Lieber Stefan, 1993 ist mit Der Rabe in der Arche das erste Buch von Dir erschienen, 1997 mit Wirklich nichts passiert? das zweite, das sich, thematisch ganz anders gelagert, mit dem Thema sexuelle Belästigung beschäftigt. Bekannt geworden bist Du mit der Erfolgstrilogie Schattengreifer (erschienen ab 2009) und mit der Reihe Im Zeichen der Zauberkugel (ab 2015). Wie bist Du überhaupt zur Kinderliteratur gekommen und wie hat sich Deine Arbeit entwickelt?
Schriftsteller – das war als Kind nicht etwa mein Traumberuf, wie man immer in den Biographien von Kolleginnen und Kollegen liest. Das Gegenteil ist der Fall: Als Kind war ich ein völliger Nichtleser. Aus Büchern habe ich mir nichts gemacht.
Das änderte sich, als im 7. Schuljahr eine neue Deutschlehrerin erkannte, dass ich gut mit Sprache umgehen konnte und stets einen Gedanken mehr in die Aufsätze einbrachte als die Mitschülerinnen und Mitschüler. Frau Stadtfeld brachte mir stets Bücher mit in die Schule, die ich erst zögernd, dann allerdings mit wachsender Begeisterung las. Schließlich las ich immer mehr. Alles, was Seiten hatte und mir in die Hände fiel, wurde durchgelesen.
Frau Stadtfeld war es auch, die mir vorschlug, für die Schülerzeitung zu schreiben und mich sogar fragte, ob ich die Redaktionsleitung übernehmen wolle. Dass mir eine erwachsene Person so etwas zutraute, spornte mich extrem an. Seither liebe ich es, mich mit Texten zu befassen, Themen spannend aufzubereiten und Handlungen zu entwerfen.
Im Laufe der Zeit hat sich natürlich mein Sprachempfinden sehr geändert und ich würde fast alle meine ersten Bücher ganz anders schreiben. Was aber geblieben ist, das ist die Freude daran, völlig unterschiedliche Themen literarisch umzusetzen. Und dabei ist es mir gleich, ob es um Trauerbewältigung, sexuellen Missbrauch oder das Thema Behinderung geht, oder ob ich einfach nur Lesefreude vermitteln möchte: Ich schreibe über das, was mir gerade "unter den Nägeln brennt", daher sind meine Titel so unterschiedlich und die Verlage, mit denen ich zusammenarbeite, so vielfältig.
Mittlerweile sind Deine Bücher in 25 Sprachen übersetzt worden. Wie sind Deine Erfahrungen mit Übersetzungen in andere Sprachen?
Es ist immer wieder überraschend und spannend, das eigene Buch in einer anderen Sprache – häufig in einer anderen Schrift – in den Händen zu halten. Vor allem aber sind es die Geschichten "am Rande", die mich dabei faszinieren.
So durfte das Bilderbuch "Es war einmal…" im asiatischen Raum keinesfalls in einer weißen Aufmachung erscheinen, wie es in den anderen Ländern der Fall war, denn weiß gilt dort als Farbe der Trauer. Daher erschien dieser Titel in diesen Ländern in einem fröhlichen Orange.
Andere Schwierigkeiten mit dem selben Buch hatte auch der Übersetzer in Mali. In der Geschichte kommt ein Dachs vor, also ein Tier, das in Mali nicht vorkommt und für das es in der Landessprache "Bambara" auch kein Wort gibt. Nach reiflicher Überlegung entschied sich der Übersetzer nicht das Wort "Dachs" zu übersetzen, sondern die Charaktereigenschaft des Tieres, die für die Geschichte wichtig ist: Und so wurde aus dem Dachs "das Tier, das am Tage schläft".
Dein Buch Schattengreifer und auch der Jugendroman Befreiungsschlag haben eine Übersetzung ganz anderer Art erfahren, sie wurden als "Leseprojekt" vom Cornelsen Verlag in einfache Sprache übertragen. Wie haben sich diese Bücher aus Deiner Sicht dabei verändert?
Ich bin ein großer Fan von "Leichter Sprache", da mir in Lesungen und Workshops immer wieder Kinder und Jugendliche begegnen, die sich sehr für die Geschichte eines Buches interessieren, jedoch von Umfang und Sprache abgeschreckt sind und niemals nach dem Buch greifen würden. Durch die Fassung in "Leichter Sprache" wagen sie aber, den Deckel des Buches zu öffnen.
