Inhalt
Seit dem tödlichen Unfall ihrer Eltern wird die 13-jährige Kat von Jugendheim zu Jugendgefängnis gereicht, bevor sie in einem katholischen Internat in ihrer Heimatstadt Rust Bank eine letzte Chance bekommt (Abb. 1). Dort hat sie aber kaum Zeit, sich als Rebellin zu inszenieren, da sie eher unfreiwillig ihre beiden Schutzdämonen Wendell & Wild in die Welt der Lebenden lockt. Den verträumten Brüdern kommt dies nur recht, denn sie langweilen sich in ihrem Alltagsjob, der daraus besteht, die Glatze ihres Dämonenvaters Buffalo Belzer mit Haarwuchsmittel einzureiben. Viel lieber möchten sie einen Vergnügungspark, eine „dream fair“, für tote Seelen bauen. Dafür brauchen sie aber Geld, das sie mit einem auf Erden unverhofften Nebeneffekt der Haarwuchscreme einheimsen wollen: Sie kann Tote wieder zum Leben erwecken (Abb. 2).
Kat erhofft sich von der Creme natürlich, ihre Eltern wiederzusehen, doch die Besitzer von Klax Korp, des örtlichen Megakonzerns, haben ganz andere Pläne: Um die nötigen Stimmen zu bekommen, um im Gemeinderat die Bauerlaubnis für ein lukratives Privatgefängnis zu erhalten, lassen sie Wendell & Wild kurzerhand ein halbes Dutzend verstorbener Ultrakapitalisten zum Leben erwecken. Mit diesen Zombiestimmen können sie endlich ihr Vorhaben in die Tat umsetzen. Kat und ihre Mitstreiter versuchen natürlich, das finstere Vorhaben aufzuhalten, das das einst idyllische Städtchen Rust Bank in eine Stacheldrahthölle verwandeln würde. Praktisch, dass Raúl, einer von Kats neuen Freunden, in der Zwischenzeit auch Kats Eltern zum Leben erweckt hat, die dadurch ein irdisches Wiedersehen mit dem Töchterchen feiern können.
Kritik
Tragischer kann ein Film nicht beginnen: Auf der Autorückbank erschrickt ein kleines achtjähriges Mädchen vor einem Wurm im Apfel, während es mit seinen Eltern über eine eisverschneite Brücke fährt. Da der Vater kurz abgelenkt ist, durchbricht das Auto die Brüstung und fällt ins eiskalte Wasser. Das kleine Mädchen wird von der Mutter noch durch das rettende Fenster aus dem Auto gereicht, bevor dieses mitsamt der Eltern für immer in den Untiefen des Wassers verschwindet.
Dementsprechend beginnt Wendell & Wild geradezu traditionell als Meditation über Schuld und Sühne, denn da das junge Mädchen sich für den tödlichen Unfall verantwortlich macht, sabotiert sie sich selbst an allen Ecken und Enden und hat mit 13 Jahren bereits eine beeindruckende Vorstrafenliste angesammelt. Und wo landet solche Delinquentin? Genau, in einem katholischen Internat. Und von dort ist es nicht mehr allzu weit bis zum Kontakt mit Dämonen, Teufelspakten und mit den Machenschaften der Unterwelt vertrauten Nonnen. Und natürlich steckt der Internatsleiter mit den örtlichen Kapitalisten im Bunde (Abb. 3).
Wendell & Wild ist auf einer Ebene ein Coming-of-Age-Film im Gewande eines Internatsfilms: Die Protagonistin Kat muss mit ihren Schuldgefühlen zurechtkommen, um ihre Selbstsabotage als ewige Delinquentin überwinden zu können, und auch ihre titelgebenden Dämonen haben letztlich ein handfestes Beziehungsproblem zu ihrem buchstäblich überlebensgroßen Vater, der sie scheinbar daran hindert, sich (mit dem von ihnen erträumten Vergnügungspark) weiterzuentwickeln. Auf einer anderen Ebene ist Wendell & Wild ein Gesellschaftskommentar und Abgesang auf die US-amerikanische Demokratie. Die Strippenzieher von Klaxon Korp. – ein schwarzer Ultrakapitalist mit Donald-Trump-Gedächtnisperücke und seine weiße Ehefrau (Abb. 4) – gehen sogar noch einen Schritt weiter, als die US-Republikaner es derzeit vermögen: Da ihnen im Gemeinderat die Stimmen für die Zulassung des Gefängnisses fehlen, lassen sie Wendell & Wild kurzerhand das nötige Stimmvieh wieder zum Leben erwecken. Die Zombiewähler sorgen dann auch dafür, dass die geld- und machthungrigen Ultrakapitalisten, mit geistlicher Unterstützung vom Evangelikalenpendant Father Levels Best, zumindest kurzzeitig an ihr Ziel kommen.
Die politische Ebene ist kein Zufall: Das Drehbuch haben Regisseur Henry Selick und Jordan Peele geschrieben, es beruht wiederum auf einer unveröffentlichten Geschichte, die Selick zusammen mit Clay McLeod Chapman entwickelt hat (https://directories.wga.org/project/1222415/wendell-and-wild). Peeles Ruf beruht vor allem auf seinen Filmen Get Out und Us, die nur vordergründig Horrorschocker sind, und vielmehr bitterböse Sozialkommentare über den bisweilen abgrundtiefen Rassismus der US-amerikanischen Gesellschaft.
Für den Stop-Motion-Maestro Selick ist Wendell & Wild die erste Regiearbeit seit seiner Adaption von Neil Gaimans Coraline (2009). Der Film entwickelt die vertraute Stop-Motion-Ästhetik von The Nightmare Before Christmas, Corpse Bride oder Coraline weiter. Wie gehabt bewegen sich die Figuren in einer überästhetisierten, expressionistischen Filmwelt mit ausgeprägten Diagonalen und starken Farben (Abb. 5). Doch die Figuren selbst sind deutlich künstlicher ausgestaltet, in ihren Bewegungen abgehackter, ihre Gesichter erkennbar aus Versatzstücken zusammengesetzt. Dämonische Unterwelt und die irdische Oberwelt sind auch in ihrer Raumwirkung visuell klar voneinander abgegrenzt, wie sich an den Dämonen erkennen lässt: Während Wendell und Wild in der Menschenwelt räumlich ausdifferenzierte, an Laurel und Hardy gemahnenden Wesen sind, sind sie in ihrer dämonischen Heimatwelt eher als geradezu zweidimensionale, fast picasso-esque kubistisch anmutende Wesen dargestellt (Abb. 6).
Das alles ergibt einen sehr schrägen und gewiss auch sehr gewöhnungsbedürftigen Mix. Sobald man sich auf die erzählerischen und ästhetischen Spielregeln dieser Filmwelt einlässt, ist Wendell & Wild eine helle Freude, die einem vor allem allzu eingefahrene Rezeptionsmuster gehörig durchpustet. In fast jeder Szene finden sich große und kleine Ideen, ästhetische Einfälle, witzige Dialoge, Anspielungen auf die große weite Welt des (Horror-)Films und die kleine Welt der Weltpolitik.
Fazit
Nichts für kleine Kinder, natürlich. Aber ein großartiger Spaß für diejenigen ab ca. 16 Jahren, die schon von Tim Burtons Stop-Motion-Horrorgrotesken und von Coraline nicht genug bekommen konnten. Zu sehen ist dieses filmische Kleinod seit dem 28. Oktober 2022 auf Netflix.
- Name: Selick, Henry
- Name: Selick, Henry
- Name: Peele, Jordan