Explikat 

Rassismus ist ein Herrschaftssystem, das Menschen nach bestimmten Merkmalen (wie z. B. 'Hautfarbe') in verschiedene Kategorien einteilt. Die eigene Gruppe gilt als überlegen, sichert sich Privilegien und wertet die andere Gruppe als unterlegen ab. Die Konstruktion von Nicht-Weißen[1] als 'anders' führt in einer rassistischen Ordnung dazu, dass Weiße als vermeintliche Norm selbst unsichtbar bleiben und dementsprechend 'unmarkierte Markierer' sind (Frankenberg 1999, S. 1). Somit hängen sprachliche Formen der Rassifizierung (also der rassistischen Praxis) oft mit der Benennung bzw. Nicht-Benennung von Menschen und den dahinterstehenden Machtpositionen zusammen. Die rassifizierte Gruppe wird zudem homogenisiert. 

Rassismus hat sich auf struktureller, institutioneller sowie personeller Ebene tief in die gegenwärtige deutsche Gesellschaft eingeschrieben. Dennoch wird das Thema Rassismus in Deutschland z. B. durch Bezeichnungen wie 'Fremden- oder Ausländerfeindlichkeit' teilweise noch immer bagatellisiert. Der Vorwurf, ein:e 'Rassist:in' zu sein, führt schnell zu starker Ablehnung. Diese kollektive Abwehrhaltung weißer Menschen in der Auseinandersetzung mit Rassismus wird als white fragility beschrieben. Rassismus als gesamtgesellschaftliches Problem anzuerkennen und als solches ernst zu nehmen, kann ein schmerzhafter Prozess sein, denn Rassismus findet sich selbst in populären und scheinbar harmlosen Gegenständen wie Kinderbücher. Für die Internalisierung von Rassismus finden sich Beispiele aus allen gesellschaftlichen Bereichen. 

Forschungsgeschichte 

Die Kritische Weißseinsforschung versteht Weißsein als soziale Konstruktion und setzt sich explizit und selbstreflexiv mit der eigenen Positionierung und den damit verbundenen Privilegien auseinander. Auma stellt in ihrem Konzept der "rassifizierte[n] Machtdifferenz" (Eggers 2020, S. 56) differenzorientierte Konstruktionsprozesse anhand von vier konstitutiven Ebenen dar. In der ersten Markierungspraxis wird eine Gruppe als 'anders' abgewertet und 'Wissen' in dichotomischer Weise über sie generiert. Diese Fremdmarkierung wird als Othering bezeichnet. In einem nächsten Schritt der Naturalisierungspraxis werden die vorangegangenen scheinbaren Eigenschaften der Gruppe als natürlich gegeben dargestellt. Die anschließende Hierarchisierung der sozialen Grenzziehung ist Teil der hierarchischen Positionierungspraxis. In einer letzten Ausschlusspraxis etablieren sich Ausgrenzungsmechanismen gegenüber der rassifizierenden Gruppe. 

Denk- und Handlungsmuster, die auf einer solchen rassistischen Vorstellung beruhen, werden bereits in der Kindheit erlernt und verinnerlicht. Mit zwei Jahren sind Kleinkinder fähig, 'Geschlechter' und 'Hautfarben' zu erkennen und zu unterscheiden. Im Alter von drei Jahren lernen sie, ob und inwiefern diese Kategorien gesellschaftliche Anerkennung erfahren und übernehmen Abneigungen gegenüber gesellschaftlich abgewerteten Gruppen (vgl. Boldaz-Hahn 2008, S. 103f.) "Noch bevor sie in den Kindergarten kommen, wissen Kinder schon, was Rassismus bedeutet, welche Hautfarbe richtig und welche ein Fehler ist" (Wollrad 2011, S. 379). Das Projective Doll-Play-Interview zeigt diese Internalisierung von Rassismus anschaulich. Die befragten Kinder bevorzugten unabhängig von ihrer eigenen 'Hautfarbe' mehrheitlich weiße Puppen, denen sie positive Attribute zuordneten, während sie Schwarze Puppen mit negativen Attributen versahen (vgl.: Doll Test: https://www.youtube.com/watch?app=desktop&v=tkpUyB2xgTM [31.07.2022]). Die Internalisierung einer solchen rassifizierenden Wahrnehmungsweise wird, nach Terkessidis, rassistisches 'Wissen' genannt (vgl. Terkessidis 1998, S. 257). "Rassismus fungiert folglich als Wahrnehmungs- und Deutungssystem und bedarf keiner bewussten Intention" (Hangen 2022, S. 17). Derzeit nehmen rassismuskritische Ansätze verstärkt Intersektionalität, also die Verschränkung verschiedener Diskriminierungsformen, in den Blick, um die verschiedenen Lebensrealitäten von Menschen ernst zu nehmen. 

