Inhalt
Es gibt Leute, die leben nebenbei, ganz selbstverständlich, ganz unangestrengt, ohne darüber nachzudenken. Und es gibt mich. Für mich ist „leben“ eine riesige Herausforderung, in der nichts auch nur ansatzweise Selbstverständlichkeit besitzt. Ich bin eine Lebenslegasthenikerin. (S. 45)
So fühlt sich die 19jährige Paula. Dabei hat sie das Abitur in der Tasche und schon konkrete Pläne für die Zeit, die vor ihr liegt. Sie hat vor, ein Praktikum in einer Einrichtung für behinderte Kinder zu machen. Dafür muss sie das behütete Zuhause ihrer Kindheit verlassen und in eine Großstadt ziehen. Sie will die an sie gestellten Erwartungen erfüllen und etwas Sinnvolles leisten, Verantwortung übernehmen. Dabei schafft Paula es nicht einmal, für sich selbst zu sorgen. Die Stimme in ihrem Inneren, die nach Kontrolle verlangt, ist viel lauter als der Körper, der nach Nahrung verlangt. Als sie schließlich kollabiert, wird von Ärzten die Diagnose gestellt: Anorexie und Depression. Nach wochenlangem Warten bekommt Paula einen Platz in einer Klinik. Dort beginnt sie einen kräftezehrenden Kampf mit vielen Höhen und Tiefen gegen die Krankheit, denn allmählich erkennt sie: „Leben ist nicht einfach. Aber zum Aufgeben immer wieder viel zu schön.“ (S. 156)
Kritik
Für alle, die das Gefühl haben, ihr Leben ist gerade ein wellenschlagendes Meer, in dem man jeden Tag kämpfen muss, um nicht unterzugehen, während andere im seichten Wasser ganz unangestrengt flussabwärts treiben. Und für alle, die verstehen wollen, wie es sich in den Wellen anfühlt. (S. 5)
Mit diesem Vorwort umschreibt die junge Autorin die Intention ihres Debütromans. Und das gelingt ihr auf großartige Weise. Durch die gewählte Ich-Perspektive und die bildhafte Sprache befindet man sich unmittelbar in Paulas Gefühls- und Gedankenwelt und kann so direkt miterleben, wie die sie kontrollierende Essstörungsstimme, die Bedürfnisse ihres Körpers beherrscht. Dieser andauernde Kampf hat nicht nur unmittelbare Auswirkungen auf Paulas Leib sondern auch auf ihre Psyche und ihr soziales Umfeld. Die wachsende Verzweiflung und Traurigkeit der jungen Frau sind förmlich greifbar. Es stimmt einen traurig zu lesen, wie es immer einsamer um Paula wird und wie rat- und machtlos ihr liebevolles Umfeld gegen diese Krankheit ist. Die Berührungen des Freundes, mit dem sie noch vor wenigen Monaten glückliche und unbeschwerte Momente erlebte, kann sie kaum noch ertragen. Denn neben der Stimme des Körpers werden auch die Gefühle immer leiser und gedämpfter. Glücklicherweise gibt es trotzdem noch Familienmitglieder sowie Freunde und Freundinnen in Paulas Umfeld, die bleiben, lieben, aushalten und nicht urteilen, die versuchen zu verstehen und unterstützen.
Das Buch gibt keine Antworten auf die Frage nach den Ursachen, aber es ermöglicht, ehrliche und eindringliche Einblicke in eine Krankheit, die eine zunehmende Zahl von Menschen, meist Mädchen und junge Frauen betrifft, und die sogar tödlich enden kann.
Und es macht Hoffnung. Denn Paula kämpft sich zurück in ihr Leben. In der Klinik wird nicht nur ihrem Körper geholfen, sondern es gelingt ihr in vielen kleinen Schritten, sich ihren Ängsten zu stellen.
Das hier ist zu meiner kleinen, kontrollierbaren Welt in der großen, unkontrollierbaren da draußen geworden – mit der Glastür als Grenze, dem Flur als Zentrum und den Zimmern als Länder. Der Gedanke, die schützende Enge der Räume und Struktur zu verlassen, macht Angst. Der Gedanke auf Freiheit macht Freude. Das eine schließt das andere nicht aus. Leben ist nicht schwarz oder weiß. Leben ist immer wieder die Nuance dazwischen. (S. 142)
Fazit
Dies ist keine einfache Unterhaltungslektüre, sondern eine zutiefst berührende Darstellung einer psychischen Krankheit und ihrer Heilung. Ein bewegender und sprachlich überzeugender Roman, der hilft zu verstehen, das eine Magersucht mit Leid und Einsamkeit verbunden ist und zeigt, was Betroffenen helfen kann. Für junge Menschen ab 14 Jahren
Menschen, die selbst von Depressionen und/oder Essstörungen betroffen sind, sollten allerdings achtsam sein, was die Lektüre bei ihnen auslöst.
- Name: Lund, Anne