Inhalt

In einem Land, in dem die Menschen fast gar nicht reden, lebt der kleine Paul. In diesem sonderbaren Land muss man sich die Wörter kaufen und schlucken, um sie aussprechen zu können. Paul hat ein großes Anliegen, denn er möchte Marie sagen, WIE gern er sie hat. Doch wie soll er das nur machen - ohne Geld? Für dass, was er Marie sagen möchte bräuchte er ein Vermögen, denn Sprechen ist teuer im Land der großen Wörterfabrik! Im Frühling kann man sich Wörter im Sonderangebot kaufen. Doch die sind so unbrauchbar, wie die, die man in den Mülleimern findet. Weggeworfene Wörter wie "Hundekaka" und "Hasenpipi" werden Paul wohl nicht weiterhelfen.

Und dann ist da noch Oskar. Seine Eltern haben viel Geld und so kommt er Paul an Maries Geburtstag zuvor und gesteht ihr mit so vielen schönen Worten seine Liebe. Paul hat lediglich drei klitzekleine Worte mit seinem Schmetterlingsnetz eingefangen, die an manchen Tagen durch die Luft fliegen. Wird es ihm damit gelingen Marie sein Herz zu öffnen? Im richtigen Augenblick nimmt er all seinen Mut zusammen, holt tief Luft und schenkt Marie diese kostbaren drei Worte: Kirsche!...Staub!...Stuhl! Marie erkennt die Bedeutsamkeit der Worte, kann aber nicht antworten, weil sie keine Worte mehr hat. Sie schaut Paul an, kommt näher und gibt ihm einen sanften Kuss auf die Wange.

Anaylse und Interpretation bildnerischer Gestaltungsmittel

Die ausgewählten Buchseiten werden unter folgenden Fragestellungen analysiert:

  • Was sieht der Rezipient und wie kann er das Gesehene deuten? Bzw. Wie wirken die Gestaltungsmittel auf ihn? (Semantische Ebene)
  • Wozu verleitet das Bild? Bzw. Was wollten die Autorin und Illustratorin ggf. zum Ausdruck bringen? (innere Rezeptionsangebote, Pragmatische Ebene)

Hierzu werden u.a. die Analyseaspekte der Compositional Interpretation nach Gillian Rose (vgl. Rose 2012) verwendet. So wird die Doppelseite auf ihren Inhalt, Farbe, Form und Technik, bzgl. der Raumorganisation, der Ausgestaltung von Licht und Schatten sowie des Ausdrucks und der Atmosphäre des Bildes untersucht. Des Weiteren wird ein literaturtheoretischer und kunsthistorisch-rezeptionästhetischer Deutungsansatz herangezogen, indem die Verknüpfung von Bild und Text näher betrachtet wird. Die Untersuchung der Komposition des Bildes (Doppelseite 10) ergibt komprimiert Folgendes:

Inhalt

Auf der ausgewählten Doppelseite werden die Protagonisten der Geschichte in Interaktion gezeigt. Gleichwohl erkennt man deren Dramaturgie (Stellung und Haltung), die sich durch das gesamte Bilderbuch zieht. Paul beobachtet Marie, Marie beobachtet eventuell die im Raum herumfliegenden Buchstaben und Oskar beobachtet wiederum das Geschehen um Marie und Paul. Einen erwachsenen Rezipienten erinnern die Buchseiten möglicherweise an die zeitgenössische Gesellschaft, in der die Kluft zwischen Arm und Reich zunehmend breiter wird.  Das Bilderbuch nutzt die Sprache als Metapher für diese gesellschaftlichen Unterschiede. Das Bild verweist in seiner Komposition ebenfalls stark auf die politische Handlungsebene der sozialen Ungerechtigkeit und eröffnet ebenso lebenswirkliche Themen wie z.B. Liebe, Freundschaft, Gegensätze etc.

