Inhalt

Piraten sind böse, aber niemand ist so schrecklich böse wie Kapitän Weißhaupt, der kleine Kinder verschleppt und sie dann zwingt, in seiner Mine nach Diamanten zu graben. Diese Geschichte erzählt Siri ihrer kleinen Schwester Miki vor dem Einschlafen. Woher soll sie wissen, dass der Schrecken aus ihren Erzählungen schließlich wahr wird? Als eines Tages Miki beim Schneebeerenpflücken von den Piraten geraubt wird, kann Siri es kaum fassen. Noch unbegreiflicher ist ihr aber, dass sich kein Mensch auf ihrer Heimatinsel Blautum traut, die Piraten zu verfolgen. Nur ihr alter gebrechlicher Vater ist entschlossen, seine Tochter wiederzuholen. Doch Siri weiß, dass das in seinem Alter an Selbstmord grenzt. Also macht sie sich selbst heimlich auf den langen Weg über das Eismeer und auf die Suche nach Weißhaupt und seinem Schiff, der legendären Schneerabe. Auf ihrer Reise stellt sie fest, dass kaum jemand sie bei ihrer Suche unterstützen will. Zu groß ist die Furcht vor den Piraten. Allein der Schiffskoch Fredrik, dessen eigene Schwester von Weißhaupt entführt wurde, will ihr helfen. Fredrik wird zu Siris bestem Freund und Vertrauten. Doch Sturmbart, der Kapitän des Schiffes, auf dem Siri angeheuert hat, schmiedet einen feigen Plan, um sie loszuwerden…

Kritik

Nilsson hat einen fantastischen Abenteuerroman geschrieben, der es in sich hat. Nicht nur ist die Stimmung deutlich weniger unbeschwert als bei vielen Romanen für diese Altersklasse, auch Themen wie Umweltzerstörung, Armut und Kinderarbeit werden den jüngeren Lesern mit zum Teil bedrückender Deutlichkeit zugemutet.

Diese Deutlichkeit fängt schon bei der Darstellung der Piraten an: Bei Nilsson sind sie nämlich keine ulkigen Dummköpfe, sondern ernsthaft furchteinflößende Gestalten, die ihre Gefangenen geradezu sadistisch behandeln. Die Mine von Weißhaupt ist ein brutales Arbeitslager, in dem die Kinder unter unmenschlichen Umständen bis zur Erschöpfung schuften müssen. So viel düsterer Realismus könnte bei einigen jüngeren Lesern durchaus für schlechte Träume sorgen. Er wirft aber ernste Fragen darüber auf, wie unterschiedlich sich Menschen unter existentieller Bedrohung verhalten. Während beispielsweise unter den Kindern in der Mine keinerlei Solidarität herrscht, sind Siri und ihr Freund Fredrik ein positives Beispiel dafür, dass es möglich ist, auch unter den schwierigsten Umständen menschlich und mitleidsvoll zu handeln.

Die Welt, durch die Siri reist, erscheint auch im übertragenen Sinne wie ein Eismeer: Die meisten ihrer menschlichen Bewohner denken vor allen Dingen an sich und ihren Profit. Sie sind arm und den meisten scheint der einzige Ausweg aus ihrer Not im rücksichtslosen Streben nach Gewinn und der Ausbeutung der Natur zu bestehen. Die Jägerin Hanni, die so viele Wölfe schießt, dass das Fleisch in ihrem Schuppen verfault, die Seefahrer, die aus den Händen kleiner Meerjungfrauen Taschen schneidern und diese teuer verkaufen, oder der Junge Einar, der ein Walhuhnküken aufzieht, um es auf qualvolle Weise zur Jagd abzurichten – sie alle streben auf Kosten anderer Lebewesen nach Profit. Es ist eine zweifellos düstere Welt, die Siri auf ihrer abenteuerlichen Reise entdeckt und am Ende hat sie "vieles gesehen, dass ich lieber nie gesehen hätte und das nun für immer in meinem Kopf sitzen würde" (S.356). 

Auf der anderen Seite findet Siri jedoch auch Freundschaft und die Nähe zu vielen zum Teil fantastischen Lebewesen. Diese verkörpern sowohl die Wildheit der Natur und ihren gnadenlosen Überlebenskampf als auch ihre Verletzlichkeit und Schönheit. Eine zentrale Botschaft von Nilssons Roman ist schließlich, dass kein Lebewesen mehr Recht auf Leben hat als das andere. Man muss diesen radikalen Antispeziesismus nicht teilen, aber die Humanität von Siris Handeln und ihr Mut, mit dem sie sich der Unmenschlichkeit entgegenstellt, sind sicherlich nicht nur für kindliche Leser inspirierend.

Dass es sich bei Siris Welt um eine fantastische Sekundärwelt handelt, kommt eher in kleinen Details zum Ausdruck. Das Fantastische äußert sich hier in der Existenz von Meerjungfrauen (die Nilsson auf ganz eigene Art und Weise interpretiert) oder darin, dass in einem besonders kalten Winter die Vögel vom Himmel fallen, weil sie eingefroren, aber nicht tot sind. Es sind kleine, poetische Abweichungen von der Alltagswelt des Lesers, die den Zauber dieses Buches ausmachen. Zu diesem Zauber gehört auch die Stimme der autodiegetischen Erzählerin Siri, die in einfacher, aber schon fast lyrischer Sprache Stimmungen und Bilder evoziert:

Ein kleiner Schneefuchs huschte übers Eis, blieb kurz stehen, um etwas zu beschnüffeln, und lief dann schnell weiter. Er war das einzige Lebewesen, das ich zu Gesicht bekam. Der Rest der Welt hielt den Atem an, während der Wind vorsichtig an meinen Haaren zupfte. Ich lag noch immer in meinem Versteck, zusammengerollt, frierend und mit klopfendem Herzen. Fredrik war gefangen genommen und in den Bauch der Schneerabe gesteckt worden und ich würde, nein, ich musste ihn retten. Denn wenn Fredrik starb, dann konnte ich nicht weiterleben. (S.244)

Trotz vieler ernster Momente ist Siri und die Eismeerpiraten ein Roman voller Spannung und dem festen Glauben an den Mut, den einem die Sorge um jemand anderen verleiht. Und so können sich die Leser erleichtert darüber freuen, dass dieser Mut am Ende belohnt wird.

Fazit

Ein sprachlich dichter Abenteuerroman für Leser ab zehn Jahren, die keine Scheu vor den großen Fragen des Lebens haben und auch ein paar düstere Momente aushalten können.

Titel: Siri und die Eismeerpiraten
Autor/-in:
  • Name: Nilsson, Frida
Erscheinungsort: Hildesheim
Erscheinungsjahr: 2017
Verlag: Gerstenberg
ISBN-13: 978-3-8369-5920-9
Seitenzahl: 376
Preis: 14,95 €
Altersempfehlung Redaktion: 10 Jahre
Nilsson, Frida: Siri und die Eismeerpiraten