Doderer hatte 1952 nach einem Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie in Marburg mit einer Arbeit über die „Kurzgeschichte in Deutschland“ promoviert. Ein Zweitstudium, gefolgt von einer Dozentur an der hessischen Lehrerbildungsstätte in Jugenheim bei Darmstadt brachte ihn zunehmend in Kontakt mit Fragen der Lektüre und Literaturrezeption von Kindern und Jugendlichen. Das was Kinder und Jugendliche seinerzeit lasen – Heidi und Pinocchio, Nils Holgersson und Pippi Langstrumpf, Winnetou oder Emil und die Detektive – fand weder im Schulunterricht sonderlich viel Berücksichtigung, noch war es Gegenstand der Lehre an Universitäten, und zwar weder in den deutschsprachigen Ländern noch anderswo. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Literatur für Kinder- und Jugendliche und deren Lektüre fristete bestenfalls noch ein kümmerliches Randdasein als „Märchenkunde“ bzw. Anleitung zum Einsatz als unterrichtliches Hilfsmittel an pädagogischen Hochschulen; populäre Lesestoffe waren Gegenstand eines Abwehrkampfes gegen sogenannten „Schmutz und Schund“, die längst unübersehbar gewordenen literarischen Qualitäten nicht weniger Autorinnen, Autoren und Werke wurden weitestgehend verkannt.

Doderer war durchaus nicht der Einzige, der zu dieser Zeit an einer adäquateren Berücksichtigung der Kinder- und Jugendliteratur arbeitete, aber wohl derjenige, der dieses Ziel am umfassendsten zu realisieren trachtete. Aus den alten Lehrerbildungsinstitutionen brachten u. a. noch Anna Krüger (Gießen) und Karl-Ernst Maier (Regensburg) ihre Vorstellungen davon in die neu gebildeten Universitätsfakultäten ein. Unter den Jüngeren fanden sich später mit Alfred C. Baumgärtner, Theodor Brüggemann, Malte Dahrendorf, Gerhard Haas u.a. Kollegen, deren Bestrebungen in ähnliche Richtung gingen, wenngleich sie nicht in allen Fragen übereinstimmten.

Mit der Berufung nach Frankfurt 1963 als Leiter des neu gegründeten Instituts für Jugendbuchforschung eröffneten sich ihm ganz außerordentliche Möglichkeiten, die Kinder- und Jugendliteraturforschung universitär zu etablieren und seinen Vorstellungen entsprechend auszugestalten. Dabei konnte er anknüpfen an den in den 1960er Jahren einsetzenden, wachsenden Respekt auch vor Kindern und ihrer Literatur und generell von einer neuen Aufgeschlossenheit und nicht zuletzt vom zeitgenössischen Oppositionsgeist. Dies blieb auch nicht ohne Rückwirkungen auf die kollegialen, mitunter freundschaftlichen Umgangsformen innerhalb des Instituts. Den Studierenden brachte er ein hohes Maß an positiven Erwartungen entgegen, er schätzte Neugier und durchaus Widerspruchsgeist. Indem Doderer das Institut als eine Institution aufbaute, welche mit Sammlung, Forschung und Lehre drei grundlegende Arbeitsbereiche bündelte, die anderenorts lediglich partiell verfolgt werden konnten, wurde es beispielgebend sowohl in den deutschsprachigen Ländern wie auch im internationalen Rahmen.