Rassistische Kategorien in der Literatur 

Rassistische Vorstellungen in der Literatur äußern sich in unrealistischen Bildern und kolonialen Einstellungen. Sie lassen sich in verschiedenen Kategorien zusammenfassen. Ein Grundprinzip des Rassismus ist Othering, die bereits erwähnte abwertende Praxis der "VerAnderung" (Reuter 2002, S. 146). Darauf aufbauend folgt oftmals eine Homogenisierung von Schwarzen Menschen oder afrikanischen Ländern durch pauschale und überspitzte Zuschreibungen in Texten oder Bildern. "Durch permanente Wiederholungen schleichen sich [solche] Stereotype subtil in individuelle Wahrnehmungen ein und werden dann als gegeben, eindeutig und natürlich angenommen" (Arndt/Hornscheidt 2004, S. 47). Zielscheibe solcher (oftmals erotisierender) Stereotype sind vor allem Schwarze Körper und Schwarze Menschen, denen Eigenschaften wie naiv, kindlich, irrational oder kriminell beigemessen werden. Aber auch Afrika als Ganzes wird als Raum für weiße Projektionen genutzt: als romantisierter Sehnsuchtsort mit unberührter Natur und Wildheit. Durch diese Exotisierung "[…] dient Afrika weißen Menschen als Ventil, um Sorgen sowie Begierden auf den afrikanischen Kontinent auszulagern" (Hangen 2022, S. 37). Während in dieser Faszination für Afrika einerseits eine scheinbare Idealisierung und Aufwertung mitschwingt, wird der Kontinent andererseits durch die Dichotomien von Natur und Kultur abgewertet, indem ihm eine angebliche 'Primitivität' und 'Rückschrittlichkeit' im Gegensatz zu europäischer 'Zivilisation' und 'Modernität' nachgesagt wird. "Dabei wird impliziert, dass es eine Entwicklungsstufe gäbe, die als normal zu setzen sei und die es erlaube, andere als niedriger stehend zu charakterisieren" (Hornscheidt 2004, S. 191). Dieses Narrativ blendet afrikanische Geschichte sowie starke Wirtschaftsleistungen und Metropolregionen einfach aus (vgl. Hangen 2022, S. 47). Schließlich treiben die Animalisierung von Schwarzen Menschen und die Unterstellung des 'Kannibalismus' als Relikt des Kolonialismus die Entmenschlichung Schwarzer Menschen auf die Spitze. "Nur durch die Dehumanisierung und Dämonisierung der zu erobernden Bevölkerung konnten die durch Weiße verübten Grausamkeiten gerechtfertigt bzw. verschleiert werden" (Bauer 2004, S. 161). Neben diesen Kategorien entspringen auch hierarchische Narrative von weißen Held:innen gegenüber Schwarzen Opfern rassistischen Fantasien. Dem Phänomen des white saviorism liegt eine weiße Vorherrschaft und Überlegenheit zugrunde. Konkret zeigt es sich in Handlungen, in denen weiße Personen als aktiv handelnde Retter:innen dargestellt werden, während Schwarze Menschen als passive und bedürftige Figuren erscheinen. Dieses Muster wird in Verbindung mit dem kolonialen Gedanken eines 'Erziehungsauftrags' von Weißen gegenüber Schwarzen vielfach in der 'Entwicklungszusammenarbeit' eingesetzt (vgl. Hangen 2022, S. 55). Grundsätzlich fällt besonders in Texten mit eurozentrischer Perspektive die verharmlosende Verwendung von problematischen Begriffen wie beispielsweise 'Entdeckung' auf. Meist bleibt dabei ein Verweis auf die gewaltsame europäische Kolonialisierung aus. Nicht zuletzt stellt die Nennung von Fremdbezeichnungen für Schwarze Menschen eine rassistische Praxis dar. 

