Frau Lück, seit wann kennen Sie die Bücher von Morton Rhue/Todd Strasser?
Gefühlt schon immer. Konkret erinnern kann ich mich daran, dass ich gerade The Wave las, als ich im Frühjahr 1990 zum ersten Mal in Stralsund war.
 

Internationale Bestseller-Autor:innen im Kinder- und Jugendbuchbereich haben oftmals dieselben Übersetzer:innen. Bei Morton Rhue alias Todd Strasser findet sich diesbezüglich keine Kontinuierlichkeit. Sie haben seinen jüngst erschienenen Jugendroman The Good War ins Deutsche übertragen. Herzlichen Glückwunsch zu dieser Ehre. Wie kam es dazu?

Einen Roman von Morton Rhue bzw. Todd Strasser übersetzen zu dürfen, ist in der Tat eine große Ehre. Gibt es denn internationale Bestseller-Autor:innen, die über einen Zeitraum von 40 (!) Jahren dieselben Übersetzer:innen hatten? Der Übersetzer von Die Welle, Hans-Georg Noack, ist immerhin schon vor fast 20 Jahren gestorben. Bei der Veröffentlichung von The Good War ging der Wechsel in der Übersetzung mit einem Verlagswechsel einher. Nach Aussage der deutschen Agentur von Penguin Random House fanden die vorherigen deutschen Morton Rhue-Verlage den Stoff "zu hart" für Deutschland. Da hat der Hanser Verlag gerne zugegriffen. Bei Recherchen für meinen Englischunterricht las ich auf seiner Homepage: "I offer no-fee zooms to classes." Spontan fragte ich, ob er das für meine achte Klasse tun würde. Am nächsten Tag kam seine Antwort. "Thanks for getting in touch. I will be delighted to meet with your class." Es fühlte sich an wie eine Nachricht von einem anderen Stern.  Jede dieser Klassen war von ihm beeindruckt. Bei einer Konferenz im Juni 2022, die Todd und ich als Testkonferenz zu zweit durchführten, fragte ich ihn, ob ich The Good War übersetzen darf.

 
Wie kann man sich die Zusammenarbeit zwischen Ihnen vorstellen? Gibt es bestimmte Routinen oder Rituale, die Sie im Team vereinbart haben?
Ich bin davon ausgegangen, dass er keine Zeit dafür hat, sich mit mir über Übersetzungsfragen auszutauschen. Gern hätte ich ihn gefragt, ob er nachträglich Sophie Scholl in die deutsche Version seines Romans hineinschreiben kann. Meine (normalen) Übersetzungsfragen habe ich dem Verlag geschickt.
 
Sie sind Lehrerin und übersetzen einen Roman, der an der Schule spielt. Können Sie sich daher besonders gut in die Geschichte an der Ironville Middle School eindenken?
Besonders realistisch finde ich die Beispiele von Mobbing in Verbindung mit dem Satz "Es war nur Spaß". Es sorgt hoffentlich für Aha-Erlebnisse, dass es in diesem Roman konkrete Erklärungen gibt, woran Mobbing in unterschiedlichen Situationen zu erkennen ist. Auch Cybermobbing via Smartphone sowie übermäßiges Online-Gaming sind Probleme, die mir im Schulleben begegnen. Was die Verbrechen der Nazizeit angeht, würde ich sagen, dass deutsche Kinder diese tendenziell als erdrückender empfinden als die amerikanischen Kinder im Roman. Um auch heldenhafte Menschen aus dieser Zeit kennenzulernen, empfehle ich einen echten oder virtuellen Besuch der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Verbindung mit der Lektüre.
 
Mussten Sie während des Übersetzungsprozesses Passagen abändern, damit diese für die Leserschaft im deutschen Rezeptionsraum verständlich sind?
Manchmal habe ich einige Worte hinzugefügt. Aus "The Good War was rated M" wurde beispielsweise "The Good War war in der Kategorie M, und M stand für mature". Den von einem rechten Hater mehrfach verwendeten Ausdruck "blue-pill snowflakes" habe ich mit "Blue-Piller und Snowflakes" so ähnlich beibehalten. In deutschsprachigen Internetforen sind diese abwertenden Bezeichnungen für linke Gruppen immer häufiger anzutreffen. Bei Formulierungen aus dem Gaming-Bereich wie "their KD ratios", "I was super low on HPs" oder "Spawn kill'em" habe ich Rücksprache mit meinem Sohn Tim gehalten und eine deutsch-englische Gaming-Sprache verwendet, die nicht zu meinem aktiven Wortschatz gehört: "ihre Kill/Death-Ratio", "Meine Gesundheit war total niedrig" und "Wir killen sie, sobald sie spawnen". Credits und Extra-Credits kommen in der deutschen Version nicht vor. Das hat der Verlag entschieden.
 
