Explikat

Der Begriff des Kindheitsfilms ist momentan noch nicht als feststehender, klar definierter Begriff in der akademischen Forschung oder im alltäglichen Gebrauch etabliert. Kurze Begriffsbestimmungen finden sich im Kontext der Auseinandersetzungen mit dem Kinder- und Jugendfilm u. a. bei Kümmerling-Meibauer (2010, S. 11) und Kurwinkel/Schmerheim (2013, S. 297). Claudia Wegener betrachtet Kinderfilme im Hinblick auf die in diese eingeschriebenen Vorstellungen von Kindheit und bereitet somit eine analytische Perspektive vor, die für die Bestimmung und Ausdifferenzierung des Begriffs und Phänomens "Kindheitsfilm" maßgeblich ist (vgl. Wegener 2011). Internationale Publikationen zum "Kind im Film", die in den vergangenen Jahre zahlreich erschienen sind (z. B. Lury 2009, Olson/Scahill 2012, Howe/Yarbrough 2014), umgehen oftmals die Frage nach einem systematischen Oberbegriff und argumentieren nicht immer mit einem expliziten Verweis auf die Kindheitsforschung. Anliegen der vorliegenden Begriffsbestimmung ist somit im Anschluss an eine Zusammenführung und In-Beziehung-Setzung bestehender definitorischer Ansätze die eigenständige Arbeit an möglichen Bedeutungs- und Gebrauchsdimensionen des Begriffs "Kindheitsfilm".

Dieser funktioniert insofern analog zu klassischen Genrebegriffen etwa der Komödie, des Westerns oder des Kriminalfilms, als er ein Ordnungsprinzip anhand von spezifischen formal-ästhetischen Motiven und Gestaltungsmitteln ermöglicht. Allerdings geht er ganz ähnlich wie der Begriff des Kinderfilms über die traditionellen Genre-Ordnungen hinaus und funktioniert im Sinne eines "Metagenres" (Wegener 2011, S. 125f.): Im selben Maße, wie in der Kategorie Kinderfilm Werke mit Genreschwerpunkten etwa des Abenteuer-, Kriminal- oder Fantasy-Films zu finden sind, können Kindheitsfilme ebenfalls anderen Genreformen zugeordnet werden. Das verbindende Element besteht im jeweils zentralen inszenatorischen Motiv der Kindheit. Dieses findet sich etwa in einzelnen Kriminalfilmen (Road to Perdition [2002, Sam Mendes]), Biopics (Walk the Line [2005, James Mangold]), Historien- und Ausstattungsfilmen (Oliver Twist [2005, Roman Polanski]), Science-Fiction-Filmen (A. I. – Artificial Intelligence [2001, Steven Spielberg]), Western (Shane [1953, George Stevens]), Komödien (Dennis the Menace [1993, Nick Castle]), Kriegsfilmen (Ivanovo detstvo [1962, Andrei Tarkovsky]) oder Horrorfilmen (The Omen [1976, Richard Donner]). Da die meisten originären Kinderfilme – d. h. "eigens für Kinder […] produzierte Filme" (Kurwinkel/Schmerheim 2013, S. 22) – ebenfalls mit der Inszenierung von Kindheiten befasst sind, können viele Kinderfilme auch als Kindheitsfilme beschrieben werden.

Ausnahmen sind z. B. zahlreiche Märchenfilme, die zwar für eine kindliche Zuschauerschaft gemacht sind, jedoch keine kindlichen ProtagonistInnen beinhalten. Dem folgend können viele Märchenfilme zwar als Kinder-, nicht aber als Kindheitsfilme bezeichnet werden. Mit dem Begriff des Kinderfilms ist eine spezifische Funktion bzgl. der Organisation von Zuschauerschaften und Rezeptionen verbunden: Er kennzeichnet die Eignung eines Films für eine spezifische Altersgruppe. Der Begriff des Kindheitsfilms hingegen erfüllt einen anderen Zweck: Er ermöglicht eine motivische Systematisierung, die es erlaubt, analytische Verbindungen zwischen verschiedenen Filmen herzustellen und übergreifende Betrachtungen anzustellen (eine differenzierte Aufarbeitung des Kinderfilm-Begriffs und seines möglichen Status als Genrebegriff findet sich bei Kurwinkel/Schmerheim 2013, S. 15ff.).