Als Basis der wissenschaftlichen Arbeit veranlasste er den Erwerb bzw. die Einwerbung bedeutender Bestände an Primärliteratur sowie Fachbüchern- und Zeitschriften und legte damit den Grundstein zu einer der bis heute führenden Fachbibliotheken. Sein Engagement in diesem Bereich konnte er 1985 mit der Übernahme der Kinderbuchsammlung Walter Benjamins krönen. Von Anbeginn knüpfte er vielfältige Kontakte zu renommierten Autorinnen und Autoren, wie James Krüss, Erich Kästner, Michael Ende, Astrid Lindgren, Christine Nöstlinger, Otfried Preußler u.v.a., die in der Folgezeit vor Studierenden und Gästen des Instituts lasen. Er initiierte wissenschaftliche Buchreihen und Einzelstudien, schrieb selbst Standardwerke etwa über Kurzgeschichte und Fabel wie auch über diverse Autorinnen und Autoren. Von größter Bedeutung für die seinerzeitige wissenschaftliche Etablierung der Kinder- und Jugendliteratur war das Projekt der Herausgabe eines umfassenden „Lexikons der Kinder- und Jugendliteratur“, welches zwischen 1975 und 1982 in vier Bänden erschien und auf nahezu 3000 Seiten Artikel zu Personen, Werken, Gattungen, Ländern und einzeln Sachgebieten versammelte. Mit großem Interesse und eigenen Beiträgen verfolgte er insbesondere die Entwicklung  des Kinder- und Jugendtheaters, des Bilderbuchs, die historische Kinderliteratur und setzte sich immer wieder und engagiert mit aktuellen Tendenzen auseinander.

Wenn die Behandlung von Kinderliteratur bis in die Gegenwart noch des Öfteren als bloße didaktische Disziplin oder Zuarbeit zur Leseförderung angesehen wird, so hat diese Ansicht ihren Ursprung in einer traditionellen, einseitigen Zuordnung zur Erziehungswissenschaft. Entscheidend für die Gewinnung neuer Perspektiven war daher die Lösung aus der pädagogischen Umklammerung – ohne die Relevanz des Pädagogischen zu leugnen – und die Behandlung als eigenständiger, ebenbürtiger Literaturzweig, der durchaus selbst attraktive, literarisch relevante Impulse an andere Literaturzweige aussenden kann. Diese von Doderer seinerzeit nachhaltig vertretene Orientierung findet aktuell u.a. ihren Niederschlag in den Debatten um „crosswriting“ und generationsübergreifende Literaturangebote. Sie machen schematische Grenzziehungen obsolet und bestätigen die der Kinderliteratur inhärenten ästhetischen Potenziale. Zum aufrechten Gang fand die Kinderliteraturforschung aber auch durch die Abgrenzung von einer traditionell als „Dichtungswissenschaft“ verstandenen Germanistik und begrenzten philologischen Ansätzen. Nicht nur Kanon-Literatur sollte der Befassung wert sein, sondern Texte aller Art vom Sachbuch bis hin zum Comic. Indem es auf breiter Front auch Übersetzungen einbezog, verzichtete Doderers Literaturkonzept überdies auf eine enge nationalliterarische Ausrichtung.

Als bahnbrechend hat sich das Wirken Klaus Doderers nicht zuletzt für die Internationalisierung seines Forschungszweigs erwiesen. Zu einer Zeit, in der etwa in den USA und Kanada die Beschäftigung mit Kinder- und Jugendliteratur noch weitgehend in Händen von Bibliothekaren und privaten Sammlern lag, lieferte er manche Impulse für die beginnenden akademischen Diskussionen in diesen Ländern. Ein wesentliches Forum stellte die langjährige Mitarbeit im Vorstand des International Board on Books for Children and Young People (IBBY) dar. Neben vielen anderen Aktivitäten, die bemerkenswerte internationale Auszeichnungen und Kontakte in alle Welt und alle Erdteile einbrachten, ist vor allem die von Doderer intiierte Gründung der International Research Society for Children’s Literature (IRSCL) 1970 in Frankfurt a. M. zu nennen, deren erster Präsident er wurde.

Weitere Nachrufe auf Klaus Doderer (Stand 22.06.2023)


Dieser Beitrag erschien ursprünglich auf der Webseite des Instituts für Jugendbuchforschung der Goethe Universität Frankfurt. Verwendung des Beitrags mit Erlaubnis des Autors.