Grundlagen einer rassismuskritischen Lektüre 

Die Bedeutung einer rassismus- und diskriminierungskritischen Lektüre liegt auf der Hand: "Schließlich sind Sprache und Literatur wirkmächtige und folgenreiche Elemente, indem sie Machtverhältnisse abbilden und Realitäten beeinflussen können. Insbesondere Kinderliteratur setzt als einflussreiches Vermittlungsmedium sehr früh in der Sozialisation von Kindern an" (Hangen 2022, S. 63). Zudem kann Literatur für Kinder und Jugendliche Repräsentation und Vorbilder schaffen, mit denen sie sich identifizieren können. 

Bei einer rassismuskritischen Lektüre ist es zunächst interessant zu betrachten, aus welcher Perspektive geschrieben wird. Ist die* oder der* Autor:in weiß oder BIPoC? Und inwiefern hat sich die schreibende (vor allem als weiße) Person mit ihrer Position auseinandergesetzt? Viele Autorschaftstheorien plädieren dafür, unabhängig von der* oder dem* Autor:in die Bedeutung des Textes zu erschließen, sei es durch die Bezüge zu anderen Texten, Diskurse oder der "Geburt des Lesers" (Barthes 2000, S. 193). Eine rassismuskritische Lektüre bedarf allerdings der Untersuchung dieser Kategorie "Autor:in". Denn schlussendlich stammt jeder Text aus der Feder einer Person, die als solche eventuell ihre jeweiligen (un)bewussten Bilder und Vorstellungen (in diesem Fall von Schwarzen Personen oder afrikanischen Ländern und Kulturen) weiterträgt, wenn sie darüberschreibt. Daher ist eine Auseinandersetzung mit den eigenen internalisierten Vorstellungen und eine selbstreflexive Positionierung der Autor:innen wichtig. 

Folgende Fragen können bei einer rassismuskritischen Lektüre Orientierung bieten: Tauchen BIPoC in der Geschichte auf und wenn ja, welche Rollen nehmen sie ein? Wenn sie als Held:innen mit komplexer Persönlichkeit auftreten sowie selbst Entscheidungen treffen und Probleme lösen, ist das ein gutes Zeichen. Dagegen ist es auffällig, wenn sie "nur passive und auf Hilfe angewiesene Randfiguren und Vertreter:innen stereotyper und kulturalistischer Vorstellungen" (Hangen 2022, S. 23f.) abbilden. Werden unterschiedliche Länder und Kulturen gleichwertig beschrieben? Begegnen sich Schwarze und weiße Charaktere auf Augenhöhe? Wenn beispielsweise Rassismus in der Geschichte eine Rolle spielt, schließt sich die Frage an, ob Strategien thematisiert werden, wie mit Rassismus umgegangen werden kann. Um einen intersektionalen Ansatz zu wählen, ist es wichtig, andere Diskriminierungsformen in den Blick zu nehmen und weitere Diversity-Dimensionen zu untersuchen. Wird Vielfalt abgebildet und positiv dargestellt? Insgesamt geht es um eine rassismuskritische und diversitätssensible Verwendung von Bildern und Sprache. 

Es zeigt sich, dass Rassismus offen oder versteckt in verschiedenen (teils noch kolonialen) und sich überlagernden Narrativen zum Vorschein kommt. Durch die Internalisierung rassistischer Inhalte in der Kindheit fallen diese den Leser:innen teilweise nicht als solche auf, sondern werden als selbstverständlich wahrgenommen. "Das umfassende Korpus von rassistischen Informationen bildet einen 'Wissenskomplex', der jederzeit abrufbar und erweiterbar ist, ohne dass die rassistische Ideologie als solche bewusst wahrgenommen wird" (Hangen 2022, 16). 

Mittlerweile gibt es ein ganzes Repertoire an rassismuskritischen Leselisten wie unter anderem die Bücherliste zu unterschiedlichen Lebensrealitäten von GLADT e.V., einer Selbstorganisation von Schwarzen und queeren Menschen (vgl. https://heimatkunde.boell.de/de/2014/02/27/buecherliste-zu-unterschiedlichen-lebensrealitaeten, 01.10.2022). Doch solche Empfehlungen sollten ebenso mit rassismuskritischen Standards wie den oben genannten Leitfragen überprüft werden, da auch hier vermeintlich antirassistische Bücher problematische Inhalte aufweisen können (vgl. Hangen 2022, S. 64). Besonders in der Kinderliteratur ist eine Tendenz zu mehr Diversität zu beobachten. Eine umfassende strukturelle Diversifizierung des Literaturbetriebs steht noch aus. Und noch mehr: Eine gesamtgesellschaftliche Transformation, in der rassistisches 'Wissen' verlernt und Rassismuskritik neu verinnerlicht wird, wäre ein wichtiger Schritt. 