Farbe, Form, und Technik

Diese drei Analyseaspekte verstärken das Empfinden und manipulieren u.a. die Wahrnehmung von Gut und Böse innerhalb der Geschichte. Die Doppelseite verdeutlicht ein monochromes (Ton-in-Ton) bis valeuristisches Farbspektrum sowie einen Bunt-Unbunt-Kontrast. Negativ assoziierte Personen und Gegenstände (Oskar) zeigen sich in schwarzen, braunen, dunklen und gesättigten Tönen, was Tiefe erzeugt. Im Treppenhaus ist Oskar derart dunkel gezeichnet, sodass der/die LeserIn ihn auf den ersten Blick kaum erkennt könnte. Er trägt einen Umhang und eine Kopfbedeckung die mit Wörtern bestückt sind und ist im Gegensatz zu Paul und Marie sehr eckig und kantig gezeichnet. Das, was den sozialen Unterschied ausmacht, kleidet Oskar sogar und wirkt sogleich bedrohlich. Positiv assoziierte Personen und Gegenstände sind sofort erkennbar durch die freundliche Gestaltung in leuchteten, gesättigten Rot- und Weißtönen sowie Rotabstufungen.

So trägt Marie an ihrem Geburtstag im Treppenhaus z.B. ein kirschrotes Kleid. Auffällig ist die Kleidung von Paul. Er trägt eine linierte Jacke - ohne Buchstaben oder Wörter. Maries und Pauls runde Gesichter, die fließenden, weichen und langgezogenen Formen ihrer Körper, wirken harmonisch und rufen, im Gegensatz zu Oskar, Sympathie hervor.

Die Techniken (ggf. Öl, Acryl oder Gouche), die Docampo oft in ihren Illustrationen anwendet und generell auch mischt, verstärken die o.g. Wirkung ebenso. Mit der Synthese traditioneller Techniken und dem Einsatz von Grafik-Design und Computertechnik, bedient sie gleichzeitig ein Genre, dass sich dem abstrakten Realismus (Tendenzen zur flämischen Schule, altniederländische Malerei) zuordnen lässt. Der abstrakte Stil wird ebenso durch das Prinzip der Kontraste getragen (s.o.) Selbst beschreibt Docampo das Genre, das sie bedienen möchte, als ein romantisches Universum (vgl. Docampo 2010, DPI MAGAZINE).

Organisation des Raumes

Die Doppelseite verdeutlicht eine wichtige Handlung im Kontext der Geschichte, nämlich die Kernhandlung in der die drei Hauptprotagonisten Paul, Marie und Oskar aufeinander treffen. Die angewendete Vogelperspektive verschafft zunächst einen Überblick über die Gesamtsituation. Der Blick des/der LeserIn wir zuerst auf die rechte Bildseite gelenkt. Die Wendeltreppe wirkt wie ein Sog, führt in einen Fluchtpunkt ins Dunkle und Unbekannte. Marie und Paul zeigen sich in der Totalen, womit ich ihre ganze Körpersprache erfassen kann. Oskar nimmt in Übergröße die linke Bildseite ein und beobachtet das Geschehen um Marie und Paul (sog. Begleitperspektive, Aufforderung an LeserIn, die Dinge aus Sicht der Charaktere wahrzunehmen). Oskar, in der Halbtotalen dargestellt, wirkt hier über-mächtig und unfassbar. Im Vergleich sticht seine Hand heraus, deren Größe Paul gerade so entspricht.

Auf dieser Doppelseite kann der Rezipient das Geschehen beobachten und zugleich den Beobachter selbst, was ihn direkt in die Situation hineinzieht (Rezipientenlenkung). Die Organisation der Protagonisten im Raum eröffnet ihm, vor dem Hintergrund erlangter Bildkompetenz, zugleich die Metapher für den sozialen Status, die hierarchische Struktur, soziale Ungleichheit, und das Machtgefälle zwischen den Protagonisten. Der Widersacher Oskar, als übermächtig an Worten ausgestattet, steht auch optisch, in einem extremen Gefälle zu Paul und Marie.

