Die Themenwahl für die Märchentage 2023 kommt nicht von ungefähr. Sie bezieht sich sehr bewusst auf den gesellschaftlichen Diskurs über die Gefährdung unserer Lebenswelt durch Naturverwüstung und Krieg. Wie zeigt sich jene unheile Welt in Märchen und Sagen? Erfährt sie in den Erzählungen Heilung? Und wenn ja, wie?
Auf der Suche nach Antworten stoßen wir auf die in vielen Erzählmotiven überlieferten Vorstellungen, dass sich Zerstörung und Erneuerung gegenseitig bedingen. So erwächst aus den Körperteilen erschlage- ner Götter oder Riesen das Universum, aus den Überresten Getöteter entwickeln sich hilfreiche Pflanzen oder Vögel, zerstückelte Opfer werden wieder zusammengesetzt und mithilfe magischer Gegenstände neu zum Leben erweckt, Menschen in Tiergestalt finden Erlösung, nachdem man ihnen Gewalt angetan hat u.a.m. Laut orientalischer Mythologie verbrennt der prächtige Feuervogel nach einer bestimmten Lebensdauer, um daraufhin verjüngt und mit neuen Kräften versehen emporzusteigen. Kurzum: Allem Ende wohnt ein neuer Anfang inne – eine durchaus optimistisch stimmende Botschaft, die mit dem sich aus der Asche erhebenden Phönix längst sprichwörtlich geworden ist. Als Sinnbild für den Kreislauf von Schöpfung, Erhaltung, Zerstörung und Wiederbelebung widerspiegelt er die Erfahrungen der Menschen mit einer sich periodisch erneuernden Natur, aber auch ihren Wunsch nach Gesundung, Verjüngung und Überwindung des Todes.
Die Vorträge und Workshops der Tagung widmen sich der anthropologischen Bedeutung der im Märchen inszenierten unheilen Welt. Sie befragen die Texte nach der Dialektik von Zerstörung und Erneuerung, ermitteln Strukturen und Funktionsmechanismen und setzen sich mit entsprechenden Deutungsansätzen und Perspektiven der Märchenforschung auseinander.
Programm und Anmeldung finden Sie hier.
Verleihung des Europäischen Märchenpreis 2023
Im Rahmen der Tagung finden am 28. September 2023 in einem gesonderten Festakt zudem unsere Preisverleihungen im Schelfenhaus in Volkach statt.
Prof. Dr. Holger Ehrhardt erhält den mit 5.000,- Euro dotierten Europäischen Märchenpreis 2023 der Märchen-Stiftung Walter Kahn. Holger Ehrhardt (*1964 in Sonneberg) vertritt seit 2012 den Forschungs- und Lehrschwerpunkt "Werk und Wirkung der Brüder Grimm2 an der Universität Kassel. In dieser Zeit hat er der Grimm-Forschung in Deutschland zu höchstem Ansehen verholfen, sodass seine Professur auch international als Leuchtturm der Grimm-Forschung wahrgenommen wird.
Es sind vor allem drei Forschungsbereiche, in denen Holger Ehrhardt Erstklassiges geleistet hat: Edition von Zeugnissen der Brüder Grimm: Tagebücher, Briefe und andere Dokumente; Erschließung von bisher unbekannten Grimm-Beständen (auch Artefakten) in Archiven, Nachlässen und Bibliotheken; Erforschung von Quellen zu den Märchen der Brüder Grimm.
Herausragend zu nennen sind seine Untersuchungen zu Märchenbeiträgerinnen und Märchenbeiträgern wie Dorothea Viehmann, Philipp Hoffmeister und Mamsell Storch. Zum Beispiel ist es ihm gelungen, die Identität der sogenannten Marburger Märchenfrau zu klären und damit eines der größten Rätsel der Beiträger-Forschung zu lösen. Grimms Märchen und ihre Entstehung sind also das zentrale Forschungsfeld von Holger Ehrhardt. Er hat zahlreiche, bisher unbekannter Daten und Fakten über die Grimms und ihre Märchen aufgedeckt und dabei Bahnbrechendes über die Mündlichkeit der Überlieferung herausgefunden.
Nicht zuletzt war Holger Ehrhardt 2012 der maßgebliche Organisator des internationalen Kongresses "200 Jahre Kinder- und Hausmärchen" und zugleich ein zentraler Berater beim Aufbau des Museums "GRIMMWELT Kassel". Sein weites Verständnis von Grimm-Forschungen zeigt sich überdies in seinen Lehrveranstaltungen und seiner internationalen Vortragstätigkeit, die weit über die Grenzen Deutschlands hinausreicht.
Mit der Vergabe des Europäischen Märchenpreises an Professor Dr. Holger Ehrhardt ehrt die Märchen-Stiftung Walter Kahn in diesem Jahr einen der national wie international renommiertesten Grimm- und Märchenforscher Deutschlands.
[Quelle: Pressemitteilung]