Inhalt

1. Einleitung

2. Körper im Spannungsfeld von Biopolitik, Disziplinierung und Kommodifizierung

3. (Biopolitische) Körper in Vollendet 

3.1 Umwandlung: ökonomisierte Körper und Körperhandel 

3.2 Überwachung: Disziplinierte und optimierte Körper im Ernte-Camp

3.3 Scheitern der Macht: Seelische Disziplinarresistenzen als Folge der biopolitischen Körpertransformationen

4. Fazit und Ausblick

5. Literaturverzeichnis

 

1. Einleitung

In Shustermans Vollendet ersetzt die Transplantation voll entwickelter Organe somit die Abtreibung sowie herkömmliche Methoden der Medizin. Anders als Föten können die Körperteile der Jugendlichen anschließend für medizinische Zwecke eingesetzt werden. Nach den in der erzählten Welt ausgetragenen Abtreibungskriegen wird durch eine Gesetzesvereinbarung (die sog. ‚Charta des Lebens‘) das Recht auf Abtreibung auf das Alter zwischen 13 und 18 Jahren verschoben. Von der Zeugung bis zum 14. Lebensjahr sind die Körper und das Leben der Kinder laut des Umwandlungsabkommens unantastbar. Gesetzlich abgesichert ist lediglich die Gesetzesinitiative des ‚Storchens‘, die vorsieht, dass ungewollte Babys heimlich auf der Türschwelle anderer Familien abgelegt werden dürfen. Ab dem Alter von 13 Jahren gelten die Jugendlichen als ‚vollendet‘ und können in sog. ‚Ernte-Camps‘ umgewandelt werden. Die logische medizinische Konsequenz, dass die Körper durch den Eingriff sterben, wird dabei durch die Gesetzgebung verfälscht. Diese sieht vor, dass die Körper nach dem Eingriff ‚weiterleben‘, da die Jugendlichen nur ‚umgewandelt‘ werden: 99,44% des Körpers müssen medizinisch weiterverarbeitet werden. Der/die umgewandelte Jugendliche lebt danach im sog. „geteilten Zustand“ (Shusterman 2022a (2012): 88) weiter.

In multiperspektivisch angelegten Erzählsequenzen berichten die Protagonistinnen und Protagonisten (allen voran Connor Lassiter, Risa Ward und Lev Calder) von ihren Einstellungen zu den bevorstehenden Umwandlungen sowie von Fluchtstationen und Oppositionsperspektiven. Im Verlauf der Erzählung formieren sich verschiedene rechtswidrige, im Untergrund arbeitende Protestbewegungen und widerständische Gruppierungen von geflohenen Wandlerinnen und Wandlern, um andere betroffene Jugendliche vor dem Organhandel zu retten und um Alternativen zur Umwandlung zu finden. Die systemische Verwendung der Körperteile wird währenddessen zunehmend durch wirtschaftliche Faktoren intensiviert und radikalisiert: Teilepiraten und -piratinnen jagen illegal Wandler und Wandlerinnen; ein ‚perfekter‘ Mensch wird durch die Zusammensetzung von 99 ausgewählten Teilen produziert; Organe werden nicht nur für gesundheitliche, sondern auch für leistungsoptimierende Zwecke gehandelt.

Durch die Rahmung der Erzählung werden politische Debatten um Abtreibung und Organspende aufgegriffen, die auch in der Realität politisch, ökonomisch und ethisch-moralisch aufgeladen sind: Organe stellen eine knappe Ressource dar, sodass Decker eine „enge Verwobenheit der Rohstoffgewinnung mit der Frage von Leben und Tod“ (2011: 30) diagnostiziert. In der Dystopie Shustermans wird Biopolitik zum regulatorischen Instrument der Kontrolle über jugendliche Körper. Integrales Element der Biopolitik bilden dabei die Teilbereiche Ökonomie, Biologie und Wissenschaft:

Biopolitik lässt sich als Ökonomisierung des Lebens bezeichnen, bei der erstens das Leben als biologische Ressource zum Gegenstand der Politik wird, zweitens das Leben in Wissenschaftsdiskursen als wissenschaftliche Tatsache hervorgebracht wird und drittens Individuen als Subjekte einer vermeintlich normalen, natürlichen oder gesunden Lebensführung angesprochen bzw. angerufen werden. (Motakef 2011: 98)

