Kompendien der antiken Sagen, die auch ein jüngeres Publikum ansprechen, gibt es seit den Sammlungen von Gustav Schwab, Dimiter Inkiow und Rick Riordan zuhauf. Warum also noch ein Werk dieses Genres auf den Markt bringen? Nach Lektüre des druckfrischen Bandes können wir erfreut feststellen, dass die Entscheidung für eine Neufassung ausgewählter Sagen  des Dichters Ovid eine gute  war. Der Titel inszeniert verbreitete und weniger bekannte Verwandlungsgeschichten ausdrucksstark und außergewöhnlich kunstvoll bebildert mit kürzeren Texten.

Inhalt

Von Vorgängerwerken wie Die schönsten Sagen des klassischen Altertums. Gesammelt von Gustav Schwab, neu erzählt von Josef Guggenmos, illustriert von Stefanie Harjes (Ravensburger Buchverlag 2013) unterscheidet sich der Band durch seine ausdrücklich im Titel hervorgehobene Orientierung an den Metamorphosen, dem Verwandlungsepos des augusteischen Dichters Ovid (43 v. Chr. bis 17/18 n. Chr.). Da dieses monumentale Opus fünfzehn Bücher umfasst und ein enzyklopädisches Stück der griechisch-römischen Mythologie darstellt, das sich aus den Einzelstücken der kunstvoll ausgearbeiteten und sorgsam miteinander verwobenen Verwandlungserzählungen und Sagenkreise zusammensetzt, mussten Janisch und Sender im vorgegebenen Rahmen eine Auswahl treffen. Dies ist angesichts der rezeptionshistorischen Eigendynamik, die viele von Ovids unsterblichen Geschichten entfaltet haben, bestens zu rechtfertigen. Selbstverständlich ist der Kenner neugierig, welche Metamorphosen Aufnahme gefunden haben, wie sie aufbereitet, dargeboten und miteinander vernetzt werden. Im Nachwort "Keinem blieb seine Gestalt" erläutert der österreichische Germanist, Jugendbuchautor und Hörfunkjournalist Heinz Janisch (*1960) knapp seine Auswahl und "Neuerzählung" von 17 bekannten und weniger bekannten Geschichten "aus dem reichen Schatz der Metamorphosen" (S. 86f., hier S. 87). Sein Kompendium versteht er demnach als "Tür zur weitverzweigten Welt der Metamorphosen" (S. 88). So beginnt die Episodenauswahl durchdacht beim Ursprung der Erde und endet bei Fama, der Göttin der Gerüchte, welche Ovids Geschichten bis in die Gegenwart trägt.

 

