Explikat
Wir haben es bei den literarischen Botschaften durchweg mit mehrgliedrigen, komplexen Äußerungen zu tun, anders gesprochen: mit einer Vielzahl von Signalen, ja, sogar mit einer Mehrzahl von separaten Signalbereichen.
Damit ergeben sich für eine literarische Doppelkommunikation grundsätzlich drei Realisierungsmöglichkeiten: (1) Die beiden Teilkommunikationen bedienen sich jeweils eigens für sie reservierter Signalbereiche; (2) sie bedienen sich ein und desselben Signalbereichs und stützen sich innerhalb dieses gemeinsam genutzten Signalbereichs teils auf ein und dieselben, teils auf verschiedene Einzelsignale; (3) sie bedienen sich sowohl getrennter Signalbereiche (Fall 1), benutzen einzelne Signalbereiche aber auch gemeinsam (Fall 2). Die mit der Kinder- und Jugendliteratur grundsätzlich gegebene Doppelkommunikation findet historisch vielfältige Ausprägungen […].
Die oft anzutreffende Gleichsetzung der literarischen Botschaft mit dem literarischen Werk – dem Gedicht, der Erzählung, dem Roman, dem Drama etc. – geht an der Tatsache vorbei, dass in der literarischen Kommunikation neben dem literarischen Text stets eine beträchtliche Anzahl weiterer Signale übermittelt wird. Wenn man den Text als den Kern der literarischen Botschaft bezeichnet, dann liegt es nahe, die außertextuellen Signale als Begleitsignale zu bezeichnen.
Gérard Genette hat den Vorschlag gemacht, die Gesamtheit der Signale, die die literarische Botschaft bzw. den literarischen Text begleiten, als Paratext zu bezeichnen. Diesen unterteilt Genette wiederum in zwei Kategorien: der Peritext umfasst all die verbalen Signale, die sich "im Umfeld des Textes" befinden, die unmittelbar an den Text angrenzen (Titel, Vorwort, Kapitelüberschriften, Anmerkungen, sonstige Begleittexte etc.) wie auch die nonverbalen Signale, soweit sie das Medienprodukt, welches den Text transportiert, aussendet (Schrifttype, Satz, Buchgestaltung, Illustration, Gestaltung von Einband und Schutzumschlag). Der Epitext beinhaltet all die Signale, die (zumindest ursprünglich) außerhalb des Buches angesiedelt sind und begleitend zu seiner Publikation ausgesendet werden (Genette 1992, S. 10-12). Bezüglich des Urhebers der paratextuellen Signale unterscheidet Genette zwischen dem "auktorialen Paratext", der auf den Autor (bzw. den Herausgeber oder Bearbeiter) zurückgeht, dem "verlegerischen Paratext" und dem von einem Dritten stammenden "allographen Paratext" (Genette 1992, S. 16). Die Urheberschaftsfrage ist in unserem Zusammenhang allerdings weniger relevant als die Klassifizierung der Signale nach ihrer "räumlichen Position" (Genette 1992, S. 12).
Es gehört u.E. zu den Eigentümlichkeiten des paratextuellen Bereichs, dass er aus einer Vielzahl von deutlich getrennten Signalbereichen besteht. So treffen wir hier besonders häufig auf die erste der oben genannten Realisierungsmöglichkeiten von Doppelkommunikation, auf die Nutzung nämlich jeweils eigener Signalbereiche. In vielen Signalbereichen des Paratextes wird ausschließlich mit den Vermittlern, in anderen exklusiv mit den kindlichen und jugendlichen Adressaten kommuniziert. Dies kann deutlich markiert werden – etwa durch eine direkte Ansprache der jeweiligen Zielgruppe. Es kann aber auch aus der Art der übermittelten Informationen deutlich werden, welche Empfängergruppe jeweils angesprochen ist. Es kann schließlich der in den einzelnen paratextuellen Bereichen gewählte Redestil deutlich machen, wer hier der Adressat ist. Sollten also explizite Markierungen fehlen, findet die jeweilige Empfängergruppe anhand von Inhalt und/oder Stil heraus, was jeweils für sie bestimmt ist. Ausgeschlossen ist damit nicht, dass es Signalfelder des Paratextes gibt, die von beiden Teilkommunikationen gemeinsam genutzt werden.