In werden die Körper und Organe von Jugendlichen zum Rohstoffrepertoire; das Konzept der Umwandlung wird von Wissenschaft, Politik, Ökonomie, Medizin und Bevölkerung getragen. Die körperpolitischen und -ökonomischen Diskurse sollen in diesem Beitrag unter Rückgriff auf Foucaults biopolitische und körperliche Analysen untersucht werden. Schwerpunkt der Betrachtung liegt auf der Verschränkung von biopolitischen und ökonomischen Dimensionen in der Fiktion: In den Blick genommen werden sollen die Ökonomisierung und Optimierung der Körper sowie körperliche Resistenzen gegen die Regulationsmechanismen. Die Analyse fokussiert primär den ersten Band, punktuell finden Verweise auf die übrigen Bände statt.

2. Körper im Spannungsfeld von Biopolitik, Disziplinierung und Kommodifizierung

Die Macht über das Leben unterliegt Foucault zufolge zwei Polen: Dazu gehören einerseits die Disziplinen (die „politische Anatomie des menschlichen Körpers“ (Foucault 2014 [1983]: 35), die eine ökonomisierte Kontrolle bedingt) und andererseits die Biopolitik der Bevölkerung als regulatorisches Instrument. Neben dem ihm inhärenten Dualismus von Leben und Tod ist der Körper auch in gesellschaftlicher Perspektive ein äquivoker Bedeutungsträger: Der individuelle Körper kontrastiert mit dem staatlichen Körper (also der Bevölkerung als Gesamtsumme der individuellen Körper) und konsolidiert diesen gleichermaßen, denn dem materiellen, individuellen Körper sind überindividuelle (kulturelle) Semantiken imprägniert. Durch die Inkorporierung der Dispositive ‚Macht‘ und ‚Wissen‘ wird der Körper zu einem unterworfenen Objekt (vgl. ebd.: 135; id.: 2015 (1994): 37f.).

Die Biomacht wird durch dieses bevölkerungspolitische Körper-Produkt konstruiert (vgl. Ahmed 2021: 96). Die Politisierung dieser Macht dient der Steigerung und Optimierung menschlicher Existenz, die zur Regulierung des Körpers und der Bevölkerung funktionalisiert wird. Biopolitische Techniken interagieren dabei mit den Disziplinartechniken. Foucault konstatiert in Überwachen und Strafen (1994), dass die „Entdeckung des Körpers als Gegenstand und Zielscheibe der Macht“ (2015 [1994]: 174) mit der koordinierten Disziplinierung des Körpers einhergeht: „Die Disziplin steigert die Kräfte des Körpers (um die ökonomische Nützlichkeit zu erhöhen) und schwächt diese selben Kräfte (um sie politisch fügsam zu machen)“ (ebd.: 177). Strafsysteme, Disziplinarapparate und -institutionen dienen im binären Gefüge von Produktivität und Unterwerfung als „politische Ökonomie“ (ebd.: 36) des Körpers. Resultat ist eine asymmetrische Machtverteilung, der auch die Aufrechterhaltung des Konzepts der Seele als Machtmechanismus dient: Die Technologien zur Bemächtigung über den materiellen Körper modellieren unbewusst den Körper-Seele-Dualismus, der in der Konsequenz nicht unabhängig von den körperproduzierenden Machtrelationen existieren kann (vgl. ebd.: 41ff.).

Die von Foucault identifizierten Korrelationen zwischen Körper, Biopolitik und Bioökonomie sowie die Wirkungen der Disziplinar- und Machtstrukturen werden im folgenden Kapitel auf ausgewählte Aspekte von Shustermans Dystopie übertragen.