Der Begriff des Kindheitsfilms fokussiert also nicht Filme für Kinder (wie der Begriff Kinderfilm), sondern Filme über Kinder und Kindheiten.

Mit der Frage nach der Darstellung des Kindes im Film verbinden sich spezifische Fragen nach den (Un-)Möglichkeiten der medialen Repräsentation sozialer und kultureller Identitäten. In der Kindheitsforschung (engl. Childhood Studies), die sich seit den 1990er Jahren verstärkt als interdisziplinäre Forschungsperspektive aus der Sozialwissenschaft heraus entwickelt hat, werden insbesondere zwei unterschiedliche (wenn nicht sogar gegensätzliche) Facetten des Begriffs diskutiert (vgl. Deckert-Peaceman 2010, S. 8f.):

Authentische Darstellung gelebter Kindheiten: Zum Einen lässt sich der Kindheitsfilm als filmische Form beschreiben, deren Ziel eine unmittelbare Darstellung tatsächlicher historischer Bedingungen des Kind-Seins ist: Kindheitsfilme möchten dem folgend möglichst authentisch und aus der Perspektive des Kindes als Protagonist und Akteur vermitteln, was es heißt bzw. hieß, zu einem bestimmten Zeitpunkt, in einer bestimmten Region, einem bestimmten kulturellen und sozialen Umfeld Kind (gewesen) zu sein. Kindheit wird hier verstanden als tatsächlicher Lebensabschnitt, dessen alltägliche, sinnliche und emotionale Umstände mithilfe spezifischer filmischer Mittel zugänglich gemacht werden können. Filme wie The Butcher Boy (1997, Neil Jordan), Angela's Ashes (1999, Alan Parker) und Lauf Junge lauf (2013, Pepe Danquart) scheinen in ihren Anklängen an einen filmischen Realismus bestrebt zu sein, tatsächlich gelebte Kindheiten möglichst authentisch zu rekonstruieren und somit unmittelbar erfahrbar zu machen.

Filmische Projektionen von Kindheit: Eine weitere etablierte Perspektive der Kindheitsforschung geht jedoch davon aus, dass Kindheit (verstanden als Sammelbegriff für alle als charakteristisch verstandenen "Merkmale" des Kind-Seins) als gesellschaftliches Konstrukt zu betrachten ist. Gerade weil Kindheiten, wie Philippe Ariès gezeigt hat, in unterschiedlichen historischen, kulturellen und sozialen Kontexten gänzlich anders gestaltet und definiert sein konnten (vgl. Ariès 1978), erscheinen die Vorstellungen, die wir mit Kindheit verbinden, als Effekte kultureller Zuschreibungsprozesse. Dem folgend sind Kinder nicht "von Natur aus" unschuldig, unwissend, realitätsfern oder hilflos – dies sind vielmehr Attribute, die Kindern in kulturellen und sozialen Verhandlungsprozessen zugeschrieben werden (vgl. u.a. James/Prout 1996 und James/James 2004). Anschaulich wird dieses Argument, wenn man sich vergegenwärtigt, dass nicht nur Kindheitsfilme, sondern in den allermeisten Fällen auch Kinderfilme Werke von erwachsenen FilmemacherInnen sind, die nicht unmittelbar auf Kindheitserfahrungen zugreifen können, sondern nur im Modus der Erinnerung an die eigene Kindheit oder in der Einfühlung in das andere, fremde Gegenüber Kindheit entwerfen können. Filmische Bilder von Kindheiten können somit als Produkte von nostalgisch-verklärenden Retrospektionen, traumatischen Erinnerungen, Projektionen und Wunschbildern von Erwachsenen problematisiert werden. Jedoch ist darauf hinzuweisen, dass tatsächliche Kinder eben nicht als Opfer der auf sie projizierten Erwartungen anderer zu verstehen sind. Vielmehr sind sie als aktive AgentInnen in entscheidender Weise an den Aushandlungsprozessen von Kindheit beteiligt. Somit entsteht ein dynamisches Wechselverhältnis zwischen medialen Kindheitsbildern und sozialen Wirklichkeiten. Entsprechend formuliert Claudia Wegener im Hinblick auf die Kindheitsdarstellungen in Kinderfilmen:

