Die Entstehung des modernen Theaters für Kinder und Jugendliche

Die Idee des modernen Theaters für Kinder und Jugendliche ist inzwischen über ein Jahrhundert alt. Die ersten derartigen Spezialtheater, in denen professionelle erwachsene Künstlerinnen und Künstler für junges Publikum spielten, entstanden in den 1920er-Jahren in Sowjetrussland im Gefolge der Oktoberrevolution und als Teil einer Bildungspolitik im Dienst des Aufbaus der kommunistischen Gesellschaftsordnung. Die Bedeutung des Kinder- und Jugendtheaters für die politisch-ideologische Erziehung in der Sowjetunion fand ihren Ausdruck in der wachsenden Zahl der Theater für junge Zuschauer im ganzen Land, bis 1940 entstanden 70 derartige Theater. Damit war das TJuS[1] als künstlerische Institution etabliert und die arbeitsteilige Struktur einer künstlerischen und einer pädagogischen Abteilung war weitgehend institutionalisiert (vgl. van de Water 2003).

Repertoire und Ästhetik im Dienst der sozialistischen Bewusstseinsbildung

In der 1949 gegründeten Deutschen Demokratischen Republik (DDR) wurde das Kinder- und Jugendtheater ebenfalls als gesellschaftliche Kraft zur sozialistischen Erziehung der Jugend begriffen. Zwischen 1946 und 1969 entstanden sechs eigenständige Kinder- und Jugendtheater[2] und seit 1963 sollten alle Theater in der DDR pro Jahr zwei Stücke für junges Publikum produzieren. Alle Kinder- und Jugendtheater wurden nach sowjetischem Vorbild als Stadttheaterbetriebe mit personalintensiver Arbeitsteilung betrieben. Dazu gehörten auch pädagogische Abteilungen, die das Verhältnis von Theater und Schule und die Zusammenarbeit mit den jungen Zuschauerinnen und Zuschauern gestalteten und beratend bei der Spielplangestaltung mitwirkten.

Das Kinder- und Jugendtheater nahm seinen Auftrag zur sozialistischen Bewusstseinsbildung und ideologischen Erziehung der Kinder und Jugendlichen an und behauptete gleichzeitig seine Eigenarten und seine Besonderheit als Kunst (vgl. Hoffmann 1972, S. 369 f.). Als künstlerischer Teil des staatlichen Bildungs- und Erziehungssystems und gleichberechtigte Sparte im Theatersystem der DDR war es gesellschaftlich hoch angesehen und wurde dementsprechend gefördert. Die institutionellen und strukturellen Grundprinzipien blieben grundlegend für die Arbeit der Kinder- und Jugendtheater bis zum Ende der DDR. Die  künstlerischen Konzeptionen, die Ästhetik und die Inhalte änderten sich jedoch im Verlaufe der weiteren Entwicklung.

Die zentralen Themen der Zeit, mit denen sich das Theater für Kinder und Jugendliche in den ersten zwei Jahrzehnten nach der Gründung der DDR zu beschäftigen hatte, waren der Aufbau der sozialistischen Gesellschaft und die sich daraus ergebenden Konflikte. Angesichts der zweistaatlichen Entwicklung in Deutschland war zudem die Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung gegenüber dem Kapitalismus zu zeigen. Diese eher abstrakten Themen mussten in spannenden Geschichten mit glaubwürdigen Figuren erzählt werden. Den Zeitstücken, die sich mit Themen der Gegenwart beschäftigten, lag oft ein dramaturgisches Grundprinzip zugrunde: ein Einzelner arbeitet zunächst gegen die Interessen des Kollektivs, entwickelt sich und findet schließlich seinen Platz als wertvolles Mitglied des Kollektivs (vgl. Hoffmann 1976, S. 116-122). Weitere Repertoirelinien waren historische Stücke, die sich auf Ereignisse der proletarisch-revolutionären und antifaschistischen Vergangenheit bezogen (vgl. ebd., S. 122-129), und Märchenstücke, in denen Klassengegensätze an einfachen Geschichten versinnbildlicht werden konnten. Womit auch das Märchen in seiner marxistischen Auslegung der sozialistischen Bewusstseinsbildung der Kinder und Jugendlichen dienstbar gemacht wurde (vgl. ebd., S. 144-157).

Kindgerechtes Theater für die Musische Bildung

Angesichts der Herausforderungen in der 1949 gegründeten Bundesrepublik Deutschland, eine neue demokratische Gesellschaftsform nach westlichem Vorbild zu errichten, wurde auch dem Theater eine volksbildende Funktion bei der moralischen und politischen Erziehung von Kindern und Jugendlichen zugeschrieben, allerdings anders als in der DDR nicht durch staatliche Leitlinien durchgesetzt und durch staatliche Förderung unterstützt. Anknüpfend an die pädagogische Praxis von Schülervorstellungen in der Weimarer Republik, wurde in den 1950er-Jahren das Konzept der Heranführung an das Theater als Bestandteil der „Musischen Bildung“ der Jugend wiederbelebt.

Jugendlichen ab 14 Jahren erhielten Zugang zu Klassiker-Aufführungen der Stadttheater und Klassiker der Jugendliteratur wurden für sie adaptiert. Verbunden mit dem Ziel eines ganzjährigen Spielplans für Kinder, wurde die Tradition des Märchentheaters im Stil des Weihnachtsmärchens fortgeführt. Das frühe bundesdeutsche Kindertheater machte keinen Hehl aus dem Anspruch, Kinder zu unterhalten und ihnen den Glauben an das Gute in der Welt wiederzugeben. Der restaurative Grundzug der Zeit spiegelte sich in der konservativen Auffassung vom Theater für Kinder und Jugendliche sowie in Repertoire und Stil (vgl. Doderer 1995).