3. (Biopolitische) Körper in

Die Körper der Wandlerinnen und Wandler in unterliegen einer ambigen Wahrheit: (Bio-)Politische Entscheidungen bzw. Kompromisse haben nach der historischen Fiktion der Heartland-Kriege dazu geführt, dass Abtreibungen verboten und an deren Stelle die ‚Umwandlungen‘ eingeführt werden. Die Körper ausgewählter[1] Jugendlicher zwischen 13 und 18 Jahren werden in Einzelteilen für medizinische Zwecke separiert und in andere Körper transplantiert. Die Macht über und das Recht auf das Weiterleben der Körper wird durch den „geteilten Zustand“ (Shusterman 2022a [2012]: 88) und die Verpflichtung zur Verwendung von 99,44% des Körpers der Wandlerinnen und Wandler legitimiert (vgl. Shusterman 2018 [2007]: 344).

Die Disziplinierung des (politischen) Körpers wird in Vollendet radikalisiert: „Der menschliche Körper geht in eine Machtmaschinerie ein, die ihn durchdringt, zergliedert und wieder zusammensetzt“ (Foucault 2015 [1994]: 176). Diese Kontrolle des Körpers gilt in der dystopischen Fiktion wortwörtlich: Der staatlich-rechtliche Umwandlungsmechanismus sieht vor, dass die jungen, gesunden Körper der Jugendlichen für die Stabilisierung des Bevölkerungskörpers und des Gesundheitssystems fragmentiert werden. Juristisch betrachtet gilt die Umwandlung nicht als Tod, sondern als Weiterleben im geteilten Zustand. Die rechtliche Auslegung von Leben ist dabei konstitutiv für den Machterhalt. Die Macht über das Leben liegt beim kollektiven Körper, der den individuellen Körper beherrscht. Foucault äußert:

Die Disziplinen des Körpers und die Regulierungen der Bevölkerung bilden die beiden Pole, um die herum sich die Macht zum Leben organisiert hat. Die Installierung dieser großen doppelgesichtigen – anatomischen und biologischen, individualisierenden und spezifizierenden, auf Körperleistungen und Lebensprozesse bezogenen – Technologie charakterisiert eine Macht, deren höchste Funktion nicht mehr das Leben, sondern die vollständige Durchsetzung des Lebens ist. (Foucault 2014 (1983): 135)

In Vollendet wird diese von Foucault analysierte Kontinuität zugespitzt: Die Umwandlung wird zur staatlichen, biopolitischen Apparatur und „Lebens-Macht-Technologie“ (ebd.: 146). Die ‚vollständige Durchsetzung des Lebens‘ wird zu einer Pseudo-Wahrheit, aus der der Tod ausgeklammert wird. Die Umwandlung wird somit zu einem biopolitischen Instrument, das das Überleben der Gesamtbevölkerung bzw. eines anderen Körpers gewährleistet. Im Folgenden sollen anhand ökonomischer Aspekte, Überwachungsprinzipien und der Frage nach der Seele die biopolitischen Dimensionen der Umwandlung expliziert werden.

3.1 Umwandlung: ökonomisierte Körper und Körperhandel

Susan Louis Stewart zufolge wird der Umwandlungshandel in zur „capitalist machine“ (2013: 164), die durch die gesellschaftliche Nachfrage, die medizinisch einseitigen Heteronomien, deren geschaffenen Bedarfe sowie die ökonomischen Interessen nicht mehr rückgängig gemacht werden kann (vgl. ebd.). Die politische Ökonomisierung[2] der Wandlerinnen- und Wandler-Körper manifestiert sich auf mehreren Ebenen, die im Folgenden näher untersucht werden sollen.

Die Produkt- und Preisgestaltung der Körperteile der Wandlerinnen und Wandler orientiert sich an der Konjunktur des Wirtschaftsmarkts. Die Körperteile werden dabei einer Wettbewerbssituation ausgesetzt, bei der die gleichen Produkte nach medizinischer Qualitätsbeurteilung eine Preishöhe zugeschrieben bekommen.