Adriadne und Theseus als LiebespaarAdriadne und Theseus als Liebespaar

Kritik

Von Anfang an zieht das Bilderbuch den Betrachter durch die kunstreiche Darstellung des bekränzten Zeus in Gestalt eines weißen Stieres in seinen Bann. Dieser trägt eine nackte Europa mit bis über das Cover hinaus wallenden Haaren auf seinem Rücken. Als göttliches Symbol findet sich auf dem Backcover ein Blitz, der auf Zeus und seine himmlische Macht hinweist. Die Haare der Europa werden mit dem Schweif des Zeus durch das Umwinden eins: ein eindeutiger Hinweis auf die Liebesaffäre der beiden mythologischen Figuren, aus der die prominenten Könige und späteren Richter der Unterwelt, Minos, Aiakos und Rhadamanthys, hervorgehen. Neben diesem wirklich faszinierenden Cover sind auch das Vor- und Nachsatzpapier bestens durchdacht, auf dem sich zu Beginn das (von Daedalus konstruierte) Labyrinth des Minotaurus ohne Faden der Ariadne und am Ende mit Faden wiederfindet, den die Leserinnen und Leser als Überblick über zentrale Episoden am Ende der Lektüre in jedem Fall bei der Hand haben, um sich im komplexen Labyrinth der Sagen auszukennen. Es wird eine illustre Auswahl an 17 ovidischen Episoden eröffnet, die teilweise in der aktuellen mythoshaltigen KJL große Prominenz genießen (Jupiter und Europa, Narziss und Echo, Arachne, Midas, Ariadne und Theseus, Daedalus und Ikarus, Narziss und Echo, Orpheus und Eurydike), teilweise aber auch bislang nur kursorisch oder marginal aufgegriffen werden (die vier Weltzeitalter, die große Flut, Deucalion und Pyrrha, Daphne und Apollo, Pan und Syrinx, lykische Bauern, Philemon und Baucis, Picus, Fama). Die detailverliebte Bildsprache in einem pluralistischen Stilmix, die die Betrachterinnen und Betrachter zum Verweilen einlädt, stammt von Ana Sender. Letztere hat sich bisweilen vor allem durch die Bebilderung von (weniger verbreiteten) Märchen- und Feenwelten hervorgetan. Die Bildwelten verbinden sich passend mit den gut selbst zu lesenden oder vorzulesenden klaren Texten von Heinz Janisch, der bereits vereinfachte Adaptionen zu märchenhaften Sujets wie Peter und der Wolf oder zu Mythischem wie Geschichten aus der Bibel verfasst hat. Beide bleiben mit dem vorliegenden Titel also in ihrer Komfortzone, wodurch das Endprodukt ein herausragendes Niveau in Bezug auf Bildwelten und Sprache aufweist.

Die Göttin Fama verbreitet GerüchteDie Göttin Fama verbreitet Gerüchte

Mythenchronologisch nachvollziehbar und nach dem strukturgebenden Vorbild der Metamorphosen finden sich zunächst die Entstehung der Welt und die vier Zeitalter, sodann die Deucalionische Flut und die Kreation eines neuen Menschengeschlechts durch Deucalion und Pyrrha. Diese (ontogenetischen) Mythen sind durch großformatige Zeichnungen vielfältigster Machart, von phantasievollen Vignetten und von Pflanzenborten ausgeschmückt und durch eine einzigartige Bildsprache unterstützt. So findet sich z.B. auf Seite 23 eine meisterhafte Buntstiftzeichnung, auf der die letzten beiden Menschen in der Erde nach Steinen wühlen, mit deren Hilfe auf S. 25 neue Menschen entstehen, die sich in unterschiedlichen Grautönen schraffiert golemartig emporheben. Ungewöhnlich ist auch die pastellfarben inszenierte Verwandlung von Daphne in einen Baum, deren Nägel dunkelbraune und orangebraune Wurzeln zu schlagen beginnen (S. 27). In einer gekonnten Kohlestiftzeichnung tippt der in sich selbst verliebte Narziss über beide schraffierten Wangen mit dem Finger auf sein fragiles Spiegelbild, während die Nymphe Echo sich im Hintergrund gespensterartig in Schall und Rauch auflöst (S. 39). Damit fügt die Zeichnung emblematisch zwei in Ovids Erzählung strukturell getrennte Teilepisoden zusammen. Die Highlights von unterschiedlichen künstlerisch ausgesprochen wertvollen Zeichnungen ließe sich beliebig fortsetzen. Man nimmt der in Spanien geborenen und ausgebildeten Illustratorin Ana Sender (*1978) jede Gefühlslage ihrer empathisch gezeichneten Figuren ab. Die Texte sind im Vergleich zum Originaltext des von Intellekt und Humor sprühenden und dementsprechend anspielungsreichen Autors Ovid bzw. der verbreiteten Übersetzung von Holzberg und selbst im Vergleich mit den Adaptionen von Schwab und Inkiow noch stärker komplexitätsreduziert. So eignet sich dieses bebilderte Prachtbuch mit blauen Seitenrändern gut für eine jüngere Leserschaft ab zehnJahren. Zum Vorlesen kann der Titel freilich schon ab sechsJahren Verwendung finden, zumal sich die auf einen Umfang von je ca. vier Seiten verdichteten Episoden gut dafür eignen.. Der Autor Janisch lässt Elemente, die weniger den bürgerlichen Konventionen zu entsprechen scheinen, aus seinen Metamorphosen weg, was sicherlich der Adaption für ein auch kindliches Publikum geschuldet ist, jedoch zugleich Gesprächspotenzial verschenkt: So wird die Bi-Sexualität von Narzissus im Zusammenhang mit seiner Verschmähung von männlichen Liebhabern getilgt, was leider mit Blick auf aktuelle Bilderbuchpublikationen etwas anachronistisch wirkt. Es wird das Potenzial verschenkt, Kinder mithilfe antiker Mythen, die oftmals Vielfalt in Sachen Liebe zelebrieren, mit Diversität vertraut zu machen. Auch entfällt das skandalös wirkende Imstichlassen der hilfsbereiten Ariadne durch den in dieser Hinsicht wenig heroischen Theseus, der doch ohne die Hilfe des Fadens der in ihn verliebten kretischen Prinzessin das Labyrinth niemals wieder verlassen hätte können. Nach einer Würdigung von Ovid als poeta doctus und einem hilfreichen Eigennamenverzeichnis endet das Sagenkompendium mit einem fragil wirkenden Ovid-Portrait, dessen Ränder verschwimmen und das den ingeniösen Dichter mit seiner charakteristischen ausgeprägten Nase und als lorbeerbekränzten poeta laureatus ins Bild setzt (S. 89). Der einzige Kritikpunkt an diesem ansonsten rundum gelungenen Band wäre, dass die kunstvolle Verschachtelung der Episoden aus den Metamorphosen als Metanarrativ durch immer wieder andere (Unter-)Erzähler ausgeblendet bleibt. Die einzelnen ausgewählten Verwandlungsgeschichten werden wie in einem Grimmschen Märchenbuch lediglich additiv aneinandergereiht. Doch verweist das Labyrinth wohl zumindest als graphisches Symbol auf die verwinkelte Erzählstruktur von Ovids poetischem Kunstwerk.