Inwiefern versuchen Sie bei der Übertragung ins Deutsche den Rhythmus und die Sprachmelodie des Originals beizubehalten?
Genau das macht für mich die Faszination des Übersetzens aus – so lange zu tüfteln, bis Rhythmus und Sprachmelodie dem Original möglichst ähnlich sind. Was Todd Strasser in einer unserer Videokonferenzen über das Schreiben gesagt hat, trifft auch aufs Übersetzen zu: "You never stop revising."
 
Wie lange haben Sie an der Übersetzung gearbeitet und gefeilt?
Für die erste Version habe ich ein Vierteljahr gebraucht. Danach habe ich den Text immer wieder überarbeitet – zuerst allein und dann zusammen mit meiner Lektorin Maren Harperscheidt. Sie war schmerzfreier als ich, was den Einbau von Umgangssprache und grammatischen Fehlern in die Ausdrucksweise der jugendlichen Charaktere angeht.
 
Der englischsprachige Originaltitel The Good War wurde für die deutsche Übersetzung um den Untertitel Wenn aus Spiel Realität wird erweitert. Wieso braucht es diese Ergänzung für das deutschsprachige Lesepublikum?
In Amerika gibt es ein bekanntes Sachbuch von Studs Terkel The Good War: An Oral History of World War II, das 1985 den Pulitzer-Preis erhielt. In Deutschland würde uns nicht gerade der Zweite Weltkrieg einfallen, wenn von einem "guten Krieg" die Rede ist. Für den Untertitel ist das Team von Reihe Hanser bei dtv verantwortlich. Er soll in Verbindung mit dem Cover sofort das Thema Computerspiele erkennen lassen.
 
Wie schaffen Sie Ihre Lehrtätigkeit an der Schule mit der Übersetzungsarbeit zu vereinen?
Ich arbeite als Lehrerin nicht mit voller Stelle.
 
Arbeiten Sie bei Ihren Übersetzungen mit Übersetzungsseiten wie deepl.com, um schon mal eine Basisübersetzung eines Textes vorliegen zu haben?
Ich gehe davon aus, dass jede Person, die Literatur übersetzt, mindestens ein Übersetzungsprogramm verwendet. Nach der ersten Basisübersetzung beginnt der interessante Teil: das Feilen an der Wortwahl und den Satzstrukturen, bis der passende Flow entsteht und der Text genau richtig klingt.
 
Ist für Sie als Übersetzerin die KI-Revolution Fluch oder Segen oder ignorieren Sie diese Entwicklung eher?
Warum sollte ich eine bahnbrechende Entwicklung ignorieren? Ich benutze KI häufig. Künstliche Intelligenz ist ein hilfreiches Tool, um sich schnell einen ersten Eindruck zu verschaffen. Die Verwendung weiterer Quellen ist aber grundsätzlich notwendig, denn KI tut immer so, als wenn sie alles weiß, obwohl sie sich oft irrt.
 
Bleiben sie nach der Veröffentlichung der Übersetzung mit dem Autor in Kontakt? Worüber tauschen Sie sich aus?
Ja, wir sind in Kontakt. Vor zwei Monaten schrieb ich ihm beispielsweise, dass die deutsche Hörfassung von Julian Horeyseck fantastisch ist, und letzte Woche, dass meine 11. Klasse im Englischunterricht The Wave lesen möchte. (The Good War gehörte nicht zu den 14 Büchern, die ich der Klasse vorgeschlagen hatte. Das war mir zu persönlich.) Wie üblich antwortete er am nächsten Tag, und zwar: "And that's very nice that your class wants to read The Wave. :-)."
 
Liebe Frau Lück, haben Sie vielen herzlichen Dank für diesen interessanten Einblick in Ihre Tätigkeit als Übersetzerin. Wir danken Ihnen ganz besonders, dass Sie für KinderundJugendmedien.de den Kontakt zum Autor hergestellt haben.
 
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Porträtfoto ©Angela Lück