Dass 99,44% des Körpers verwendet werden müssen, bewirkt zudem die Möglichkeit eines Marktmissbrauchs durch maximale Markterweiterungen: Selbst kranke Körperteile werden ökonomisch verwertet, wenngleich eine Preisdifferenzierung vorgenommen wird. Die Preispolitik bedingt, dass die vom Gesundheitssystem abhängigen Körper unterschiedliche Preise für unterschiedlich gute Transplantate zahlen. Die Weiterverwendung der Organe ist an das mikroökonomische Kaufverhalten der Käuferinnen und Käufer sowie an intersektionale Differenzkategorien gebunden: Vor allem class wird hier zum entscheidenden Argument. Embys Familie kann sich nur eine verhältnismäßig ‚schlechte‘ Lunge leisten, sodass der Junge sein Leben lang auf Medikamente angewiesen ist: „Wie ich gesagt habe, die Lunge hat Asthma. Etwas Besseres konnten wir uns nicht leisten“ (Shusterman 2018 [2007]: 214). Als Risa ihre Betreuerin im Ernte-Camp zur Verwendung nicht-qualitativer Körperteile befragt, lautet deren pragmatische Antwort: „(E)in taubes Ohr ist besser als gar kein Ohr (…) und manchmal können sich die Leute einfach nicht mehr leisten“ (ebd.: 344).

Das Gegenteil ist bei CyFi bzw. Cy-Ty der Fall: Nach einem Autounfall braucht Cyrus wegen einer Hirnverletzung einen neuen Schläfenlappen. Seine Väter bezahlen den behandelnden Arzt dafür, dass ein ganzer Schläfenlappen (anstelle von Einzelteilen verschiedener Wandlerinnen und Wandler) eingesetzt wird (vgl. ebd.: 163). Die Folge: eine dissoziative Identitätsstörung.

Die ökonomische Wertigkeit der Körper äußert sich aber auch schon vor der Umwandlung, wenn der Körper in einem der Wertschöpfungskette vorgeschalteten Prozess beurteilt wird: Für Roland ist seine seltene Blutgruppe ausschlaggebend für eine vorzeitige bzw. zeitnahe Umwandlung. Sein ökonomischer Wert wird ihm durch seinen Betreuer im Ernte-Camp aufgezeigt: „AB negativ – die ist selten und sehr begehrt (…) Betrachte es mal von der Seite: Du bist mehr wert als jeder andere auf der Station“ (Shusterman 2018 [2007]: 368).

Der Profit des Umwandlungsgeschäfts beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Gesundheitswirtschaft, sondern Camus Comprix zufolge auf das gesamte ‚Umweltkonsortium‘:

Das Umwandlungskonsortium sind alle, die mit der Umwandlung Geld verdienen. Die Unternehmen, denen die Ernte-Camps gehören, Krankenhäuser, die transplantieren, die Jugendbehörde… (Shusterman 2022b (2014): 427)

Beispielsweise wird die gesetzeskonforme Verfolgung von Wandlerinnen und Wandlern durch Belohnungsstrategien ökonomisch begünstigt: „Es gibt eine Belohnung von fünfhundert Dollar für jeden flüchtigen Wandler“ (Shusterman 2018 [2007]: 332). Ab Band 2 der Quadrologie (. Der Aufstand) wird der illegale Körper- und Organhandel für die sogenannten ‚Teilepiraten‘ zum profitablen Gewerbe. Auch hier unterliegt der Handel den konjunkturellen und politischen Marktbedingungen: Weibliche, rothaarige, umbra-farbene Wandlerinnen und Wandler sowie politisch Verfolgte wie Connor sind kostbarer als andere (vgl. Shusterman 2022a [2012]: 162).

Intensiviert wird die Umwandlung außerdem durch die zunehmend schönheitschirurgisch verwendeten Körperteile, die die Industrie und den Körperhandel noch weiter ankurbelt (vgl. u.a. Shusterman 2022b [2014]: 217f.; 230f.).

3.2 Überwachung: Disziplinierte und optimierte Körper im Ernte-Camp

Die Regulationsmechanismen der Umwandlung stellen eine ‚bequeme‘ Lösung für vielfache biopolitische Probleme dar. Die Disziplinierung der Körper profiliert sich exemplarisch u.a. im Ernte-Camp. Im Hinblick auf die Ernte-Maschinerie lässt sich eine Optimierung des Organhandels wahrnehmen: Im Ernte-Camp werden die Wandlerinnen und Wandler beobachtet. So werden beispielweise ihre motorischen Fähigkeiten videographisch aufgezeichnet und ausgewertet. Das kapitalistische System im Roman ist ein eindeutig ökonomisch zentriertes: Durch den panoptischen Blick[3] werden die Machtdimensionen der Kontrollinstitution des Ernte-Camps versinnbildlicht. Der Kollektivkörper observiert den Individualkörper. Es handelt sich um einen automatisierten, ökonomisch effektiven und produktiven Machtapparat.[4]