Licht und Schatten

Auf der Doppelseite sind positiv assoziierte Menschen in Licht gehüllt. Weiches Licht, betont deren Gesichter und unterstreicht deren Körpersprache. Negativ assoziierte Menschen sind von Schatten und Dunkelheit umgeben. Die Selektion von Paul und Marie zu Oskar wird gerade durch das Spiel von Helligkeit und Dunkelheit verstärkt und zugleich verschärft sich meine Wahrnehmung von Gut und Böse. Die Wendeltreppe steht durch Erleuchtung im Fokus und gleichzeitig trennen Licht und Schatten das echte Liebespaar zu Oskar ab. Auch diese Aspekte rufen eine Verstärkung der Gefühle in der Rezeption des Bildes hervor.

Ausdruck und Atmosphäre

Ausdruck und Atmosphäre ergeben sich zum Teil aus der Interdependenz o.g. Analyseaspekte. So erzeugen diese im gesamten Bilderbuch und auch auf der Doppelseite eine naive, melacholisch-poetische Atmosphäre, über eine merkwürdig dunkel und bedrückende Stimmung, bis hin zu einer romantisch und märchenhaften Anmut. Das Ineinandergreifen phantastischer und realistischer Momente beeinflusst die Gefühle und Deutung in der Betrachtung des Bildes. Die Charaktere schaffen in ihrer Darstellung eine Atmosphäre, die uns die naiven Wunder durch Kinderaugen wahrnehmen lassen.

Bild und Text

Die Bilder des Bilderbuches gehen immer über eine Doppelseite und nehmen im Verhältnis zum Text den größten Platz ein. Ausdrucksstarke Illustrationen beziehen hier den Text als unmittelbares Stilmittel mit ein. Bild und Text erzählen gemeinsam eine Geschichte wobei das narrative Bild die Geschichte vertieft. Durch die Kombination der o.g. Analyseaspekte beziehen sie sich sehr deutlich auf die reale Lebenswelt. Elemente der Lebenswirklichkeit der Rezipienten wurden in die Geschichte übertragen und stellen einen Realitätsbezug her, doch zugleich muten die Bilder auch fantastisch an. Betrachtet man die Doppelseite für sich, so eröffnet das Bild in seiner Komposition einen "unmittelbaren sinnlichen Zugang zu der gerade aufgeschlagenen Geschichte" (Hering 2007, S. 6). Auch enthält das Bild codierte abstrakte und symbolische Formen, die ggf. entschlüsselt werden müssen, um es zu verstehen (vgl. ebd. 2007).

Der Erzähltext selbst hebt wichtige Wörter und Aussagen durch den Wechsel von Schriftgrößen hervor und verdeutlicht zugleich den Gebrauch von Metaphern und Vergleichen. Die kurzen Sätze erzeugen eine poetische Wirkung und wirken sehr aussagekräftig. Auf der Wendeltreppe wird die Situation um Paul, Marie und Oskar bildlich dargestellt, aber die eigentliche Gefahrensituation wird für den Rezipienten womöglich erst durch den textuellen Zusatz ersichtlich. Der Text ergänzt somit auch das Bild und eröffnet neue Interpretationsebenen (Metaebene).

Literatur

  • Haase, Beate: Welches Buch für welches Kind: Ein Vorschlag zur Definition und Einschätzung von Kindgemäßheit bei Kinderbüchern aus psycholinguistischer Sicht. Münchner Diss. München: Universität, 1997.
  • Hering, Jochen: Von der Flüchtigkeit zur Betrachtung. In: KIND-BILD-BUCH, Zeitschrift des BIBF, Bremer Institut für Bilderbuch- und Erzählforschung, 03/2007. S. 5-9.
  • Hollstein, Gudrun: Werkstatt Bilderbuch. Allgemeine Grundlagen, Vorschläge und Materialien für den Unterricht in der Grundschule. Landau: Knecht, 1999.
  • Thiele, Jens: Das Bilderbuch: Ästhetik - Theorie - Analyse - Didaktik - Rezeption. Oldenburg: Isensee, 2003.
  • Rose, Gilian: Visual methodologies: an introduction to researching with visual materials. 3. Auflage. London: Sage Publications, 2012. S. 51-80.
  • Thiele, Jens: Dem Kind gemäß? Wenn Texte und Bilder das Erzählen dekonstruieren. In: Stenzel, Gudrun: Kinder lesen - Kinder leben. Kindheiten der Kinderliteratur. Weinheim: Juventa, 2005. S. 143- 152.

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