Inhaltsverzeichnis
1 Anfänge bis zum 18. Jahrhundert
2 Spätes 18. Jahrhundert: Kinder- und Jugendliteratur der Aufklärung
3 18. und 19. Jahrhundert: Jugend-, Entwicklungs-, Bildungs-, Backfischromane
4 Kinder- und Jugendliteratur im Zeichen der Romantik
5 Kinder- und Jugendliteratur der Jahrhundertwende und der Weimarer Republik
6 Kinder- und Jugendliteratur der Nachkriegszeit in Westdeutschland und Österreich
7 Paradigmenwechsel der Kinder- und Jugendliteratur um 1970
8 Grenzüberschreitungen: Trends und Tendenzen in der deutschen Kinder- und Jugendliteratur zu Beginn des 21. Jahrtausends
Für die Kinder- und Jugendliteratur des westlichen deutschsprachigen Raums beginnt um 1970 eine neue Ära: Die Kinderliteratur tritt in eine "andere Moderne" ein, während für die offizielle, die in den Kinderbuchverlagen erscheinende Jugendliteratur keine "andere", sondern erstmals die Moderne als solche überhaupt aktuell wird. Letztere bediente sich bislang vornehmlich traditionaler, vormoderner literarischer Muster, blieb, was etwa ihre Ausprägung für männliche Jugendliche anging, Abenteuerliteratur im weitesten Sinne des Worts. Ab den 70er Jahren nimmt sich die spezifische Jugendliteratur erwachsenenliterarische Texte zum Vorbild, die anderen Mustern folgen und im Übrigen längst zur angestammten Lektüre Jugendlicher gehören: gemeint sind bspw. J. D. Salingers The Catcher in the Rye (1951; dt. 1954) oder Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. (1972). Eingeleitet ist damit ein grundlegender jugendliterarischer Paradigmenwechsel: Es kommt zur Übernahme all der modernen Romanformen, die erwachsenenliterarisch seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zur Anwendung gelangten, wenn es um die literarische Verarbeitung der neuen, verlängerten Adoleszenz ging – des Entwicklungs-, Bildungs- oder des Adoleszenzromans nämlich. Der "neue", moderne Jugendroman nimmt Teil an der Exploration der Schwierigkeiten einer Identitätsfindung unter den Bedingungen der Moderne, statt seinen Lesern Ablenkung und Evasion anzubieten, wie es die traditionelle Jugendliteratur zu einem Großteil getan hatte.
Bei der Kinderliteratur haben wir es demgegenüber mit zwei unterschiedlichen, ja, entgegengesetzten Ausprägungen von Modernität zu tun. Die moderne Kinderliteratur vor 1970 zielte ab auf die Autonomisierung von Kindheit als einer anderen, einer Gegenwelt. In den kindlichen Frei- bzw. Spielräumen waren die (Markt-)Gesetze der Moderne suspendiert; es handelte sich also um die moderne Inszenierung einer Gegenmoderne. Die "andere Moderne" setzt nach Ulrich Beck dort ein, wo die Moderne auf die von ihr selbst hervorgebrachte Gegenmoderne übergreift. Nichts anderes geschieht in der Kinderliteraturreform von 1970: Sie überträgt die Grundprinzipien der Moderne, in diesem Fall die modernen Grundrechte, nun auch auf die Kinder, die nicht mehr andere, sondern die gleichen Rechte wie die Erwachsenen besitzen sollen. Die neue Kinderliteratur ab 1970 ist eine Literatur der kindlichen Gleichberechtigung und reklamiert die allgemeinen Menschenrechte auch für Kinder. Das ihr zugrunde liegende Kindheitsbild hebt auf die Gemeinsamkeiten von Kindern und Erwachsenen ab. Die Betonung der Andersartigkeit von Kindern in der modernen Kinderliteratur vor 1970 wird jetzt als eine zwangsweise Infantilisierung empfunden, die nicht zuletzt auf eine Entmündigung der Kinder hinausläuft.