Wenn ich selbst diese Bücher in der Hand halte, fehlen mir jedoch gerade die Passagen, an denen häufig mein Herz hängt. Szenen, bei denen ich lange an der Atmosphäre gearbeitet oder für die ich besondere Formulierungen gefunden habe, müssen oft gestrichen werden, da sie die Handlung nicht unmittelbar voranbringen. Mir selbst geht ein Teil des Lesevergnügens und auch des Eintauchens in ein Buch dadurch verloren, aber – wie gesagt – ich kann das sehr gut nachvollziehen und freue mich, dass Sprachanfänger oder Menschen, die sich mit der deutschen Sprache schwer tun, auf diese Weise ein adäquates Leseangebot erhalten.
Vor allem wird mir immer wieder geschildert, dass Jugendliche, die das Buch in "Leichter Sprache" gelesen haben, anschließend zum Original greifen, weil sie nun wissen wollen, worin der Unterschied liegt und, ob sie nicht vielleicht doch etwas verpasst haben. Und das ist natürlich aus Sicht der Leseförderung ein schöner, wertvoller Erfolg.
In Bezug auf Kinderbücher hat sich die Sensibilität für Diskriminierungen in der jüngeren Vergangenheit deutlich erhöht – Sensitivity Reading hat Einzug in die Verlagsarbeit gehalten. Wie sind Deine Erfahrungen damit?
Eigentlich bin ich ein großer Freund des Sensitivity Reading, denn ich finde es sehr begrüßenswert, dass sich eine neue Form des Umgangs mit sensiblen Themen gebildet hat. Gleichzeitig spüre ich deutlich, welche Ängste mit diesem Thema einhergehen. Wie sehr alle im Literaturbetrieb bemüht sind, diesbezügliche Stolperfallen zu vermeiden. Dabei ist die Angst, doch etwas falsch zu machen, übergroß, und das bremst alle aus. Der Druck der Political Correctness hängt wie ein Damokles-Schwert über den Buchprojekten. Es bremst mich im Schreibfluss aus, wenn ich tief in meiner Handlung stecke und plötzlich zum Beispiel überlegen muss, ob und wie ich die Figuren am besten gendere. Das reißt mich natürlich völlig aus der Fantasie heraus. Oder wenn ich merke, wie in der Diskussion mit dem Lektorat es in manchen Dialogen nicht mehr zuerst um kindertypische Sprache und Begriffe geht, sondern darum, dem Druck der Political Correctness gerecht zu werden. Da geht ein Stück künstlerische Freiheit verloren – wenngleich ich, wie gesagt, sehr gut nachvollziehen kann, dass man darauf achten möchte, niemanden zu verletzen oder anzugreifen. Man merkt bestimmt: Ich bin in diesem Thema sehr zwiegespalten.
Neben dem Schreiben bist Du einen großen Teil des Jahres unterwegs und führst neben Autorenlesungen auch Workshops mit Kindern durch. Welche Bedeutung hat Leseförderung für Dich persönlich und was müsste Deiner Meinung nach in dieser Richtung getan werden?
Da ich als Nichtleser gestartet bin, weiß ich, was Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen entgeht, wenn sie den Weg zum Buch nicht finden. Es geht ja nicht nur darum, weitere Geschichten zu vermitteln. In Kinderbüchern geht es vor allem um die Förderung von Fantasie, Konzentration, Empathie und das Finden von Lösungsansätzen. Denn Kindern, die lesen, werden diese Eigenschaften nahegebracht, wenn sie mit ihren Figuren mitlachen und mitleiden, wenn sie während des Lesens einer Szene schon überlegen, wie ihre Protagonisten dieses Problem lösen könnten, und wenn sie mittels ihrer Fantasie in Welten und Gedanken eintauchen, die ihnen die reale Welt und die Welt der Medien nicht bieten können.
Daher ist Leseförderung so wichtig: Bücher erreichen Menschen auf eine Weise, die sonst kein Medium bietet.
Tatsächlich wird bereits auf sehr vielen Ebenen eine Menge in Sachen "Leseförderung" getan. Was ich mir wünschen würde, wäre eine noch bessere Vernetzung der Projekte untereinander, also dass Schulen, Einrichtungen, Autoren, Illustratoren, Lesepaten, … sich mit ihren Ideen und Impulsen austauschen und vielleicht sogar manches Projekt miteinander verknüpfen können. Es bräuchte eine Art "Sammelstelle", in die man seine Ideen einbringen und von den Ideen anderer profitieren könnte.
