• Grit Lemke: Kinder von Hoy
    suhrkamp nova, Berlin, 2021
    255 Seiten – 16,00 € – ab 17 Jahren

Bei Kinder von Hoy handelt es sich nicht um einen Roman, der sich in erster Linie an jugendliche Leserinnen und Leser richtet – es ist kein Jugendroman. Dass der Text auch jugendlichen Leserinnen und Lesern eine ihnen fremde Welt und Zeit nahebringen kann, liegt an seiner literarischen Qualität. Es wechseln authentische Interviewaussagen mit reflektierenden Passagen, die häufig im Erzählmodus des kollektiven Wir vorgetragen werden. So vermittelt Kinder von Hoy Biografien einer Generation, die durch die wechselhafte Geschichte der Stadt Hoyerswerda geprägt worden ist. Der Reiz der Interviewauszüge liegt in ihrer Vielfalt und den unsteten, Lebenserfahrung mit sich bringenden Lebensläufen der Personen. Die Menschen eint ihre Stadt, genannt Hoy, die viele von ihnen später verlassen werden.

Besonders beeindruckend sind die Kapitel, in denen Hoyerswerdas Weg zu seiner Blütezeit thematisiert wird. In dieser Zeit überzeugte einige noch das sozialistische Versprechen von einem bescheidenen Wohlstand für die fleißigen Arbeiterinnen und Arbeiter des VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe. Was im Schichtbetrieb passierte, wird kaum im Text expliziert. Erzählt wird vielmehr der Alltag der Kinder von Hoy, der durch Arbeitsabläufe ihrer Eltern indirekt bestimmt wird. Es ist ein proletarischer Alltag, der sie zusammenschweißt und von den in der Altstadt wohnenden Menschen sowie zugezogenen Westdeutschen abgrenzt.

Der Zusammenhalt einer Gemeinschaft, ihre gemeinsamen Sprachcodes und ihr gemeinsamer Habitus erscheinen als etwas Wertvolles. Eine solche Verhandlung des Lebens in der DDR geht ebenso weit über eine einseitige Dämonisierung als dystopischer Spitzelstaat hinaus wie über naiv-ostalgische Verklärungen der Einparteiendiktatur.

Der Roman leistet mit den Mitteln der Literatur etwas, das Sachbüchern schwerfällt: Es wird uns ein Lebensgefühl gewahr. Die dichte, literarische Sprache bringt uns dazu, dieses Lebensgefühl erlebend zu erlesen. Dabei werden jugendliche Leserinnen und Leser gewiss nicht alles verstehen. Beispielsweise sind die Kapitel zur Kunstszene Hoyerswerdas voraussetzungsreich. Gerade in betreuten Lernarrangements – sei es im Literatur- oder Geschichtsunterricht oder in Lese-AGs – sollten einzelne Kapitel für die vertiefende Lektüre ausgewählt werden.

Hierzu besonders geeignet sind auch die Kapitel zu den rassistischen Ausschreitungen Anfang der 90er Jahre. Das Buch gibt den Opfern eine Stimme. Das gilt für die massiv bedrohten Ausländerinnen und Ausländer – insbesondere anhand des mosambikanischen DDR-Vertragsarbeiters David – ebenso wie für Jugendliche und junge Erwachsene, die als "Zecken" beschimpft rechtsradikaler Gewalt ausgesetzt waren.

Kinder von Hoy nutzt das Potential von Oral History und literarischer Reflexion, um eine politisch wie kulturell bedeutende Zeit im kollektiven deutschen Gedächtnis zu verankern. Wir sollten Jugendlichen mit diesem hervorragenden Roman ermöglichen, an jener Erinnerung teilzuhaben.

Die Autorin

Grit Lemke, geboren 1965 in Spremberg, aufgewachsen in Hoyerswerda, studierte nach einer Berufsausbildung zur Baufacharbeiterin Kulturwissenschaften, Ethnologie und Literaturwissenschaft in Leipzig. Sie promovierte im Fach Europäische Ethnologie in Berlin und führte die Regie des Dokumentarfilms Gundermann Revier, der 2020 für den Grimme-Preis nominiert worden ist.

[Quelle: Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien (AJuM) der GEW]