In der neuen Kinderliteratur ab 1970 werden die Kinder aus den Freiräumen, den teils exotischen Spiel- und Abenteuerwelten zurückgeholt und ins wirkliche Leben gestellt, wo sie für ihre Menschenrechte eintreten sollen. Man nimmt sie "ernst", belässt ihnen einen Entscheidungsspielraum, respektiert ihre Entschlüsse, gewährt ihnen Mitsprache und Mitbestimmung, sieht in ihnen nicht mehr Befehlsempfänger, sondern Verhandlungspartner. In der sog. "antiautoritären Kinderliteratur" (ca. 1968-1972) sind es die Kinder selbst, die sich all dies gegen den teilweise erbitterten, teilweise hilflosen Widerstand der Erwachsenen, der Väter vor allem, erkämpfen (Christine Nöstlinger: Wir pfeifen auf den Gurkenkönig, 1972). Die Kinder werden zu Bewohnern der Wirklichkeit, die ungeteilt eine der Kinder und der Erwachsenen ist und keinerlei idyllische Züge mehr aufweist. "Wir lassen unsere Kinder", so Ursula Wölfel 1972, "nicht nur auf sonnigen Spielplätzen und in hellen Klassenzimmern fröhlich sein. Sie leben mit den Erwachsenen in einer Welt voller Konflikte und Disharmonien." Die wegweisende Kurzgeschichtensammlung Die grauen und die grünen Felder (1970) dieser Autorin konfrontiert die kindlichen Leser mit der Vielzahl der sozialen und politischen Probleme dieser Welt – selbst auf die Gefahr hin, deprimierend zu wirken.
Mit der Verpflichtung auf die ungeteilte Wirklichkeit von Kinder und Erwachsenen verschwindet die bisherige Funktionsteilung von kindlichen Mittelpunkt- und erwachsenen Randfiguren. Die Erwachsenen werden nun auch mit ihren eigenen existentiellen Problemen zum Gegenstand der Kinderliteratur, die sich damit eine Fülle neuer Themen erobert: Beziehungsprobleme der Eltern, Scheidung, Emanzipationsstreben und Berufstätigkeit der Mutter, Arbeitslosigkeit des Vaters, Aggressivität, Alkoholismus und andere Suchtarten, schließlich Behinderung, Krankheit und Tod, um nur einige zu nennen (Hans Petersen: Jan Jansson, ein Junge mit Glück, 1970, dt. 1971; Peter Härtling: Das war der Hirbel, 1973, Oma, 1975, Fränze, 1989; Tormod Haugen: Die Nachtvögel, 1975, dt. 1978; Guus Kuijer: Erzähl mir von Oma, 1978, dt. 1981; Ursula Fuchs: Wiebke und Paul, 1982). Die neue Kinderliteratur mutet den kindlichen Rezipienten zu, die Probleme der mit ihnen lebenden Erwachsenen wahrzunehmen und zu verstehen. Ernst genommen werden sodann auch die kindliche Subjektivität, das Innenleben, die schwankenden Stimmungen, die Gefühle, die Träume und Ängste der Kinder. Die Mündigkeitserklärung fordert und belastet die Kinder psychisch in erheblichem Maße, und so nimmt es nicht Wunder, dass deren Innenleben unausgeglichen, angespannt und zerklüftet ist. An die Stelle des unbekümmerten, gänzlich extrovertierten und überwiegend heiter ausgeglichenen kindlichen Gemüts aus der vorangegangenen Kinderliteraturepoche der Nachkriegszeit ist das introvertierte, das eigene, oft aufgespaltete und zerrissene Innenleben bewusst wahrnehmende Kind getreten, das sein Inneres mit aufgeschnappten Begriffen aus Psychologie und Psychoanalyse in Ansätzen schon zu beschreiben weiß (Peter Härtling: Ben liebt Anna, 1979; Gudrun Mebs: Das Sonntagskind", 1983; Christine Nöstlinger: Olfi Obermeier und der Ödipus, 1984).