Zudem müsste mehr Wert darauf gelegt werden, Eltern verständlicher zu machen, dass Lesen nicht von allein geschieht. Dass man Kindern Bücher zugänglich machen muss und dass es unendlich wichtig ist, dass Kinder ihre Eltern mit Büchern in der Hand "erwischen". Denn Begeisterung für Bücher lässt sich übertragen. Irgendwann möchten die Kinder doch einmal erfahren, warum Papa und / oder Mama immer wieder hinter diesen Buchdeckeln verschwinden und testen es eben an eigenen Büchern aus.
Und natürlich braucht es gut und modern ausgestattete (Schul-)Bibliotheken mit einem wirklich spannenden, vielfältigen Angebot – sowohl in den Regalen als auch im Veranstaltungskalender. Hier wird mancherorts ebenfalls schon sehr viel getan, vielerorts wird aber auch gerade an dieser Stelle gespart. Und das ist falsch. Denn Bibliotheken sind oft das Herz so mancher Ortschaften, dienen nicht nur der Leseförderung und Wissensvermittlung, sondern sind Anlauf- und Treffpunkte und oft der Raum, in den Menschen sich gern zurückziehen – wenn die Bibliotheken eben entsprechend ausgestattet sind.
In vielen Schulen bestehen Büchereien allerdings nur, weil der Förderverein sie finanziert und die Eltern die Organisation übernehmen. Da variiert die Qualität und Quantität des Angebotes von Schule zu Schule massiv.
Wer hier spart, vergibt Chancen, Mensch und Ort etwas Wertvolles zu geben und etwas Gutes zu tun.
Während der Corona-Pandemie ist es Dir 2021 gelungen, einen Leseweltrekord in Deinem Geburtsort Morbach im Hunsrück aufzustellen. Wie ist das gelungen und was bedeutet Dir dieser Rekord?
Dieser Rekord war mein dritter Lese-Weltrekord. Ich entwickle und führe diese besonderen Veranstaltungen zusammen mit Eva Pfitzner (Geschäftsführerin der Leserattenservice GmbH) durch, um Kindern ein überraschendes, originelles Lese-Erlebnis zu bescheren. Diejenigen, die ohnehin lesen, werden in ihrem Hobby bestärkt. Und diejenigen, die den Zugang zum Buch noch nicht gefunden haben, kommen ins Grübeln und greifen im Anschluss an unsere Rekorde doch mal nach dem einen oder anderen Buch – wie uns immer wieder von Eltern und Lehrpersonen berichtet wird.
Doch dieser besondere Lese-Weltrekord im Jahr 2021 ging weit darüber hinaus und es war derjenige, der mir am meisten zu Herzen ging. Denn wir haben dieses Projekt gestartet, nachdem durch die Corona-Pandemie sehr lange Zeit keinerlei Veranstaltungen oder größere Treffen möglich waren. Kinder und Erwachsene schienen gleichermaßen ausgehungert gewesen zu sein, etwas zu erleben.
Daher habe ich diesen Weltrekord namens "Größte Lesung in einem Kinderfahrzeuge-Drive-Inn" so geplant, dass er mit den damaligen Corona-Regeln vereinbar war. Neben den Vorgaben des "Rekordinstituts für Deutschland" ™ musste auch ein 12-seitiges Hygiene-Konzept erstellt und der Gemeinde vorgelegt werden, in dem unter anderem der Abstand unserer Zuhörerschaft untereinander auf mindestens zwei Meter gewährleistet sein musste. Diese Regel war es, die mich auf den Gedanken brachte, das Ganze wie ein Autokino zu gestalten – bloß mit Bobby-Cars und vergleichbaren Kinderfahrzeugen.
Was sich daraus ergab, war ein kunterbunt gefüllter Festplatz mit kleinen und großen Menschen, die fröhlich lachend dem Event entgegenfieberten. Die Stimmung war nicht nur ausgelassen, sondern man merkte allen Teilnehmenden an, wie wichtig es ihnen war, endlich wieder eine Kultur-Veranstaltung besuchen zu können – und sei es auch auf Kinderfahrzeugen, die ja für Erwachsene nicht geeignet sind. Immer wieder konnte ich während meines Vortrags Lehrerinnen und Lehrer beobachten, die kurz aufstanden, den Rücken und die Beine durchdrückten, um sich dann wieder für den Rest der Lesung auf das winzige Fahrzeug zu setzen.
Und dennoch: Sie taten es lachend und selbstironisch oder mit einem Augenzwinkern in meine Richtung.
Die Briefe, Mails und Anrufe, die mich und meine Mitorganisatorin Eva Pfitzner erreichten, waren voller Dank und Enthusiasmus. Noch heute, wenn ich durch meinen Geburtsort gehe, werde ich auf dieses einmalige Event angesprochen.
