Der jahrzehntelang als trivial verrufene Comic erlebt seit einigen Dekaden in Deutschland eine Konjunktur, die neben der wachsenden Präsenz auf dem Buchmarkt in Feuilletons, Museen, auf Festivals und Internetforen ebenso ablesbar ist wie in der Forschung und Lehre. Zunehmend ist dieser Aufschwung auch in Narrativen über das östliche Europa zu verzeichnen, was insbesondere für Kriegskinder und -enkel:innen gilt, die ihr oder ein sehr unterschiedlich gestaltetes ‚Erbe‘ aus dem 20. Jahrhundert und darüber hinaus aufzeichnen. Hierbei trägt vor allem die dem Comic, der Graphic Novel oder allgemein der grafischen Literatur inhärente Hybridität von verbaler und bildlicher Sprache zu einem vielfältigen Nachzeichnen von Geschichte(n) bei. Ebenso abstrakt wie konkret, teils dokumentarisch, teils fiktiv werden mit dem ‚Redrawing‘ auch Leerstellen, Marginalisiertes und Unbekanntes erfasst.
Anders als in rein verbalen Erzählungen, deren lineare Abfolgen zur Chronologie tendieren, neigt die Bildebene im Comic zu einem nichtlinearen Verhältnis zur Zeit. Zum einen lassen sich Bilder – wenn auch nicht notwendigerweise – leichter erfassen als ein Text, zum anderen sind Panels zugleich neben- und untereinander positioniert oder im unterschiedlichem Maße aufgebrochen. So können auf einer Seite oder in einem Panel Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft koexistieren, korrespondieren und kollidieren. Die literarische Polyphonie (Michail Bachtin) erweist sich hierbei als Polygrafie, die Varianten von Geschichte(n) ins Bild setzt, ihre ‚Gemachtheit‘ aufzuzeigen vermag und gegebenenfalls affirmativ oder subversiv kommentiert. Eben diese Vielfalt entspricht den einst multiethnischen Blickwinkeln in östlichen Regionen sowie (auto-)biografischen Perspektiven von Nachgenerationen. Mitunter gilt dies auch für Zeitzeug:innen der Shoah, des Zweiten Weltkriegs sowie von Umsiedlungen, Flucht und Vertreibungen, die Zeichnungen und Comics etwa als Lagerinhaftierte oder unterwegs in den Kriegswirren anfertigten. Offenbar werden hierdurch neuartige Verflechtungen und Verbindungen sowie Verletzungen – in testimonialen Fällen sogar aus erster Hand.
Ähnlich wie in der Shared Heritage-Literatur[1] fällt in den grafischen Skizzen und Ausarbeitungen eine Vielzahl von Familiengeschichten, aber auch (Reise-)Reportagen, Dokumentationen und (Kriegs-)Tagebüchern auf, bei denen gerade die Nachgenerationen explizit spekulieren. Längst hat sich der Comic als Erinnerungsmedium profiliert, in dem insbesondere das Fragmentarische, die Last und auch die Latenz des Erbes intermedial zum Ausdruck kommen. Dessen Autor:innen leben ebenso im deutschsprachigen Raum wie etwa in Polen, Litauen, Serbien, Russland, Tschechien, der Ukraine oder Ungarn; hinzu kommen Künstler:innen, die aus dem östlichen Europa stammen oder dort familiäre Wurzeln besitzen, zwischenzeitlich jedoch in deutschsprachigen Ländern wirken. Zu solchen Comicschaffenden, die teils selbst zeichnen, teils mit Illustrator:innen zusammenarbeiten, gehören Agata Bara, Tomasz Bereźnicki, Jan Blažek, Lina Itagaki, Jaromír 99, Reinhard Kleist, Oxana Matiychuk, Monika Powalisz, Jaroslav Rudiš, Bianca Schaalburg, Marek Toman, Birgit Weyhe und Barbara Yelin.
Die geplante Tagung will die grafisch-textuellen Rekonstruktionen eines gemeinsamen (Kultur-) Erbes, dessen Details oft verschüttet sind, untersuchen. Dabei soll der aus der Architekturgeschichte und Denkmalpflege kommende Begriff Shared heritage auf eine Literatur übertragen werden, deren grafische Elemente gerade die materielle Dimension des (Kultur-)Erbes ab- und nachbilden.
Dementsprechend stellen sich u.a. folgende Fragen:
- Welche Funktionen kommen den grafischen Aspekten und ihrer narrativen Einbindung zu? Welche Einsichten oder Erkenntnisse bietet das Wechselverhältnis von Bild und Text – auch im Vergleich zu rein literarischen Erzählungen?
- Fotovorlagen oder fotografische Collagen sind gängige Comicverfahren. Inwiefern dienen diese einer Zeugenschaft und inwiefern kommt dem Comic überhaupt einZeugnispotential zu? Wie konstruieren die grafischen Erzählungen ‚Authentizität‘?
- Inwiefern ist der Comic ein Erinnerungsmedium? Inwiefern erweist er sich gerade für Autor:innen aus dem östlichen Europa bzw. für Autor:innen, die über diese Region schreiben, als so attraktiv?
- Wie werden (Auto-)Biografisches und Familiengeschichten erzählt und ins Bild gesetzt? Auf welche Weise erfolgen Distanzierungen, Annäherungen und Einbindungen?
- Welche Rolle spielt dabei die Erinnerung an eine ‚Kindheit‘? Und welche Kindheitskonzepte werden in Kombination mit der Erinnerungsarbeit konstruiert?
- Wie wird der Comic zum Shared Heritage als (vermeintlich) popkulturelles Medium geschichtspolitisch und/oder didaktisch eingesetzt?
- Inwiefern wird im handwerklich geprägten Comic das digitale Hyper-Archiv aufgegriffen?
- Wie positionieren sich diesbezüglich die digital sozialisierten Nachgenerationen?
Die Veranstalter:innen laden Literaturwissenschaftler:innen verschiedener Fächer (wie Germanistik, Interkulturelle Germanistik, Komparatistik, Slavistik, Medienwissenschaft) zur Mitwirkung in Form eines Vortrages ein. Die Redezeit beträgt ca. 30 Minuten; Konferenzsprachen sind Deutsch und Englisch. Eine spätere Publikation ist geplant. Die Kosten für die Unterkunft der Referent:innen werden erstattet.
Bitte senden Sie Ihr Vortragsexposé (2.000 Zeichen), einen kurzen Lebenslauf mit E-Mail und Postanschrift sowie Angaben zu Ihrer derzeitigen Tätigkeit (max. 1000 Zeichen) bis zum 15.02.2024 an:
Bei der Tagung handelt es sich um eine Kooperation der Universitäten Łódź (Polen) und Oldenburg mit dem Bundesinstitut für Kultur und Geschichte des östlichen Europa. Sie ist Teil der Oldenburger Kinder- und Jugendbuchmesse (KIBUM) und wird organisiert von Prof. Dr. Thomas Boyken, Prof.'in Dr. Gudrun Heidemann und Dr. Silke Pasewalck.
[1] Vgl. Shared Heritage. Gemeinsames Erbe. Kulturelle Interferenzräume im östlichen Europa als Sujet der Gegenwartsliteratur. Hg. von Silke Pasewalck. Berlin-Boston: De Gruyter Oldenbourg 2023 (im Erscheinen).