"Kinderfilme nehmen ein Bild von Kindheit auf und spiegeln dieses in ihren Produktionen, andererseits zeichnen sie ein Bild des Aufwachsens, das in der Lage ist, Vorstellungen von Kindheit mit zu prägen und Maßstäbe für einen Umgang mit Heranwachsenden zu setzen." (Wegener 2011, S. 121)

Was bedeuten diese theoretischen Überlegungen nun für die Systematisierung und die konkrete Betrachtung von Kindheitsfilmen? Zum Einen einmöglicht diese Perspektive die Frage danach, welche Kindheitsbilder in Filmen inszeniert werden bzw. welche Motive und Begriffe jeweils mit Kindheit gekoppelt werden (Systematiken finden sich etwa bei Sinyard 1992 und Barg 2009). So fällt anhand von Filmen wie Die unendliche Geschichte (1984, Wolfgang Petersen) und The Chronicles of Narnia (2005-2010, Andrew Adamson und andere) auf, dass Kindheit an den Erfahrungsmodus der Fantasie bzw. der Imagination gekoppelt wird, wohingegen erwachsene Figuren häufig für ein Realitätsbewusstsein stehen. Child-Witness-Kriminalfilme wie Witness (1985, Peter Weir) oder Domestic Disturbance (2001, Harold Becker) hingegen inszenieren das Kind als unschuldigen Zeugen, der im Moment der Betrachtung von Gewalttaten in erwachsene Machtstrukturen eingeführt wird. In den Darstellungen von Kindern als RetterInnen der Menschheit – etwa in Children of Men (2006, Alfonson Cuarón) – erscheint Kindheit als ersehnter, harmonischer Zielpunkt in der Zukunft. Und Horrorfilme wie The Sixth Sense (1999, M. Night Shyamalan) oder The Others (2001, Alejandro Amenábar) spielen mit traditionellen Vorstellungen von unschuldigen Kindern, indem sie sie zu Mittlern zwischen Leben und Tod sowie zwischen Gut und Böse machen (zu diesen Punkten vgl. Stewen 2011).

In diese Beobachtungen ist bereits die Frage nach den spezifisch filmischen Inszenierungsstrategien eingelassen: Welchen Anteil hat das Medium Film am Zustande-Kommen dieser Bewegt-Bilder von Kindheit? In den Fokus gelangen so neben den narrativen Filmelementen auch solche der audio-visuellen Gestaltung und ihrer temporalen Bedingungen. Die filmischen Inszenierungen von fantastischen Welten zeichnen sich etwa in The Wizard of Oz (1939, Victor Fleming) durch Farbigkeit, eine gewisse Künstlichkeit, detailreiche Bilder und dominante musikalische Gestaltung aus und produzieren somit eine Vorstellung von einem kindlichen Erfahrungsraum. Blickstrukturen werden in den Inszenierungen der kindlichen Zeugen bedeutsam, die nicht nur im Hinblick auf die schauenden ProtagonistInnen, sondern zudem auch mit Blick auf ihre Sichtbarkeit für die KinozuschauerInnen zu analysieren sind. Und auch die genannten Horrorfilme greifen in wiederkehrenden distanzierten Einstellungen von weiß gekleideten Kindern auf bekannte Ikonografien des unschuldigen Kindes zurück.

