Inhalt
Italien, Spanien, die Malediven und sogar Florida – als in der letzten Stunde vor den Sommerferien alle von ihren Urlaubsplänen erzählen, klingt das wie ein Gang durch den Luxuskatalog der Traumreisen. Und ehe sie es sich versieht, hat auch Ina vor ihrer gesamten Klasse verkündet, sie fahre mit ihrer Mutter „in den Süden“. Dass diese Lüge von vornherein auf wackligen Beinen steht, ist auch Ina klar: Wohnt sie doch mit ihrer Mutter in der Wohnsiedlung Tyllebakken, die von den Mitschülerinnen und Mitschülern gerne als „Güllebakken“ geschmäht wird. Geld zum Verreisen haben die beiden nicht, Inas Mutter ist arbeitslos und findet kaum die Energie morgens aufzustehen und sich ordentlich anzuziehen. Als ihre Mutter dann auch noch verkündet, dass sie während der gesamten Sommerferien einen Kurs beim Arbeitsamt belegen muss, steht für Ina fest, dass der Sommer kaum schlimmer werden kann. Doch da hat sie die Rechnung ohne Vilmer gemacht, den Neuen mit dem schiefen Schneidezahn und den peinlichen T-Shirts, der genau wie sie im Tyllebakken wohnt. Er schafft es, Ina aus ihrer Wohnung zu locken, in der sie sich tagsüber verschanzt, um die „Südenlüge“ aufrechterhalten zu können. In der verlassenen Hausmeisterwohnung des Komplexes finden die beiden einen Ort, an dem sie sich ungestört aufhalten und dem Ärger zuhause entfliehen können – Ina ihrer müden und deprimierten Mutter und Vilmer seinem alkoholkranken Vater, der „pleite“ ist.
Doch die soziale Realität holt die beiden ein: Inas Mitschülerinnen haben ihre Angeberei natürlich längst durchschaut und drängen mit boshafter Neugier danach, alles ans Licht zu zerren. Ina sieht sich plötzlich in die Enge gedrängt und in ihrer Angst vor dem Spott der anderen, trifft sie eine folgenreiche Entscheidung gegen Vilmer und ihr Südenparadies. Als sie bemerkt, was sie damit angerichtet hat, ist es (scheinbar) zu spät…
Kritik
Der Plot um die Außenseiterin Ina, die sich zwischen der oberflächlichen, aber angesagten Clique um ihre Mitschülerinnen und dem Außenseiter Vilmer entscheiden muss, folgt in seinen Grundzügen durchaus dem bekannter High School Movies. Doch die psychologische Tiefenzeichnung der Figuren verhindert, dass der Roman auch nur einen Hauch von Rom-Com-Romantik versprüht. Zu drängend sind Inas Nöte, zu schmerzhaft die Probleme ihrer und Vilmers Familie. Das Zusammenleben mit einer depressiven Mutter, die ihren Alltag nur mühsam bewältigt, wird anschaulich geschildert, ebenso wie Inas Bemühungen, die „perfekte Tochter, die das Beste aus aus einem nicht gerade perfekten Sommer macht“ zu sein (75).
Dem steht die sich langsam entwickelnde Freundschaft zwischen Ina und Vilmer entgegen, für deren Gelingen Ina jedoch ein ums andere Mal ihre Vorstellungen von ‚nützlichen‘ Freundschaften, die sie sozial „weiterbringen“ überwinden muss. Auch Vilmer hat Inas Lüge vom Südenurlaub sofort durchschaut, denn die Angst davor bloßgestellt zu werden, ist ihm selbst vertraut, und er gesteht ihr, dass er sich in ihrer Geschichte „dermaßen wiedererkannt“ hat (89). Die Versuchung, die nicht so perfekte Wahrheit zu beschönigen, dürfte auch einige Lesende wiedererkennen – auch wenn sie ihr möglicherweise nicht so spektakulär erliegen wie Ina. Ebenso bekannt sein dürfte nach zwei Jahren Pandemie vielen Leserinnen und Lesern das Gefühl des in der eigenen Wohnung eingesperrt Seins, das Kaurin mit der Stimme der autodiegetischen Ich-Erzählerin Ina so treffend beschreibt:
Ich google Gefangener + eigenes Zuhause und lese Geschichten von Leuten, die im selben Boot sitzen wie ich. Von Straftätern, die eine Fußfessel tragen und ihr Haus nicht verlassen dürfen. Von einer deprimierten Mutter mit einem Baby, die sich daheim eingesperrt fühlt und nicht die Kraft aufbringt, mit dem Kind nach draußen zu gehen. Von einem Dichter, der seine Wohnung dreißig Jahre lang nicht verlassen hat. Wir sind viele, die auf unterschiedliche Weise in ihren eigenen vier Wänden eingeschlossen sind. (61/62)
Ob es solche, plötzlich geradezu universell aktuelle Passagen wie diese waren, die dem Roman den Deutschen Jugendliteraturpreis 2021 eingebracht haben, ist offen. Verdient hat der Roman den Preis aber sicherlich auch für die unaufdringlich eindringliche Art , mit der er soziale Werte infrage stellt.
Der selbstverständliche Materialismus, mit dem die meisten Figuren ihr eigenes und das Leben der anderen beurteilen, wird von Kaurin an keiner Stelle bewertet oder in den Vordergrund gestellt. Ihre Kritik ist subtiler. Teure Fernreisen und opulente Geburtstagspartys sind in Inas Klasse nicht etwa ein Luxus, sondern die Voraussetzung, um sozial anerkannt zu werden. Die Tatsache, dass Vilmer sich nicht um seine Kleidung zu scheren scheint, ist für Ina daher unbegreiflich. Sie und ihre Mutter sind nicht etwa sympathische Aussteigerinnen aus dieser Welt, sondern deren Verliererinnen. So ist ein teures Garnelenessen der größte Traum der Mutter für den Sommer. Und auch der Süden, den sich Ina und Vilmer so eifrig in der verlassenen Hausmeisterwohnung bauen, ist zunächst einmal die Nachahmung eines kapitalistischen Traumziels. Dass seine eigentliche Bedeutung aber gerade nicht in der Imitation des realen Fernziels liegt, realisiert Ina erst ganz allmählich und typischerweise erst, als es schon (fast) zu spät ist.
Fazit
Marianne Kaurins Irgendwo ist immer Süden ist nicht nur ein überzeugender psychologischer Kinderroman, dessen Erzählstimme Franziska Hüthers Übersetzung gekonnt ins Deutsche überträgt. Zudem handelt es sich um eine bei aller Ernsthaftigkeit auch unterhaltsame Ferienlektüre für alle Reisenden ab zehn Jahren – ganz egal, wo im Süden, sie sich gerade aufhalten.
- Name: Marianne Kaurin
- Name: Franziska Hüther