Zur Gleichberechtigung gehört schließlich auch das Anrecht der Kinder auf eine Literatur, die sich von der der Erwachsenen im Prinzip nicht unterscheidet. Die neue Kinderliteratur der 70er Jahre setzt die bislang geltenden stilistischen Konventionen außer Kraft, um sich einer anderen, einer dezidiert erwachsenenliterarischen Stilistik zu befleißigen. Neben dem Imperativ, von Kinder als Menschen zu handeln, tritt der weitere, für Kinder nicht anders als für Erwachsene zu schreiben. Den hier stattfindenden Stilwandel darf man als einen nahezu vollständigen Traditionsbruch bezeichnen. Die Werke der neuen Kinderliteratur ab 1970 sind stilistisch nicht mehr so ohne weiteres als Kinderliteratur erkennbar. Die lyrischen Texte etwa einer Susanne Kilian, einer Christine Nöstlinger oder eines Hans Manz erinnern in nichts mehr an das traditionelle, dem Liedhaften bzw. Sangbaren nahe, an Reimtechnik und strophischer Gliederung festhaltende Kindergedicht. Gebrochen wird ebenso mit den Traditionen kinderliterarischen (Geschichten-)Erzählens. Dass die moderne Kinderliteratur vor 1970 die althergebrachte epische Form des Erzählens wieder lebendig werden ließ, machte einen wesentlichen Aspekt ihrer Gegenmodernität aus. Die neue epische Kinderliteratur der 70er Jahre stellt sich in formaler und stilistischer Hinsicht auf die andere Seite, auf die des modernen Romans und seinen im Verlauf des 19. Jahrhunderts entwickelten komplexen Darstellungstechniken. Wir stoßen in den neuen Kinderromanen und -kurzgeschichten auf die moderne Ich-Erzählung, das personale Erzählen, auf die Technik des inneren Monologs bzw. des Bewusstseinsstroms, auf Formen wie Montage und dokumentarische Collage. Zur bevorzugten Form der neuen erzählenden Kinderliteratur hat sich der psychologische Roman mit seiner Dominanz des inneren Geschehens und seiner auf Ich-Stabilisierung und Selbstfindung konzentrierten Thematik entwickelt.
Damit ist kinderliterarisch eine erneute Gemeinschaftlichkeit von Kindern und Erwachsenen erreicht. Von einem Rückgang auf bzw. einer Wiederbelebung von kollektivistischen Lebensstilen vormodernen Charakters kann jetzt keine Rede mehr sein; wir haben es nun mit einer genuin modernen, d.h. vom Prozess der Modernisierung selbst hervorgebrachten Gemeinschaftlichkeit der Generation zu tun. Sie ergibt sich aus der Übertragung eines der politischen Grundprinzipien der Moderne, des Gleichheitsgrundsatzes, auf einen Personenstand, der hiervon bislang ausgeschlossen war. In ihrer modernen Ausprägung besteht die Gemeinschaftlichkeit von Kindern und Erwachsenen nicht mehr aus einem konkreten generationsübergreifenden Klassenschicksal, sondern einem abstrakten Egalitätsverhältnis, der abstrakten Gleichheit nämlich mündiger Subjekte.
Die Kinderemanzipationsideologie der 70er Jahre ist – insbesondere in ihren extremen Ausprägungen – mittlerweile selbst historisch geworden. In ihren grundlegenden Intentionen jedoch dürfte sie durch eine reale Veränderung von Kindheit eine dauerhafte Fundierung und Absicherung erfahren haben. Über diesen Wandel kindlicher Lebenswelten besteht innerhalb der Sozialwissenschaften keineswegs Konsens, doch ist auffallend häufig von einer Wiederannäherung der Lebensalter die Rede – und zwar beiderseitig, d.h. Vorverlagerung traditionell erwachsener Eigenschaften und Verhaltensweisen in das Jugend- und Kindesalter wie Konservierung kindlicher bzw. jugendlicher Züge im Erwachsenenalter, was Veranlassung gäbe, von einer Wiederaufhebung der historischen Trennung in verschiedene, relativ autonome Lebenswelten zu sprechen. An dieser Stelle sei nur ein Faktor herausgehoben, der bei der Aufhebung traditioneller Wissensgrenzen, die den Unterschied zwischen Kindheit und Erwachsenenstatus ganz wesentlich begründeten, eine entscheidende Rolle spielt. Gemeint sind die audiovisuellen Medien, die die Zugangsbarrieren zu einer Fülle von Wissensbereichen soweit herabsenken, dass bereits Kinder an politischen, sozialen, psychologischen, sexuellen etc. Diskursen prinzipiell teilhaben können, die zu pflegen bislang ein Privileg der Erwachsenen waren. Dass diese Wiederangleichung von zentralen Wissensbereichen und – vornehmlich freizeitkulturellen – Tätigkeitsfeldern nivellierend wirkt, zeigt sich auch auf literarischer Ebene: Die Kinderliteratur der letzten Jahrzehnte ist, vom Anfänger- und Erstlesesektor einmal abgesehen, in ihrer Machart von der Unterhaltungsliteratur für Erwachsene nur wenig verschieden. Auch thematisch zeigt sie immer weniger Eigenständigkeit; sie partizipiert zunehmend an den allgemeinen, ernsten wie läppischen Modethemen.