Die professionellen Mitarbeitenden der Ernteklinik dokumentieren sämtliche Aktivitäten der Wandlerinnen und Wandler, beispielsweise auf dem Basketballfeld:

Jedes der fünf Totems hatte in jedem Auge eine Kamera. Zehn Spieler, zehn Kameras. Irgendwo sitzt also jemand und beobachtet jeden Wandler, der mitspielt. Er macht Notizen zu Hand-Augen-Koordination und bewertet die Kraft der verschiedenen Muskelgruppen. Das Basketballspiel dient demnach nicht der Unterhaltung der Wandler, sondern der besseren Einschätzung ihrer Teile. (Shusterman 2018 [2007]: 343)

Risa hat sich Ernte-Camps immer „wie einen Großschlachthof“ (ebd.: 343) mit mangelernährten Kindern vorgestellt — stattdessen funktioniert die Regulierung, Disziplinierung und Kommodifizierung des Körpers und der Körperteile ohne physische Druckmittel: Durch die Separierung „des Paares Sehen/Gesehenwerden“ (Foucault 2015 (1994): 259) im Panopticon bedarf es keinerlei körperlicher Macht (wie bspw. Handschellen o.ä.). Die kontinuierliche Sichtbarkeit der gefangenen Wandlerinnen und Wandler ermöglicht eine automatisierte Machtverteilung. Die Disziplinaranlage selbst wird dabei in der Foucault’schen Argumentation demokratisch überwacht (vgl. ebd.: 266): Die Außenwelt hat den Mechanismus und die Institution bestätigt.

Die Überwachung und Kontrolle der Körper sowie deren anschließende Nutzung für medizinische Zwecke erwirkt eine Maschinisierung der Körper, die die Machtrelationen deutlich macht: Der Körper ist ein Patient ohne Befugnisse, während der kollektive Bevölkerungskörper und die an der Umwandlung mitwirkenden Individualkörper (Ärztinnen und Ärzte, Krankenpflegerinnen und -pfleger, Betreuende, Angehörige der JuPo (Jugendpolizisten und -polizistinnen etc.) die Machtbefähigung innehaben.

Durch die Observation und Inspektion der Körper im Erntecamp findet gewissermaßen eine optimierte Abtreibung/Umwandlung statt:  Die zum Körper herangewachsenen Föten der Jugendlichen fungieren als körperliche Ressourcen für die biopolitische Optimierung der kapitalistischen Gesellschaft. Die ins Jugendalter verschobene Abtreibung gewährleistet demzufolge eine biokapitalistische Verwendung der Körper. Der Zusammenhang zwischen Biopolitik und Kapitalismus, der sich auch schon in den ökonomischen Charakteristiken der Umwandlung geäußert hat, wird hier erneut sichtbar.

3.3 Scheitern der Macht: Seelische Disziplinarresistenzen als Folge der biopolitischen Körpertransformationen

Die Disziplinierung und Kommodifizierung der Körper durch biopolitische Macht zeigt sich in den Systemen und Institutionen der Umwandlung, bspw. im Organhandel und dem Ernte-Camp als prototypischem Schauplatz. Die Biopolitik und die gesteuerten Technologien regulieren die im Idealfall mit der Macht kongruierende, gesellschaftlich konstruierte Seele,

das Element, in welchem sich die Wirkungen einer bestimmten Macht und der Gegenstandsbezug des Wissens miteinander verschränken; sie ist das Zahnradgetriebe, mittels dessen die Machtbeziehungen ein Wissen ermöglichen und das Wissen die Machtwirkungen erneuert und verstärkt. (Foucault 2015 [1994]: 42)

Körper- und Biopolitik muss dem Individualkörper inkorporiert werden, damit der Körper als Produkt der Gesellschaft nicht von seiner Rolle als Produzent von Gesellschaft abweicht. Die Vereinbarkeit von Seele und Körper erhöht das Machtpotential der Biopolitik, Divergenzen jedoch führen zu Protesten:

Body politics indeed refers both to the process through which societies regulate the human body or use (part of) it to regulate themselves, and to the struggles over the degree of individual and social control of the body, its parts and processes. In other terms, it covers the two sides of the power‐body relations: the powers to control bodies on the one side, and resistance and protest against such powers on the other. (Sassatelli 2012: 348)

Die körperpolitischen Diskurse in enthalten diese oppositionellen Körper: Durch die Organtransplantationen wird die körperliche Integrität der Wandlerinnen und Wandler sowie der Organ-Empfängerinnen und Empfänger zerstört.

