelle als vermutet entdeckt worden. Es treten nun immer mehr Erkenntnisse ans Licht, obwohl das schreckliche Geheimnis immer noch nicht vollständig gelüftet worden ist. Inwieweit stimmt Ihre gezeichnete Geschichte noch mit den aktuellen Erkenntnissen überein?
Geschätzt etwa halb-halb. Ich wollte möglichst viele bekannte Fakten und Theorien in die Geschichte mit einbeziehen. Aber dass die Schiffe ausgerechnet zu dieser Zeit entdeckt wurden, war für mich völlig unerwartet und natürlich auch sehr aufregend!
Wenn man die Zeit zurückdrehen könnte, welchen Rat würden Sie den Besatzungsmitgliedern mit auf den Weg geben?
Wahrscheinlich keinen, weil es generell für die meisten Leute (auch heutzutage) keinen Grund gäbe, zu glauben, dass da wirklich jemand aus der Zukunft angereist ist und man ihm/ihr daher zuhören sollte.
Die Studierenden dieses Seminars sind im Umgang mit Apps (z.B. IMovie, CapCut) vertraut, mit denen man sehr professionelle Buchtrailer erstellen kann. Zu Im Eisland ist meines Wissens nach noch kein Buchtrailer erschienen. Stand dieses vielleicht einmal zur Diskussion, denn auf diese Weise kann ein Werk eine größere Präsenz auf dem Buchmarkt erlangen.
Da ich mir selbst keine Buchtrailer anschaue (ich lese lieber Rezensionen), habe ich damit zuwenig Berührungspunkte und daher keine Meinung.
Und abschließend: Gibt es eine Art Herzensprojekt, das Sie gerne in Angriff nehmen würden?
Ja, ich würde gerne die Geschichte von Elizabeth I als Graphic Novel umsetzen. Das wäre dann sozusagen der Nachfolgeband zu Bloody Mary.
Vielen Dank für dieses aufschlussreiche Interview, das einen sehr spannenden Einblick in Ihren Arbeitsalltag und Ihre Überlegungen zu der Franklin-Expeditionen gegeben hat.
Kristina Gehrmann © Inga Sommer