Latona mit ihren Kindern Apollo und ArtemisLatona mit ihren Kindern Apollo und Artemis

Fazit

Summa summarum ist ein beachtliches Gesamtkunstwerk entstanden, das die komplexen, phantastischen und bisweilen befremdlichen Inhalte von Ovids Metamorphosen auf ein ansprechendes Niveau mit vielschichtigen und deutungsoffenen Bildern für Heranwachsende ab sechs Jahren herunterbricht. Zudem eröffnen die Illustrationen vielschichtige Deutungsebenen, die den Text weiterführen und oftmals schon fortgeschrittenere Metamorphosen verbildlichen, sodass man sich diese gut vorstellen kann. Dieses Bilderbuch mit kurzen und gut verständlichen Texten ist eine Bereicherung für jeden Sagenfan und sollte ein Klassiker der Metamorphosen als Bilderbuch werden. Wir wollen mehr Sagen- oder Märchenbücher vom Dreamteam Janisch und Sender – semper vivent (frei nach Ovid)!


Erstpublikation: https://www.fachdidaktik.klassphil.uni-muenchen.de/forschung/verbuende/the-past-for-the-present/buchtipp-antike-aktuell-2022-2/index.html (2.9.22)

Titel: Das goldene Zeitalter - Die Metamorphosen des Ovid
Autor/-in:
  • Name: Janisch, Heinz
Illustrator/-in:
  • Name: Sender, Anna
Erscheinungsort: Zürich
Erscheinungsjahr: 2022
Verlag: NordSüd Verlag
ISBN-13: 978-3-314-10614-9
Seitenzahl: 96
Preis: 23,00 €
Altersempfehlung Redaktion: 6 Jahre
Janisch: Das goldene Zeitalter (Cover)