Die Konsequenzen für die Körper-Transplantationen manifestieren sich u.a. auf psychischer und affektiver Ebene. Als ein Beispiel kann hier CyFi angeführt werden: Das Gehirn eines anderen kreiert andere Erinnerungen und Handlungen als sein Ich. Ein anderer Fall für diese körperlichen und subjektiv-seelischen Inkongruenzen ist Connor, der sich mit Rolands Hand nicht identifizieren kann und Sorge hat, die körperlichen und seelischen Affekte seines Gebers in seinen Körper und sein Handeln zu integrieren. Die äußerliche, physische Transformation seiner Körperrepräsentation, die durch das Tattoo als körperlicher Zeichenträger verstärkt wird, wirkt sich also auch auf seine innerliche Einstellung aus:

Wenn er es zulässt, dass Rolands Muskelgedächtnis die Regie übernimmt, verliert Connor mehr als nur die Beherrschung. Im Grunde verliert er einen Teil seiner Seele. (Shusterman 2022b (2014): 412)

Als Radikalisierung des ökonomisch gedachten Perfektionismus lässt sich die Figur von Camus Comprix anführen, dessen Körper aus 99 Jugendlichen künstlich zusammengesetzt wurde. Sein Körper, „made from a patchwork of organs stiched together“ (Ferreira 2019: 135), ist eine ökonomische Investition, gleichzeitig aber auch ein vielversprechendes Körperprodukt: Als „Eigentum“ (Shusterman 2022b [2014]: 278) des proaktiven Bürgerforums wird er zur inkorporierten Ware stigmatisiert. Auch an diesem aus multiplen Identitäten zusammengesetzten Patchwork-Körper scheitern die Disziplinartechniken an dem Punkt, an dem biopolitische Maßnahmen nicht mehr mit dem eigenen Körpergefühl und Körperselbst kongruieren: „(Camus) liebt seinen Körper. Aber sich selbst kann er immer noch nicht lieben“ (ebd.: 215)

Für die nicht-physische, sondern identitär-räumliche Zusammensetzung des Körpers lassen sich drei Beispiele anführen: Eines bildet Harlan McDunfee, Sohn des Admirals, dessen Umwandlung seine Eltern bereuten. Sie machen es sich zur Aufgabe, alle Teile ihres Sohns wiederzufinden, um alle Menschen einzuladen und ihren Sohn so um sich zu versammeln (vgl. Shusterman 2018 [2007]: 424f.). Eine solche multiple Verkörperung einer umgewandelten Person liefert auch die Tyler-Walker-Stiftung, die als ‚Revival-Kommune‘ 75% des Körpers von Tyler in einer Wohnanlage zusammenbringt. Die Trägerinnen und Träger der Organe und Gliedmaßen lassen sich nicht mehr mit Namen, sondern mit Körperteilen ansprechen (vgl. Shusterman 2022b [2014]: 169ff.). In Band vier wiederum entscheidet sich Una für eine „Teilungshochzeit“ (Shusterman 2022c [2015]: 467): Da ihr Verlobter umgewandelt wurde, heiratet sie stattdessen „27 Bräutigame, die fast zwei Drittel von Will Tashi’ne repräsentieren“ (ebd.: 468).

All diese Beispiele zeigen auf, dass das Scheitern der biopolitischen Synchronisation von materiellem und performativem Körper Protestformen stimuliert.