Begonnen sei mit ausgewählten Signalbereichen des Peritextes: die Titelei (bei der es sich in der Regel um einen verlegerischen Paratext handelt), wird von Genette unterteilt in Titel, Untertitel und Gattungsangabe (Genette 1992, S. 60); im kinder- und jugendliterarischen Horizont erscheint es sinnvoll, die Titelei um die Positionen Adressatennennung und Gebrauchshinweise zu ergänzen. Die verschiedenen Signalbereiche der Titelei sind historisch gesehen von beiden Teilkommunikationen in Anspruch genommen worden; hier entscheiden allein Inhalt und Stil darüber, welchen der beiden Teilkommunikationen der jeweilige Signalbereich zuzuordnen ist.
Beispiele
Der Kinderfreund. Ein Lesebuch zum Gebrauch in Landschulen – so der Titel des 1776 erschienenen berühmten Werks von Friedrich Eberhard von Rochow; der Titel dürfte in beiden Teilkommunikationen eine Rolle gespielt haben, während die Gattungsangabe samt Gebrauchshinweis eher eine exklusive Verständigung zwischen Sender und erwachsenem Vermittler darstellt. Robinson der Jüngere, zur angenehmen und nützlichen Unterhaltung für Kinder – so der Titel der Robinson-Nachdichtung von Joachim Heinrich Campe von 1779/90; hier kann angenommen werden, dass die gesamte Titelei (Titel, Gebrauchshinweis und Adressatennennung) in beiden Teilkommunikationen bedeutsam gewesen ist, wobei der Hinweis auf die Nützlichkeit wohl eher ein Signal für die erwachsenen Vermittler dargestellt haben dürfte. Ähnliches dürfte für die Titelei der folgenden Campeschen Publikationen von 1783 gelten: Theophron [= Titel], oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend [= Untertitel]. Ein Vermächtniß für seine gewesenen Pflegesöhne, und für alle erwachsnere junge Leute, welche Gebrauch davon machen wollen [= Gattungsangabe, Adressatennennung, Gebrauchshinweis].
Wo die Titelei lediglich aus einer Gattungsangabe besteht (in der oft ein impliziter Verwendungshinweis enthalten ist), wie im Fall des Moralischen Elementarbuchs von Christian Gotthilf Salzmann (1782/83), scheint sie eher der Verständigung zwischen Sender und erwachsenem Vermittler zu dienen. Diese Funktion der Titelei scheint im 18. und frühen 19. Jahrhundert die dominante zu sein, was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass viele Kinder- und Jugendbücher gar nicht in die Hände der eigentlichen Adressaten gelangen, sondern von erwachsenen Vermittlern vorgelesen oder mehr oder weniger frei vorgetragen werden sollten.
Eine Geschichte der kinder- und jugendliterarischen Titelei ist noch nicht in Angriff genommen worden. Ein Blick auf das späte 20. Jahrhundert läßt jedoch einen tiefgreifenden Wandel erkennen: Die Titelei fungiert dominant, wenn nicht ausschließlich als Signal in der Kommunikation zwischen Sender und kindlichem bzw. jugendlichem Adressaten: Wir pfeifen auf den Gurkenkönig. [= Titel] Wolfgang Hogelmann erzählt die Wahrheit, ohne auf die Deutschlehrergliederung zu verzichten [= Untertitel]. Ein Kinderroman [= Gattungsangabe mit impliziter Adressatennennung] (Christine Nöstlinger, 1972); Das war der Hirbel. [= Titel] Wie Hirbel ins Heim kam, warum er anders ist als andere und ob ihm zu helfen ist. [= Untertitel] (Peter Härtling, 1973). In jüngster Zeit findet eine gewisse Angleichung an allgemeinliterarische Praxen statt: Eine Autorin wie Kirsten Boie zeigt eine Vorliebe für den puren Titel (Paule ist ein Glücksgriff, 1985; Ich ganz cool, 1992). Wenn sich Gattungsangaben finden, so lauten diese oft nur noch "Erzählung" oder "Roman" (Mirjam Pressler: Bitterschokolade. Roman, 1980).
Besonderheiten hinsichtlich der Kinder- und Jugendliteratur
Der Einband war bis weit hinein ins 19. Jahrhundert noch keine Verlegersache (Wittmann 1999, S. 262 und 316). Mit dem Vordringen des Verlegereinbandes um 1870 eröffnete sich ein neuer paratextueller Signalbereich, dem innerhalb der kinder- und jugendliterarischen Kommunikation eine große Bedeutung zugewachsen ist: Gemeint ist der feste (Buch-)Einband, den Genette dem verlegerischen Peritext zurechnet, da er in der Regel nicht vom Autor, sondern vom Verlag gestaltet wird (Wittmann 1999, S. 29ff.); mit Bezug auf die französische Buchkultur spricht Genette nicht vom Einband, sondern vom – nur am Buchrücken befestigten – Umschlag). Konkret handelt es sich um die vordere Einbandseite (Außentitel; bei Genette die Umschlagseite eins), die hintere Einbandseite (Buchrückenseite; bei Genette die Umschlagseite vier) sowie den Einband- bzw. den Buchrücken. Hinzutreten kann als weiterer paratextueller Signalbereich der Schutzumschlag mit der (äußeren vorderen) Umschlagseite eins, den (inneren) Umschlagseiten zwei und drei, der (äußeren hinteren) Umschlagseite vier, dem Umschlagrücken sowie der vorderen und hinteren Klappe.