Bibliografie 

Sekundärliteratur 

  • Arndt, Susan; Hornscheidt, Antje: "Worte können sein wie winzige Arsendosen.". Rassismus in Gesellschaft und Sprache. In: Susan Arndt; Antje Hornscheidt (Hg.): Afrika und die deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Münster: Unrast, 2004, S. 11–74.
  • Barthes, Roland: Der Tod des Autors (1968). In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. v. Fotis Jannidis u.a. Stuttgart: Reclam, 2000, S. 185193.
  • Bauer, Marlene: 'Kannibalen/Kannibalismus'. In: Susan Arndt; Antje Hornscheidt (Hg.): Afrika und die deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Münster: Unrast, 2004, S. 160–163.
  • Boldaz-Hahn, Stefani: 'Weil ich dunkle Haut habe…' – Rassismuserfahrungen im Kindergarten. In: Petra Wagner (Hg.): Handbuch Kinderwelten. Vielfalt als Chance – Grundlagen einer vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung. Freiburg im Breisgau: Herder, 2008, S. 102–112.
  • Eggers, Maureen Maisha: Rassifzierte Machtdifferenz als Deutungsperspektive in der Kritischen Weißseinsforschung in Deutschland. In: Maureen Maisha Eggers; Grada Kilomba; Peggy Piesche u.a. (Hg.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. 4. Aufl. Münster: Unrast Verlag, Juli 2020, S. 56–72.
  • Frankenberg, Ruth: Introduction: Local Whitenesses, Localizing Whiteness. In: Ruth Frankenberg (Hg.): Displacing Whiteness. Essays in Social and Cultural Criticism. 2. Aufl. Durham and London: Duke University Press, 1999, S. 1–33.
  • Hangen, Catharina: Die Funktion von Kinderliteratur am Beispiel von internalisiertem Rassismus. Re_produktion und Vermittlung von Rassismus in ausgewählten Kinderbüchern der Gegenwart. Freie Universität Berlin, 2022. http://dx.doi.org/10.17169/refubium-36266. 
  • Hornscheidt, Antje: 'primitiv/Primitive'. In: Susan Arndt; Antje Hornscheidt (Hg.): Afrika und die deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Münster: Unrast, 2004, S. 190–193.
  • Reuter, Julia: Ordnungen des Anderen. Zum Problem des Eigenen in der Soziologie des Fremden, Bielefeld: transcript Verlag, 2002 (Sozialtheorie).
  • Terkessidis, Mark: Psychologie des Rassismus, Opladen [u.a.]: Westdeutscher Verlag, 1998.
  • Wollrad, Eske: Kinderbücher. Koloniale Echos – Rassismus in Kinderbüchern. In: Susan Arndt; Nadja Ofuatey-Alazard (Hg.): Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk. Münster: Unrast Verlag, 2011, S. 379–389.  

Internetquellen 


[1] Um zu verdeutlichen, dass es sich nicht um biologische Merkmale, sondern um soziale, konstruierte Kategorien handelt, wird Schwarz groß und weiß kursiv geschrieben. Diese politischen Positionierungen zeigen, dass auf der einen Seite Schwarze Menschen von Rassismus betroffen sind und auf der anderen Seite weiße Menschen von Rassismus profitieren. Begriffe wie 'Rasse' oder 'Hautfarbe' werden mit einfachen Anführungszeichen versehen, um auf ihren Konstruktionscharakter hinzuweisen. Während hier der Fokus auf anti-Schwarzem Rassismus liegt, gibt es daneben weitere Formen wie antimuslimischen Rassismus oder Gadje-Rassismus (Rassismus gegen Sinti:zze und Rom:nja). Es werden Selbstbezeichnungen Schwarzer Menschen wie BIPoC (Black, Indigenous, People of Colour), Afrodeutsche oder Natives verwendet. Der Genderdoppelpunkt ermöglicht eine gendergerechte Sprache, die alle 'Geschlechter' einbezieht.