Inhalt

Die 16jährige Tess passt in keine Form, scheinbar in kein Lebenskonzept, weiß nicht, wer sie ist, kämpft mit sich und ihren Emotionen, weiß erst recht nicht, worüber sie ihre schulische Hausarbeit schreiben soll, die sie unbedingt mit summa cum laude abschließen will und mit der sie sich wahnsinnig Druck macht. Im Schuhgeschäft lernt sie Sannes Mutter Evelien kennen. Sanne war im selben Alter wie Tess und ist an Krebs gestorben. Tess fühlt sich beinahe magisch von der trauernden Mutter angezogen, schreibt dieser zunächst einen Brief und beginnt dann, zur Irritation des Lesers, die ihr völlig fremde Frau, deren verstorbene Tochter sie gar nicht kannte, regelmäßig zu besuchen. Die Motive der Ich-Erzählerin bleiben zunächst im Unklaren und es ist offen, was sie eigentlich bei Evelien sucht. Die trauernde Mutter lässt sich auf die Beziehung zu Tess ein, grenzt sich aber auch immer wieder ab und schickt sie fort – doch die Protagonistin lernt hier vor allem eins: sich zu streiten und sich abzugrenzen. Evelien wird ihr zum Vorbild im schwierigen Selbstfindungsprozess. Erst nach und nach erzählt die Ich-Erzählerin die Vorgeschichte, welche ihre aktuelle Lebenskrise bedingt. Auslöser war ihre Beziehung zu Parzival, im Text meist nur mit P. abgekürzt, einem Junglehrer, zu dem sie eine private Beziehung eingegangen war. Zunächst hatte es den Anschein, als wolle er sie nur als Begleitperson für Voraufführrungen seiner Theaterinszenierungen in den ganzen Niederlanden haben. Tess unternimmt lange Reisen und Spaziergänge mit ihrem Lehrer und lauscht fasziniert dessen Monologen, etabliert sich für ihn als wunderbare Zuhörerin. In keiner Weise wird sie stutzig, als er sie küsst und sich vor ihr auszieht, obwohl er in einer Beziehung lebt und seine Partnerin ein Kind erwartet. Naiv erzählt sie von seiner schwangeren Freundin, bemerkt weder die eigene Verliebtheit noch die Grenzwertigkeit seines Verhaltens, bewundert P. uneingeschränkt und ist am Boden zerstört, als der Lehrer das Verhältnis nach der Geburt seines Sohnes abrupt beendet. Erst die Beziehung zu Sannes Mutter öffnet ihr in der Rückschau die Augen.

Kritik

Erna Sassen, die sich schon in ihren Roman Das ist hier ist kein Tagebuch als Meisterin der dramaturgischen Inszenierung jugendlicher Gefühlswelten aus der Innensicht gezeigt hat, stellt auch in Keine Form in die ich passe ihr Können unter Beweis. Sie präsentiert hier erneut ein virtuoses Spiel mit interner Fokalisierung, das irritiert und durch die geschickte Kopplung verschiedener Erzählebenen und achronologischer Zeitstruktur den Leser auf brisante Achterbahnfahrten schickt, die alle auf die Gefühle der Ich-Erzählerin Bezug nehmen und sich auch paratextuell im Schriftbild widerspiegeln. Dieses wechselt zwischen Schreibschrift, Kursivdruck und normalen Druck, die verschiedene Emotionen und Gedankengänge der Protagonistin spezifisch kennzeichnen. Sind die Gefühle besonders stark und verzweifelt, finden sich Großbuchstaben: "ICH WEIß ES IMMER NOCH NICHT. KEINE AHNUNG. MIR ERZÄHLT JA KEINER WAS." (S. 27). Viele innere Monologe in unvollständigen Sätzen kennzeichnen das innere Erleben der völlig erschütterten Ich-Erzählerin, sodass eindringlich deutlich wird, wie verzweifelt durcheinander das Mädchen ist. Konsequent der Innensicht verhaftet bleibt die Darstellung des angehimmelten Lehrers, dem der erwachsene Leser spätestens dann mit einer Strafanzeige begegnen möchte, als er sich vor der Protagonistin entblößt, woran diese aber überhaupt keinen Anstoß nimmt:

Das eine Mal, als er im Auto zu mir sagte: 'Wenn du nicht eine Schülerin von mir wärst, Tess, dann wüsste ich, was ich jetzt täte...' Und das eigentlich recht unzweideutige Signal, als er zum Spaß seine Hose runterließ. Es war mitten in der Nacht, wir hatten in der Kneipe noch über die Probe von Romeo und Julia geredet und verabschiedeten uns gerade bei unseren Fahrrädern. 'Schau, Tess, ich habe einen Steifen!' Er war betrunken, dachte ich. Ich lachte etwas dämlich, hatte noch nie einen Steifen gesehen, keine Ahnung, wo so etwas so plötzlich herkam, ich stotterte, es sei schon spät und sprang auf mein Rad.

