Explikat

In der Diskussion um gute Bilderbücher stößt man wieder mehr und mehr auf die Forderung, dass Sprache (Text) und Inhalt aber auch Bilder in Bilderbüchern "kindgemäß" sein sollten, da sich ein Bilderbuchmarkt entwickle, in dem oft das Kind als Adressat verloren gehe. Vielmehr stehe heutzutage die künstlerisch-ästhetische Intention, also die individuelle Auseinandersetzung der AutorInnen und IllustratorInnen mit bildnerischen Gestaltungsmitteln sowie das Hinterfragen des Erzählens im Bilderbuch an sich, d.h. das bewusste Auflösen narrativer Strukturen, im Vordergrund (vgl. Thiele 2002, Zeit online/ Thiele 2005, S. 145).

Doch sind Kinder überhaupt in der Lage diese sog. Konstruktionen und Dekonstruktionen von Text und Bild zu entziffern und nachzuvollziehen? Was kategorisiert Kindgemäßheit und wie wirken gerade Bilder in Bilderbüchern auf den kindlichen Rezipienten?

Gudrun Hollstein beurteilte schon 1999, dass es keine allgemeingültige Definition von Kindgemäßheit geben könne. Sie begründet dies u.a. damit, dass es "die Kinder" (Hollstein 1999, S. 41) nicht gäbe und daher auch keine allgemeingültigen Aussagen getroffen werden könnten, die auf jedes Kind gleichermaßen zuträfen. Nach Jens Thiele eröffneten sich gleichfalls keine konkreten Aussagen über kindliche Entwicklungsprozesse und ebenso wenig eindeutige Nachweise, wie Kinder Bilderbücher wahrnehmen, was eine Begriffseingrenzung ebenso erschwert (vgl. Thiele 2003, S. 189).

Heutzutage wird der Begriff "kindgemäß" im Kontext aktueller Vorstellungen von guten Bilderbüchern, wiederum neu eingestuft. Bilderbücher, so scheint es, haben häufig den Anspruch sich vom rein-kindlichen oder rein-erwachsenen Adressaten zu lösen. Ein vermeintlich gutes Bilderbuch zeichne sich heute dadurch aus, das es Deutungsansätze für alle Rezipienten eröffne, mit ästhetischen Mitteln spiele und zugleich narrative Konventionen aufbreche, die es kritisch zu hinterfragen gelte (vgl. Thiele 2002, Zeit online). Oftmals bezeichnen kindgemäße Bilderbücher auch jene, die der kindlichen Lebenswirklichkeit und den Bedürfnissen der Kinder, in Bezug auf die erzählten Geschichten, nahestünden, damit diese z.B. kulturelle Basisqualifikationen ausbauen können (vgl. Thiele 2005, S. 143).

Doch wie sollen Kinder im Grundschulalter, die sich noch im Prozess ihrer Identitätsbildung befinden, Bild- und Erzählkompetenzen erlangen, wenn ihnen in Bilderbüchern nur noch bruchstückhafte Strukturen eröffnet werden? Denn gerade diese Kompetenzen befähigen die Kinder Geschichten, Bilder oder Texte und deren Zusammenhänge zu verstehen.

Problematisch ist die Beurteilung dessen, was wirklich kindgemäß ist, auch deshalb, weil Erwachse über ausgebildete Bild-, Text- und Erzählkompetenzen sowie ein ausgeprägteres Wissen als der kindliche Rezipient verfügen, weshalb es uns oft schwer falle deren Verarbeitungsmöglichkeiten eindeutig erfassen zu können (vgl. Haase 1997, S. 23.) Der Begriff des Kindgemäßen sei letztendlich ein von Erwachsenen entworfenes Konstrukt, dass sich an die Kategorien des "Einfachen und Linearen" (Thiele 2002, Zeit online) halten solle. Dabei sei der Begriff jedoch nicht falsch zu verstehen und mit dem Erzählen und Betrachten von "kuscheligen Geschichten und niedlichen, bunten Bildern" (ebd. 2002) gleichzusetzen. Vielmehr ginge es bei modernen kindgemäßen Bilderbüchern darum, die Neugier und das Interesse des Kindes zu wecken, zum genauen Hinsehen zu ermuntern und dazu zu verhelfen "die Suche nach elementaren Erfahrungen im ästhetischen Bereich zu befriedigen, es zur aktiven Auseinandersetzung mit ästhetischen Phänomenen zu motivieren" (Thiele. 2003, S. 189) und vor allem einen Freiraum für die eigene kritische Sichtweise zu eröffnen. In diesem Kontext solle auch das "kindgemäße Bild" dazu auffordern, Fragen zu stellen und Rätsel aufzugeben (vgl. ebd. 2003, S. 189). Daher könne auch nicht vorhergesagt werden, auf welche spezielle Art und Weise Kinder oder Erwachsene Bilder in Bilderbüchern nun tatsächlich wahrnehmen. Subjektive und unbewusste Augenblicke entschieden mitunter darüber, ob ein Bild Interesse weckt oder Ablehnung beim Rezipienten hervorruft (vgl. ebd. 2003, S. 189 f.).

Letztendlich, so mutet es an, stehen sich die Verfechter der am Kind orientierten Literatur und die Vertreter ästhetisch-erfindungsreicher und kritisch-reflexiver Bilderbücher gegenüber. Den AutorenInnen und IllustratorInnen von Bilderbrüchen sei jedoch nicht der Zwang auferlegt ihre Bilderbücher ausschließlich aufgrund wissenschaftlicher, entwicklungspsychologischer oder pädagogischer Einsichten zu schreiben und zu bebildern. Der Anspruch der neuen Kinder und- Jugendliteratur läge nach Thiele jedoch vordergründig auf dem Heranführen der Kinder an "die symbolischen Formen literarischen Erzählens und bildnerischen Darstellens" (Thiele 2002, Zeit online). Neben dem Trend, mit Bildern also auch literarisch und künstlerisch-reflexiv umzugehen, um somit gleichfalls erwachsene Leser anzusprechen, sollte das elementare "Geschichten-Erzählen" für Kinder nicht in Vergessenheit geraten (vgl. ebd. 2002).


Bibliografie

  • Haase, Beate: Welches Buch für welches Kind: Ein Vorschlag zur Definition und Einschätzung von Kindgemäßheit bei Kinderbüchern aus psycholinguistischer Sicht. Münchner Diss. München: Universität, 1997.
  • Hering, Jochen: Von der Flüchtigkeit zur Betrachtung. In: KIND-BILD-BUCH, Zeitschrift des BIBF, Bremer Institut für Bilderbuch- und Erzählforschung, 03/2007. S. 5-9.
  • Hollstein, Gudrun: Werkstatt Bilderbuch. Allgemeine Grundlagen, Vorschläge und Materialien für den Unterricht in der Grundschule. Landau: Knecht, 1999.
  • Thiele, Jens: Das Bilderbuch: Ästhetik - Theorie - Analyse - Didaktik - Rezeption. Oldenburg: Isensee, 2003.
  • Thiele, Jens: Dem Kind gemäß? Wenn Texte und Bilder das Erzählen dekonstruieren. In: Stenzel, Gudrun: Kinder lesen - Kinder leben. Kindheiten der Kinderliteratur. Weinheim: Juventa, 2005. S. 143- 152.

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