4. Fazit und Ausblick

Die Analyse der Buchreihe mithilfe der Macht-Wissens-Technologien nach Foucault konturieren die biopolitischen Formationen, welche die erzählte Welt auf subtile Weise durchdringen: Die Machtinstitutionen wirken mithilfe der Disziplinartechniken auf den Körper der Wandlerinnen und Wandler ein. Die körperliche Autonomie, die ein Abtreibungsverbot bewirken sollte, wird durch die Installation der Umwandlung ad absurdum geführt: In einer Lesart, in der die Umwandlung metaphorisch für eine Abtreibung im Jugendalter steht, wird Abtreibung im Roman durch die vorherrschende Körperpolitik ökonomisiert. Die Umwandlung kann so als ‚verspätete Abtreibung mit ökonomischer Wertsteigerung‘ gelesen werden. Die Organtransplantation wird als dystopischer Ersatz für die Abtreibung zu einem mächtigen biopolitischen Instrument: Vollendet zeigt auf, dass der individuelle Körper der öffentlichen Gesundheit machtstrukturell unterworfen ist.

Die Automatisierung des ökonomisch effektiven Machtapparats ‚Umwandlung‘ bedingt die gesellschaftliche Akzeptanz biopolitischer Kontrollgefüge, intersektionaler Ungleichheit sowie asymmetrischer Machtverteilung. Unberücksichtigt bleibt in dieser Analyse die Verschränkung zwischen religiösem Fanatismus und Ökonomisierung der Körper: Die sog. ‚Zehntopfer‘ erfahren in der Institution der Umwandlung eine Sonderbehandlung, die mitunter (ökonomische) Vorteile mit sich bringt. Auch widerständische Selbstmordattentäterinnen und -attentäter (sog. ‚Klatscherinnen‘ und ‚Klatscher‘) und der mit diesem politischen Akt verbundene Versuch der Rückgewinnung der eigenen Körperautonomie bedürfen im Kontext von Körper, Leben und Macht einer weiterführenden, gesonderten Betrachtung, da das proklamierte ‚Weiterleben‘ nach der Umwandlung durch den Suizid subvertiert wird.

„Biomacht bezeichnet (…) eine unsichtbare Macht“ (Ahmed 2021: 112) — doch durch transplantierte Körperteile am Leben gehaltene, geheilte und erschaffene Körper wie die von Camus Comprix, CyFi, Risa und Connor zeigen, dass diese Macht trotz ihrer Verborgenheit durch körperpolitische Resilienzen beeinflusst werden kann. Nach Gugutzer ist der Körper gleichermaßen soziales Produkt und Produzent von Gesellschaft (vgl. Gugutzer 2006: 13). Die Körper der Wandlerinnen und Wandler wirken — sei es als Gesamtkörper oder als Körperteile — im biopolitischen Gefüge nicht nur als Produkte, sondern durch (politischen) Protest auch als Produzenten von Gesellschaft. Trotz der Manipulation und Formierung der Körper scheitert die Kontrolle und Disziplinierung am Glauben an die Existenz einer Seele, die Macht über den individuellen Körper ausübt. Über den Körper-Seele-Dualismus spekulieren einige Klatscher um Connor auf der Reise zum sog. ‚Friedhof‘: „Wenn man sie nicht zerteilen kann (…) dann dehnt sich die Seele eines Wandlers vielleicht zwischen den vielen Teilen an allen möglichen Orten wie ein riesiger Ballon“ (Shusterman 2018 [2007]: 216). In einer Welt, in der ein umgewandeltes Leben biopolitisch zu einem ‚vollendeten Leben‘ umstilisiert wird, mutiert die oppositionelle Kraft der Seele zum mobilisierenden Werkzeug, das die widerständigen Körper ortsübergreifend vereint. Die Biopolitisierung, Disziplinierung und Kommodifizierung scheitert dort, wo der Körper-Seele-Dualismus aufgelöst wird.


Fußnoten

[1] Die Selektion erfolgt anhand elterlicher Entscheidungen, nur bestimmte Jugendgruppen (Schwangere, Jugendliche mit Behinderung) sind von der Umwandlung ausgeschlossen. Vor allem die Eltern von ‚verhaltensauffälligen‘, ‚sozial problematischen‘ und vor dem Gesetz straffälligen Jugendlichen unterschreiben die Umwandlungsverfügung. Klassistische ‚Aussortierung‘ findet u.a. im Waisenhaus statt, wenn der Staat die Kosten für das Mündel nicht länger tragen kann/will (vgl. bspw. Risa Ward).

