Inhalt
Elsa, Leo und Max sind beste Freund:innen und gemeinsam feiern sie Leos Geburtstag mit einer Fahrt auf dem Riesenrad im Wiener Prater. Es ist für alle ein glücklicher Tag, der auch nicht dadurch gestört wird, dass Leo aus Versehen eine englische Touristin anrempelt. Im Gegenteil, aus dem Zusammenstoß ergibt sich ein fröhlicher gemeinsamer Nachmittag bei den Grünbergs, Leos Familie, für den sich das Ehepaar Stewart später mit einem Brief bedankt. Doch schon kurz nach der unbeschwerten Geburtstagsfeier ändert sich für die drei Kinder alles. Denn im Jahr 1938 erfolgt der Einmarsch der Wehrmacht und der sogenannte "Anschluss" Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland. Ab diesem Zeitpunkt bewegen sich die Lebenswege von Leo, Elsa und Max unweigerlich auseinander, denn Elsa und Leo sind jüdisch, Max hingegen Sohn eines überzeugten Nationalsozialisten. Schon bald steht die erste Trennung an, als Elsa mit ihren Eltern in die Tschechoslowakei flieht. Max‘ Vater hingegen verbietet seinem Sohn den Kontakt zu seinen jüdischen Freunden. Und Leo sieht sich dem wachsenden Antisemitismus und den Schikanen durch die österreichische Bevölkerung ausgesetzt und schließlich wird sein Vater verhaftet.
So voneinander getrennt bleibt für die drei Freund:innen nur die Erinnerung an den glücklichen gemeinsamen Moment auf dem Riesenrad, den Leos Vater in einer Fotografie festgehalten und jedem einen Abzug geschenkt hat. Aber aus noch einem weiteren Grund wird die Fahrt im Prater zum Schicksalsmoment. Denn um aus Österreich ausreisen zu können, brauchen Leo und seine Mutter ausländische Kontakte, die für sie bürgen, und der Kontakt zu den Stewarts erweist sich schließlich als lebensrettend. Doch während es Leo gelingt, mit seiner Mutter nach England auszureisen, wird Elsa mit ihrer Familie nach Theresienstadt deportiert. Hier erwarten sie unmenschliche Haftbedingungen und die stete Drohung der Deportation in den Osten. Max hingegen ist mit seiner Familie nach München, die ‚Hauptstadt der Bewegung‘, gezogen, wo er unter dem väterlichen Druck und dem tiefen Wunsch, endlich Teil einer Gemeinschaft zu sein, allmählich zum überzeugten Hitlerjungen wird. Seine Freundschaft mit Leo und Elsa ist nur noch eine ferne, fast verdrängte Erinnerung. Und dann steht ein weiterer Umzug an, an den neuen Arbeitsort seines Vaters: nach Auschwitz in Polen …
Kritik
Die Autorin Liz Kessler, die international mit der Reihe über die Meerjungfrau Emily Windsnap bekannt geworden ist, begibt sich mit Als die Welt uns gehörte auf ein neues Terrain. Ausgangspunkt des Romans ist ihre eigene Familiengeschichte. Denn tatsächlich rettete eine im Wiener Prater geschlossene Zufallsbekanntschaft ihrem Großvater auf ähnliche Weise wie Leo das Leben. Allerdings ist dieser biographische Umstand nur der Hintergrund für die Freundschaftsgeschichte um die drei Protagonist:innen, die vor allem durch das Motiv des im Foto festgehaltenen Glücksmoments auf dem Riesenrad zusammengehalten wird.