Geht man nun davon aus, dass Kindheit als Effekt filmischer Darstellungsprozesse zu betrachten ist, so lassen sich Kindheitsfilme im engeren Sinne als jene Filme bestimmen, die nicht nur mit der Darstellung von Kindheiten befasst sind, sondern die in einer reflexiven Form die Prozesse der medialen Konstruktion von Kindheit selbst thematisieren. Hierzu lassen sich insbesondere Kindheitserinnerungsfilme wie Stand By Me (1986, Rob Reiner), Nuovo Cinema Paradiso (1988, Guiseppe Tornatore) und Hearts in Atlantis (2001, Scott Hicks) zählen. In diesen Filmen erscheint Kindheit als gleichsam harmonischer Urzustand, dessen Verlust betrauert wird – jedoch wird diese Zuschreibung als Produkt eines nostalgischen Erinnerungsprozesses  anschaulich. Zudem koppeln die genannten Filme diese Prozesse an die Herstellungsprozesse fotografischer und filmischer Bilder (vgl. Stewen 2011, S. 127-147). Hier schließen alltägliche Gebrauchsformen des Begriffs Kindheitsfilm an: Unter den Suchbegriffen "Kindheitsfilm" oder "Childhood Film" finden sich im Internet Blogs, in denen erwachsene UserInnen jene Filme auflisten, deren Sichtungen im Kinderalter sie nachhaltig geprägt haben. Bezeichnend ist, dass hier der Zugang zur eigenen vergangenen Kindheit jeweils über die Erinnerung an eine filmische Erfahrung möglich wird. Spezifische Filme werden also selbst zu Ausgangspunkten für Erinnerungen und ihre Produktionen von Kindheit. Auch hier zeigt sich, dass Kindheit nicht entkoppelbar ist von den Medien, die sie zur Anschauung bringen (zu diesen Durchdringungen von Medialität und Kindheit anhand des Mediums Film vgl. u.a. Lebeau 2008).


Bibliografie

  • Ariès, Philippe: Geschichte der Kindheit. München: Hanser, 1978.
  • Barg, Werner C.: Kinderbilder und Kindheitsdarstellungen in Spielfilmen für Erwachsene – Versuch einer Typologie. In: Kindheit und Film. Geschichte, Themen und Perspektiven des Kinderfilms in Deutschland. Hrsg. von Horst Schäfer und Claudia Wegener. Konstanz: UVK, 2009, S. 201-220.
  • Deckert-Peaceman, Heike/Dietrich, Cornelie/Stenger, Ursula: Einführung in die Kindheitsforschung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2010.
  • Howe, Alexander N./Yarbrough, Wynn (Hrsg.): Kidding Around. The Child in Film and Media. New York u.a.: Bloomsbury, 2014.
  • James, Allison/Prout, Alan (Hrsg.): Constructing and Reconstructing Childhood. New Directions in the Sociological Study of Childhood. London: Falmer Press, 1996.
  • James, Allison/James, Adrian L.: Constructing Childhood. Theory, Policy, and Social Practice. Hampshire/New York: Palgrave MacMillan, 2004.
  • Kümmerling-Meibauer, Bettina: Einleitung. In: Filmgenres. Kinder- und Jugendfilm. Hrsg. von Bettina Kümmerling-Meibauer und Thomas Koebner. Stuttgart: Philipp Reclam jun., 2013, S. 9-23.
  • Kurwinkel, Tobias/Schmerheim, Philipp: Kinder- und Jugendfilmanalyse. Konstanz: UVK,  2013.
  • Lebeau, Vicky: Childhood and Cinema. London: Reaktion Books, 2008.
  • Lury, Karen: The Child in Film. Tears, Fears and Fairy Tale. London/New York: I.B. Tauris, 2009.
  • Olson, Debbie/Scahill, Andrew (Hrsg.): Lost and Othered Children in Contemporary Cinema. Lanham u.a.: Lexington Books, 2012.
  • Sinyard, Neil: Children in the Movies. London: B. T. Batsford, 1992.
  • Stewen, Christian: The Cinematic Child. Kindheit in filmischen und medienpädagogischen Diskursen. Marburg: Schüren, 2011.
  • Wegener, Claudia: Der Kinderfilm: Themen und Tendenzen. In: Kino in Bewegung. Perspektiven des deutschen Gegenwartsfilms. Hrsg. von Thomas Schick und Tobias Ebbrecht. Wiesbaden: VS Verlag, 2011, S. 121-135.