Die Zauberkugel feierte kürzlich in Koblenz als Theaterstück Premiere. Wie ist es dazu gekommen und wie sind Deine Erfahrungen mit dem Prozess der Adaption?
Die eigenen Bücher als Theaterstück zu erleben, das ist etwas ganz Großartiges und Einzigartiges. Das Theater bietet eine völlig andere Form, sich dem Stoff zu nähern. Und genau darin liegt der Reiz der Adaption. Ich muss meine Handlungen und auch die Personen völlig neu denken. Denn beim Romanschreiben bin ich völlig frei. Da kann ich mit wenigen Formulierungen und Beschreibungen ganze Welten entstehen und wieder untergehen lassen, mir ist es möglich, in die Köpfe der Protagonisten zu schauen, kann munter zwischen verschiedenen Orten und Zeiten springen und meine Figuren durch die aufwändigsten Kulissen schicken.
Auf der Bühne hingegen ist alles sehr begrenzt und pointiert. Es steht nur eine begrenzte Fläche zur Verfügung, die bespielt werden kann, ich habe nur eine gewisse Anzahl an Bühnenbildern und Kostümen und vor allem ein begrenztes Ensemble. Zudem muss ich mich an formale Vorgaben halten wie den Zeitumfang. Denn während ich in einem Roman gern mehrere hundert Seiten füllen kann, muss ich mich beim Theaterstück auf 90, maximal 120 Minuten beschränken.
Das bedeutet für mich, dass ich mich massiv zurücknehmen muss in meinem Denken und im Entwerfen von Handlungssträngen. Ich muss mich auf das Wesentliche einer Szene konzentrieren, muss die Intention der jeweiligen Passage viel intensiver in den Mittelpunkt stellen und kann sie keinesfalls so ausschmücken wie in einem Roman.
Ich finde dieses Schreiben überaus interessant und spannend, komme aber tatsächlich an meine Grenzen. Zum Glück hatte ich bei der Arbeit an der Zauberkugel-Vorlage eine Dramaturgin an der Seite, Alexandra Freund, die Theaterwissenschaft und Buchwissenschaft studiert und schon sehr unterschiedliche Theaterstücke geschrieben und auf die Bühne gebracht hat. Sie ist mit mir mein Manuskript Wort für Wort, Szene für Szene durchgegangen und hat mir geholfen, "bühnenhafter" zu denken und alles entsprechend umzugestalten. Mir wurde dabei sehr viel bewusst und ich habe unendlich viel gelernt.
Eine Theaterautorin bzw. ein Theaterautor nähert sich seinem Text auf eine ganz andere Art als ein Romanautor. Ich habe mich zum Teil eingeengt gefühlt beim Schreiben für die Bühne, was mir beim Bücherschreiben noch nie vorgekommen ist.
Zudem muss ich als Autor ertragen, dass Regie und Ensemble eigene Ideen mit einbringen oder ganze Passagen umstellen. Hier braucht es die Fähigkeit des "Loslassens", was mir in den meisten Fällen gut gelingt, da sich bisher diese Ideen aus dem Ensemble als überraschend und originell und sinnvoll gezeigt haben. Manchmal jedoch bedeutet dieses Loslassen auch, dass eine geliebte Passage völlig anders dargestellt wird, als ich es mir gewünscht hätte, oder dass sie sogar ganz gestrichen wird.
Ich finde, uns ist eine sehr ansprechende Bühnenfassung gelungen. Aber vor allem wurde mir wieder bewusst, warum ich so gerne Bücher schreibe.
Was steht als Nächstes an?
Gerade arbeite ich an einer neuen Trilogie für den Loewe-Verlag, dessen Recherche-Aufwand beinahe wieder so groß ist wie damals für die Schattengreifer-Bände. Die Vorbereitung dieser Reihe wird mich bis in die entlegensten Winkel der finnischen Wälder führen.
Es ist eine völlig andere Geschichte als meine bisherigen und es ist auch die erste Zusammenarbeit mit dem Loewe-Verlag. Diese beiden Umstände machen dieses Projekt für mich doppelt und dreifach so spannend. Ich scharre schon mit den Hufen, um zu beginnen. Allerdings muss ich mich noch etwas in Geduld üben, denn zunächst stehen noch einige Lesereisen Richtung Hamburg, Saarbrücken und Passau an.
Herzlichen Dank für das Interview und alles Gute bei deinen aktuellen Projekten.