Der Roman wird alternierend aus der Sicht von Leo, Elsa und Max erzählt, wobei die Kapitel aus Sicht von Elsa und Leo jeweils aus autodiegetischer Erzählposition geschrieben sind, während die Kapitel aus Max‘ Sicht zwar intern fokalisiert, aber von einem heterodiegetischen Erzähler erzählt werden. Hierdurch entsteht unweigerlich eine größere Distanz zu diesem Protagonisten, während die Perspektive der beiden jüdischen Figuren wesentlich unmittelbarer vermittelt wird. Dennoch gelingt es dem Text, Max allmähliche Hinwendung zum Nationalsozialismus zu motivieren, vor allem durch dessen Gefühl des Ungenügens gegenüber seinem autoritären Vater und der Angst, wieder zum Außenseiter zu werden. Der Umzug nach München wird für ihn die Chance, als "kleines Rädchen" Teil einer größeren Gemeinschaft zu werden. Ein Spiel zwischen Jugendlichen, bei dem sich Max als Gewinner eines Wettlaufs seine Rolle aussuchen darf und die als "Hitlers Offizier" wählt, während sein unterlegener Mitspieler die antisemitische Karikatur eines Juden mimt, wird somit zur Schlüsselszene für Max’ Bedürfnis nach Anerkennung und seine tiefsitzende Angst, zu den Schwächeren zu zählen:
Während des gesamten Marschs über das Sportfeld verspottete er seinen Freund, schrie ihn an und beschimpfte ihn. Und mit jedem Schritt und jeder Beleidigung, die er ausstieß, überliefen ihn Wellen der Erleichterung, dass er den Wettlauf gewonnen hatte. (S.189)
Im Kontrast hierzu werfen die Lebenswege von Elsa und Leo ein Licht auf unterschiedliche Erfahrungen jüdischer Menschen während der Schoa. Leo gelingt es zwar, nach England zu fliehen, doch die Erfahrung der Verfolgung, die Angst um seinen Vater und das Schuldgefühl als Überlebender lassen ihn nicht los. Durch die Kapitel aus Elsas Perspektive erfahren die Lesenden nicht nur von den Verfolgungen durch die Nationalsozialisten, sondern auch von der Hilflosigkeit der jüdischen Bevölkerung angesichts der Untätigkeit der Weltgemeinschaft:
Manchmal habe ich das Gefühl, dass sich die ganze Welt von uns abgewendet hat. Nicht um unserer Würde willen, sondern um ihr eigenes Leben, ihre Rechte und Privilegien aufrechterhalten zu können. Ihre Lügen. (S. 227)
Das Ergebnis ist eine zum Teil sehr beklemmende Lektüreerfahrung, die sich zwar nicht in grausamen Details ergeht, aber dennoch drastisch die Stationen der Verfolgung darstellt. Die antijüdischen Ausschreitungen durch die Wiener Bevölkerung kurz nach dem "Anschluss", bei denen jüdische Männer gezwungen wurden das Pflaster zu putzen, werden ebenso dargestellt wie die grausamen Lebensbedingungen in Theresienstadt, wo unter Hunger, Schmutz und der alltäglichen Gewalt durch die Aufseher geschätzte 33.500 Menschen den Tod fanden (weitere 88.000 wurden in Vernichtungslager deportiert), und schließlich das schier unermessliche Grauen von Auschwitz. Der dem Roman vorangestellte Warnhinweis, der Text enthalte "schwierige Passagen […], die qualvoll sein können" (S.9), ist daher durchaus ernst zu nehmen, denn der Roman konfrontiert die Lesenden u.a. direkt mit der unerträglichen Situation der Häftlinge in den Konzentrationslagern. Auch die tröstliche Gewissheit, dass zumindest die jugendlichen Protagonist:innen die Handlung glücklich überleben werden, ist hier nicht gegeben.
Der Text macht zudem anhand kurzer Episoden deutlich, dass es auch noch andere Verfolgte des Nazi-Regimes gab wie Homosexuelle, politische Dissidenten und Roma. Ebenso wird der organisierte jüdische Widerstand gegen die Nationalsozialisten kurz thematisiert, als Elsas Freundin Greta davon träumt, sich als Kuriermädchen jenen jüdischen Frauen anzuschließen, die mit der Waffe in der Hand gegen die Nationalsozialisten kämpften. An diesen kleinen Verschiebungen merkt man die Beschäftigung der Autorin mit der aktuellen Schoa-Literatur für Jugendliche.
