Wie lange haben Sie an Ihrem Buch „Wir waren Glückskinder – trotz allem“ geschrieben? Haben Sie an einem Stück oder in Phasen daran gearbeitet?

In einem Stück, ungefähr sechs Monate.

Wie nah ist Ihnen das Verfassen einer Fluchtgeschichte über Ihre nächsten Verwandten gegangen?

Das hat mich sehr bewegt. Ich habe dieses – im Vergleich zu anderen – glückliche Schicksal in meinem Kopf mehrtausendfach multipliziert. Auf diese Weise wird die Ungeheuerlichkeit der NS-deutschen Verbrechen noch spürbarer. Erst recht die Millionen Morde.

In dem historischen Roman setzen Sie sich mit den Erinnerungen ihrer Familienmitglieder auseinander. Wie sind Sie beim Festhalten dieser Memoiren vorgegangen?

Ich würde mein Buch nicht "Roman" nennen. Ich wünschte, ich könnte Romane schreiben. Ich habe Familienfotos gesichtet, sortiert sowie die mündlichen und schriftlichen Überlieferungen auf Faktizität geprüft. Hier und dort habe ich fiktionale Ergänzungen vorgenommen. Aber sehr selten. Also ein Sachbuch, das sich hoffentlich so gut liest wie ein guter Roman.

Ihr Buch gewinnt durch den Israel-Palästina-Konflikt an Aktualität. Welche Lehren könnte man aus Ihrem Werk für den Konflikt ziehen? 

Eine Lehre ist ganz klar, dass dieser Konflikt zwar immer wieder neu scheint, tatsächlich aber seit 1882 tobt. Das Buch zeigt, auf Fakten basierend und auf das Schicksal meiner Familie übertragen, dass die arabisch-islamische Welt im Zweiten Weltkrieg und beim sechsmillionenfachen Judenmorden mit Hitler-Deutschland zum Großteil aktiv und freiwillig kooperiert hat. Es zeigt auch, dass es neben Dunkelheit auch Helligkeit gibt, also neben Schuften auch hochanständige Menschen. Dass wer nach außen schlimm scheint, es oft nicht ist. Dass Wahrnehmung nicht Wirklichkeit sein muss. Also Schein nicht Sein. Dass selbst in schlimmsten Zeiten der Mensch, sofern und wo er kann, versucht, seinen Alltag heiter und liebend zu gestalten. Dass Judentum und Christentum sehr viel Gemeinsames haben. Wie albern Vorurteile sind.

Wie beurteilen Sie das Erstarken der AfD in Deutschland? Aktuell würde sie bei ca. 20 Prozent stehen, obwohl deren Inhalte und Parolen hochproblematisch sind.

Parteien dieser Art findet man leider in ganz Europa. Teils noch stärker. Donald Trump ist auch nicht angenehmer. Kurzum, überall und immer gibt es in freien Gesellschaften rund 20 % Gegner von Freiheit und offener Gesellschaft.

Sie haben für Ihr Engagement und Ihre Bücher zahllose Preise und Bestsellerlisten-Platzierungen erhalten. Was bedeuten Ihnen derartige Auszeichnungen?

Lob ist immer angenehmer als Tadel. Aber gerade bei viel Lob muss man, möchte ich gegensteuern, auf dem Teppich bleiben. Ich ohrfeige mich dann sozusagen symbolisch, um mich nicht so wichtig zu nehmen. Vor dem Überschnappen bewahrt mich zudem meine Familie bestens.

Was ist die Kernaussage Ihrer kürzlich erschienenen Aufsatzsammlung "Hallo, ich bin Jude!"?

Da verschiedene Themenblöcke präsentiert werden, gibt es keine einzelne, zentrale These. Nur eine Methode: Vielschichtigkeit berücksichtigen, nicht nur schwarz oder weiß malen.

Der Titel richtet sich auch an Bildungseinrichtungen. Inwiefern können diese von Ihrem Sachbuch profitieren, wenn sie mit Heranwachsenden den aktuellen Israel-Palästina-Konflikt thematisieren wollen?

Dass es eben nicht nur gut oder böse, schwarz oder weiß gibt, sondern viel grau. Dass man außerdem auf jeder Seite zwischen diversen Akteuren unterscheiden muss. Es gibt nicht "die" Israelis oder "die" Palästinenser, sondern überall und immer solche und andere.

Das Buch wurde zusammen mit der Akademie für KJL herausgegeben. Welche Rolle spielte diese Institution für die Publikation dieses Buchs?

Frau Dr. Claudia Pecher war die Mutter des Gedankens und der Verwirklichung. Großartig, was sie nicht nur hierfür geleistet hat.

Welche Aufsätze aus Ihrem Sachbuch würden Sie Lehrkräften und Bildungsvermittlern bei der Arbeit mit Jugendlichen der Primar- oder Sekundarstufe besonders ans Herz legen und warum?

Das kann ich nicht, weil ich nicht weiß, welches Einzelthema für die Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler jeweils von besonderer Bedeutung ist. Ich bin ein glühender Anhänger der Selbstbestimmung. Meine Leistung ist eine Dienstleistung, im Sinne eines Angebots.  

Wie kann ihr Buch Ressentiments gegenüber dem Judentum entgegenwirken?

Diesbezüglich habe ich eigentlich resigniert. Seit rund dreitausend Jahren sind Juden mit diversen Ressentiments konfrontiert. Zu glauben, dass ausgerechnet mein Buch das ändern könne, wäre vermessen. Wenn hier und durch dieses Buch mehr gewusst und vor allem mehr nachgedacht würde, einschließlich Einfühlung, wäre viel gewonnen.

Lassen Sie uns zum Schluss auf ein zukunftsträchtiges Projekt von Ihnen eingehen: Sie planen die Publikation einer Kinderbibel. Wie bereiten Sie sich auf dieses Projekt vor, auch mit Blick auf Ihren interreligiösen Ansatz?

Natürlich interkonfessionell: Ich habe mich mit der Bibel und dem Koran sehr genau und intensiv beschäftigt.

 

Herzlichen Dank für das ehrliche und informative Interview und alles Gute für Ihre Kinderbibel und Ihre weiteren Projekte!

 

Bilder zu diesem Interview und zu Wolffsohns Lesung finden sich im Folgenden. Auch ein Kurzvideo zur Vorstellung seines Romans "Glückskinder" wurde vom Projekt-Seminar auch als Kurzfilm in Kooperation mit Dr. Claudia Pecher, Präsidentin der Akademie für Kinder und Jugendliteratur, und Drehbuchautorin Ina-Maria Schaffer filmisch umgesetzt. Darüber hinaus kann weiter unten noch ein Mitschnitt eines Teils seiner Buchpräsentation "Hallo, ich bin Jude!" vom 7.3.24 betrachtet werden.

 

P Seminar Booktubesv.l.: Michelle Mink, Volontärin beim Michaelsbund, Michael Stierstorfer zusammen mit drei Schäftlarner Schülerinnen und Schülern, Michael Wolffsohn und Drehbuchautorin Ina-Maria Schaffer

P Seminar Booktubes 2Prof. Wolffsohn im Gespräch mit den Schäftlarner Schülerinnen und Schülern

P Seminar Booktubes 3Die Schäftlarner Schülerinnen und Schüler als aufmerksame Zuhörerinnen und Zuhörer im Publikum