Zu Hause in meinem Bett dachte ich die ganze Zeit: Könnte er damit wohl irgendwas beabsichtigt haben?

Ich dummes Huhn. (S. 135)

Durch die durchgehend interne Fokalisierung, im Rahmen derer die inneren Selbstzweifelkämpfe abgebildet und ausgetragen werden, ist die Erzählung frei von jeglicher belehrender Moral und ganz auf die inneren Konflikte der Protagonistin Tess zentriert. Sie berichtet mit schonungsloser Offenheit von den Selbstanschuldigungen und Selbstvorwürfen, die sie sich macht. So fragt sie sich permanent, ob sie eine zwanghafte Stalkerin ist, weil der verantwortungslose Lehrer ihr ebendas vorwirft, als sie beginnt ihm nachzulaufen, nachdem er die Beziehung beendet hat. In ihrer grenzenlosen Naivität bringt sie ihm ein Geschenk für sein neugeborenes Baby und kann nicht einordnen, dass er ihr die Worte "Zieh Leine, Tessl!" entgegenschleudert. Die Schuld sucht sie nur bei sich – und erst auf der Ebene der Erzählgegenwart kann sie schließlich, bedingt durch die skurril anmutende Freundschaft mit Sannes Mutter, Distanz zu den eigenen Schuldgefühlen und damit auch ein wenig Distanz zu dem Lehrer gewinnen.

Dadurch dass Tess am Ende doch eine Form zu finden scheint, in die sie passt und erste sexuelle Erfahrungen macht, von denen sie ebenso schonungslos offen berichtet wie von allem anderen, zeigt sich schließlich ein Hoffnungsschimmer – und ein Weg aus der Depression. Darum ist Keine Form in die ich passe auch kein deprimierendes Buch, sondern vor allem eine kunstvolle Dramaturgie perfekt inszenierter verzweifelter Emotionen, deren literarischer Sprachklang sich auch durch die vielen von Tess selbst geschriebenen lyrischen Songtexte entfaltet. Daneben steht das Spiel mit intertextuellen und intermedialen Bezügen, das sich aus der Vorliebe für Theater und Klaviermusik der Ich-Erzählerin speist:

Erst die Tonleitern und Fingerübungen.

Das ging.

Dann ein paar Etüden.

Ging auch. Leidlich.

Dann die ersten Takte von Canto Ostinato.

Ich musste mich etwas übergeben.

Aber ich gab nicht auf.

Einen Eimer neben den Flügel.

Mich ab und zu übergeben.

Einfach weiterspielen. (S. 143)

Hier zeigt sich die lyrische Sprachgewalt, mit der Erna Sassens Roman daherkommt. Jedes Wort, jeder Satz passt auf den andern und fügt sich ein in den inneren Verzweiflungskampf, den Tess ausficht, um endlich die Form zu finden, in die sie passt. Die sprachliche Form der Erzählung bietet dafür den passgenauen Rahmen.

Fazit

Ein faszinierendes Buch, das genau die sprachliche Form gefunden hat, in die die inneren Konflikte der Ich-Erzählerin passen. Ein schonungslos ehrlicher Text, der ernste und schwierige Themen behandelt, der jugendlichen Lesern ab 16 Jahren zu empfehlen ist, die Freude an ungewöhnlicher sprachlicher Gestaltung haben und die vor einer Handlung, die sich mit Tod, Trauer, Schmerz und Depression befasst, nicht zurückschrecken.

Titel: Keine Form in die ich passe
Autor/-in:
  • Name: Sassen, Erna
Originalsprache: Niederländisch
Originaltitel: Er is geen vorm waarin ik pas
Übersetzung:
  • Name: Rolf Erdorf
Erscheinungsort: Stuttgart
Erscheinungsjahr: 2018
Verlag: Freies Geistesleben
ISBN-13: 978-3-7725-2863-7
Seitenzahl: 222
Preis: 18,00 €
Altersempfehlung Redaktion: 16 Jahre
Sassen, Erna: Keine Form in die ich passe