Die hier angesprochenen paratextuellen Signalbereiche sind durchgängig von beiden kinder- und jugendliterarischen Teilkommunikationen in Anspruch genommen worden. Dabei zeigt sich auf der Ebene der Einband- bzw. Schutzumschlaggestaltung eine buchgeschichtliche Besonderheit: Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sucht das Kinder- und Jugendbuch mit einer besonders spektakulären Einbandgestaltung die Aufmerksamkeit der kindlichen und jugendlichen Leser zu erregen. An erster Stelle wäre die Verwendung einer auffallenden und anziehenden Außenillustration und die sorgfältige grafische Gestaltung der Einbandvorderseite, später dann der Schutzumschlagseite eins zu nennen. Der erste Eindruck, den ein Buch von seiner äußeren Aufmachung her vermittelt, ist für kindliche und jugendliche Leser von größerer Bedeutung als für erwachsene Leser; eben deshalb ist dieser Signalbereich der paratextuellen Kommunikation bereits frühzeitig von der Kommunikation des Senders mit dem kindlichen und jugendlichen Adressaten in Anspruch genommen worden. Die professionellen Vermittler von heute wissen, dass die Einbandgestaltung in erster Linie die jungen Leser ansprechen und zur Lektüre des Buches motivieren soll, weshalb sie so manches Lockmittel tolerieren.
Hinweise für erwachsene Vermittler finden sich freilich auch heute noch auf der Einbandvorderseite von Kinder- und Jugendbüchern; genannt seien hier nur die Erwähnung von Auszeichnungen und Preisen, welche für Kinder und Jugendliche in der Regel kein Argument darstellen. Die hintere Einbandseite (bzw. die Schutzumschlagseite vier) erweist sich, sofern sie nicht leer bleibt, länger noch als ein Feld der exklusiven Kommunikation mit den erwachsenen Vermittlern – etwa dadurch, dass Empfehlungen von namhaften Autoritäten oder Auszüge aus positiven Besprechungen abgedruckt werden. Ähnliches gilt für die beim Schutzumschlag vorhandenen Klappen, auf denen gelegentlich noch heute Texte ausschließlich für erwachsene Vermittler abgedruckt sind. Hinweise etwa zu Leben und Werk des Autors, Herausgebers oder Bearbeiters vermögen jedoch auch Klappentexte zu vermitteln, die sich offiziell an Kinder und Jugendliche richten. Auf dem Einbandrücken sind seit längerem die Altersangaben platziert (gelegentlich in Gestalt von Punkten: ab 6 = 1 Punkt; ab 8 = 2 Punkte; ab 10 = 3 Punkte; ab 12 = 4 Punkte).
Text aus "Literatur für Kinder und Jugendliche. Eine Einführung in die Grundbegriffe der Kinder- und Jugendliteraturforschung." 2., überarbeitete und aktualisierte Auflage. München: W. Fink, 2012. Mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Bibliografie
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- Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorwort von Harald Weirich. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt am Main, New York: Campus, 1992 (Studienausgabe).
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- Janik, Dieter: Die Kommunikationsstruktur des Erzählwerks. Ein semiologisches Modell. Bebenhausen: Rotsch, 1973.
- Kahrmann, Cordula/Reiß, Günter/Schluchter, Manfred: Erzähltextanalyse. Eine Einführung. Überarbeitete Neuausgabe. Königsstein/Ts.: Athenäum, 1986.
- Laudenberg, Beate: Das Titelbild von Kinder- und Jugendbüchern – mehr als ein visueller Kaufanreiz und "stummer Impuls"?! In: BildText-Zeichen lesen. Intermedialität im didaktischen Diskurs. Hrsg. von Gudrun Marci-Boehncke. München: Kopäd, 2006. S. 93-104.
- Link, Hannelore: Rezeptionsforschung. Eine Einführung in Methoden und Probleme. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: Kohlhammer, 1976 (= Urban-Taschenbücher; 215).
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- Wittmann, Reinhard: Geschichte des deutschen Buchhandels. München: Beck, 1999.