[2] Im Sinne der politischen Ökonomie können wirtschaftliches und politisches System im Kontext von Körper und Macht nicht unabhängig voneinander gelesen werden: Die politischen Entscheidungen bedingen die Möglichkeiten der ökonomischen Körperpotentiale (vgl. Foucault 2015 [1994]: 37).

[3] Beim Panopticon handelt es sich um ein auf J. Bentham zurückgehendes architektonisches Prinzip, das für Überwachungsmechanismen geschaffen wurde. Das Prinzip des Panopticons besteht darin, dass die gesamten zu kontrollierenden Einheiten (bspw. Haftzellen) von einem zentralen Turm aus gleichzeitig überwacht werden können. Im Gegensatz zu verdunkelten, verborgenen Räumen wie Kerkern sind die Gefangenen auf diese Weise ständig sichtbar, wissen durch die Uneinsehbarkeit der Kontrollinstanz im Turm aber nicht, ob sie gerade observiert werden. Die Sichtbarmachung der Macht durch den Turm wird intensiviert durch die Unsichtbarkeit der Beobachtenden. Der intendierte Effekt besteht in der Maximierung der Kontrollmacht durch die „Schaffung eines bewußten und permanenten Sichtbarkeitszustandes beim Gefangenen, der das automatische Funktionieren der Macht sicherstellt“ (Foucault 2015 [1994]: 258).

[4] Die ökonomische Dimensionierung der Einrichtung lässt sich rein lexikalisch festmachen: Die Umwandlung wird euphemistisch als „Ernte“ (Shusterman 2018 [2007]: 371) bezeichnet, die Wandlerinnen und Wandler leben im „Ernte-Camp“ (u.a. ebd.: 221). Die umwandlungskritischen Jugendlichen dagegen bezeichnen die Ernteklink als „Schlachthaus“ (ebd.), in dem ihre Körper wie Tiere abgeschlachtet werden. In diesen Bezeichnungen spiegelt sich auch die Perspektivierung von Leben und Tod wider.

 

5. Literaturverzeichnis

Primärliteratur:

Shusterman, Neal: Vollendet. Die Flucht. Frankfurt/Main: Fischer Verlag, 2018 (2007).

— : Vollendet. Der Aufstand. Frankfurt/Main: Fischer Verlag, 2022a (2012).

— : Vollendet. Die Rache. Frankfurt/Main: Fischer Verlag, 2022b (2014).

— : Vollendet. Die Wahrheit. Frankfurt/Main: Fischer Verlag, 2022c (2015).

Sekundärliteratur:

Ahmed, Nasser: Zwischen Biomacht und Lebensmacht. Biopolitisches Denken bei Michel Foucault und Ernst Jünger. Bielefeld. Transcript Edition Politik, 2021.

Decker, Oliver: Der Warenkörper. Zur Sozialpsychologie der Medizin. Springe: Zu Klampen Verlag, 2011.

Ferreira, Aline: „Stitching, Weaving, Recreating: Frankenstein and Young Adult Fiction“. In: Callahan, David/ Barker, Anthony (Hgg.): Body and Text: Cultural Transformations in New Media Environments. Cham: Springer, 2019. S. 127-138. doi.org/10.1007/978-3-030-25189-5_9.

Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag, 2014 (1983).

— : Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag, 2015 (1994).

Gugutzer, Robert: body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports. Bielefeld : transcript Verlag, 2006.

Motakef, Mona: Körper Gabe. Ambivalente Ökonomien der Organspende. Bielefeld: transcript Verlag, 2011.

Sassatelli, Roberta: „Body Politics“. In: Amenta, Edwin/ Nash, Kate/ Scott, Alan (Hgg.): The Wiley-Blackwell Companion of Political Sociology. Hoboken: Blackwell Publishing, 2011. S. 347-359.

Stewart, Susan Louise: „Dystopian Sacrifice, Scapegoats, and Neal Shusterman’s Unwind“. In: Basu, Balaka/ Broad, Katherine/ Hintz, Carrie (Hgg.): Contemporary dystopian fiction for young adults. Brave new teenagers. New York: Routledge, 2013. S. 159-173.