Und doch mag man sich nach der Lektüre des Romans fragen, wo denn die Deutschen und Österreicher herkamen, die eben keinen kaltherzigen, emotional-missbräuchlichen Vater hatten, aber dennoch überzeugte Nazis waren oder aber stillschweigend das Geschehen um sie herum billigten und davon profitierten. Diesen ganz normalen freundlichen Bürgern mit Nazihintergrund, die nach 1945 größtenteils umstandslos ihr normales Leben wiederaufnehmen konnten, räumt der Text vergleichsweise wenig Raum sein. Nazis sind zum größten Teil SS-Leute oder gesichtslose Uniform- und Stiefelträger, Elsas Vater kämpft gegen "Hitler" und nicht jene Deutschen, die ihn demokratisch zum Reichskanzler gewählt haben.
Ambivalent ist zudem der zweifellos spannende Handlungsaufbau zu betrachten, der auf eine schicksalhafte Konfrontation am Romanende zusteuert, die ebenso erschütternd wie hoffnungslos konstruiert ist. Diese reichlich kitschige Wendung wäre nicht nötig gewesen, schließlich bedarf das Geschehen der Schoa eigentlich keiner dramaturgischen Aufwertung. Sie verweist aber auf ein grundsätzliches Problem der Fiktionalisierung des Holocausts, dessen Darstellung nicht nur in Kesslers Roman letztlich den Anforderungen an ein spannendes Jugendbuch unterworfen wird. Ob dies der einzig mögliche Weg ist, um Jugendliche für das Thema zu interessieren, ist fraglich. Schließlich rührt das Tagebuch von Anne Frank weiterhin erwachsene und jugendliche Leser:innen gleichermaßen und zwar völlig ungeachtet der Tatsache, dass hier nicht mehr und nicht weniger erzählt wird als die alltäglichen Gedanken und Erlebnisse eines Mädchens, das zwei Jahre in einem beengten Versteck lebte und dessen Spur sich in Bergen Belsen verliert. Dennoch hebt sich Als die Welt uns gehörte durch seine klischeefreie und differenzierte Darstellung jüdischer Erfahrungen während der Schoa von anderen Romanen dieses Genres wohltuend ab.
Fazit
Liz Kesslers Jugendroman ist keine leichte Lektüre und daher für Lesende unter 14 Jahren eher nicht zu empfehlen (Verlagsempfehlung: ab 12 Jahren). Bei allen Schwächen, die der Text zweifellos auch hat, ist es ein Roman über den Holocaust, der eine jüdische Perspektive ohne Stereotypisierungen oder sachliche Fehler präsentiert. Das ist sehr viel wert. Dass der Roman nun mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde, und zwar mit dem Preis der Jugendjury, macht unbestreitbar Mut. Gleichzeitig fand diese Auszeichnung am 20. Oktober und damit zwei Wochen nach dem terroristischen Angriff der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung statt, zwei Wochen, in denen es auch in Deutschland zu einem sprunghaften Anstieg antisemitischer Straftaten kam, und zwei Wochen, in denen die nichtjüdische deutsche Öffentlichkeit einschließlich weiter Teile des Literaturbetriebs sich zurückhaltend bis gar nicht dazu äußerte (Ralf Schweikarts Rede zur Eröffnung der Preisverleihung sei hier als eine der wenigen Ausnahmen genannt).
Das wirft nun die Frage auf, welche Bedeutung derartige Auszeichnungen eigentlich haben, wenn die Verurteilung des historischen Antisemitismus in der Literatur so problemlos einhergeht mit der weitgehenden Ignorierung und (teilweise) Relativierung des Antisemitismus in der Gegenwart. – Nun, letztlich nicht mehr als die vage Hoffnung, die Sensibilisierung bezüglich des historischen Judenhasses möge irgendwann vielleicht doch den Blick für dessen aktuelle Formen schärfen. Wer aber Solidarität nur mit Juden hat, solange sie Opfer von Verbrechen sind, und Mitgefühl nur für die Toten des Holocaust, für den ist ein Roman wie Kesslers nur wohlfeile Bestätigung der eigenen moralischen Integrität.
- Name: Liz Kessler
- Name: Eva Riekert