In fünf Städten der Bundesrepublik und in Westberlin gab es bis Mitte der 1960er-Jahre nur acht professionelle Theater mit regelmäßigem Spielplan für junges Publikum[3], die meisten Stadt- und Staatstheater waren jedoch kaum am jungen Publikum interessiert. Die Folge waren beschränkte finanzielle, personelle und infrastrukturelle Ressourcen, die für die wenigen Sparten für Kinder- und Jugendtheater zur Verfügung gestellt wurden.

Ein neues Kindertheater für die Emanzipation der jungen Generation

Infolge der Studentenbewegung von 1968 wurde auch über den gesellschaftlichen Status von Kindern und Jugendlichen diskutiert und der bundesrepublikanischen Gesellschaft wurde Kinderfeindlichkeit attestiert. Mit einer veränderten Erziehung sollte die als autoritär empfundene Gesellschaft erneuert werden. So entstand ausgehend von einem neuen Bild vom Kind ein grundsätzlich neues Konzept vom Kinder- und Jugendtheater. Initiatorinnen und Initiatoren waren aber nicht diejenigen, die bis dahin unter schwierigen finanziellen Bedingungen und ohne gesellschaftliche Anerkennung Theater für junges Publikum gemacht hatten. Vielmehr wurde dieser Neuanfang ästhetisch, politisch und strukturell von den neuen Akteurinnen und Akteuren der Freien Theater wie dem Kindertheater im Reichkabarett, aus dem später das GRIPS Theater hervorging, dem Theater Rote Grütze, Hoffmanns Comic Theater und dem Birne Theater in Westberlin geprägt. Auf der Bühne des antiautoritären Kindertheaters, das seit den 1970er-Jahren als emanzipatorisches Kindertheater bezeichnet wird, erlebte man Kinderfiguren als Gegenbilder zur empirischen Kindheit und diese utopischen Konstruktionen der erwachsenen Künstlerinnen und Künstler repräsentierten das Kindheitsbild der Achtundsechziger (vgl. Hentschel 1994). Das neue Selbstverständnis dieses Theaters für Kinder und Jugendliche, nach dem alle Impulse vom Kind ausgehen sollten, wurde in der Folge prägend für das Verständnis des Kinder- und Jugendtheaters in der gesamten Bundesrepublik.

Wegweisend für ein zeitgenössisches Theater für Kinder und Jugendliche war aber auch die Entwicklung einer neuen Ästhetik und einer, für die damalige künstlerische Praxis des Kindertheaters außergewöhnlichen, realistischen Spielweise. Die künstlerischen Quellen des GRIPS Theaters waren das politische Kabarett und das epische Theater Bertolt Brechts. In den Stücken wurden Geschichten aus der sozialen Realität der jungen Zuschauende erzählt, die ihre Lebenswirklichkeit auf der Bühne wiedererkennen und ihre konkrete Lebenssituation als veränderbar begreifen sollten (vgl. Taube 2015). Erstmals konnte man in der Bundesrepublik von einer echten Gegenwartsdramatik für junges Publikum sprechen.

Die neuen Stücke und die bahnbrechende Ästhetik des emanzipatorischen Kindertheaters fanden enormen Widerhall in der künstlerischen Praxis des Theaters für Kinder und Jugendliche in der gesamten Bundesrepublik, aber auch in anderen westeuropäischen Ländern veränderten diese das Selbstverständnis und den gesellschaftlichen Anspruch des Kinder- und Jugendtheaters nachhaltig.

Das Poetische als ästhetischer Gegenentwurf zum Emanzipatorischen

Das Konzept des emanzipatorischen Theaters und der Erfolg seiner Stücke waren in den 1980er-Jahren Initialzündung für die Gründung von Sparten für Kinder- und Jugendtheater an Stadt- und Landestheatern. Gleichzeitig entstanden immer mehr Freie Theater, die für junges Publikum produzierten. Sie orientierten sich, nach dem Vorbild der ersten freien Kindertheater in Westberlin, an den Prinzipien der Mitbestimmung und kollektiven Arbeitsweise. Mit ihrer Arbeit haben sie die Ästhetik des Kinder- und Jugendtheaters wesentlich mitgeprägt und entscheidend dazu beigetragen das sich in der Bundesrepublik bis heute eine breite und vielfältige Kinder- und Jugendtheater-Landschaft entwickelt hat.

Doch schon bald entbrannte ein leidenschaftlicher, ideologisch geprägter Streit, um die aufklärerische Didaktik des emanzipatorischen Kinder- und Jugendtheaters. Den Stücken und Aufführungen der noch vor kurzem gefeierten Pioniere eines neuen, zeitgenössischen Theaters für Kinder und Jugendliche wurde die künstlerische Qualität abgesprochen, weil sie erkennbar auf didaktische Wirkungen zielten. Der Ruf nach theatralischem Theater, nach dem sinnlichen, bildhaften Theatererlebnis wurde laut. Und fortan setzten viele Theatermacherinnen und -macher mit ihrem, als poetisch postulierten Kindertheater, statt auf möglichst eindeutige Interpretation, auf die sinnliche Kraft der Theatralität und auf szenische Poesie, um Möglichkeiten für das emotionale Erleben zu schaffen, die der Alltag nicht bietet. Damit vertrauten sie auf die ästhetische Vieldeutigkeit als bildende Wirkung der Theaterkunst.

Die ästhetischen Impulse und Stücke für dieses Theater suchten die Künstlerinnen und Künstler nun im Ausland. Gastspiele von Kinder- und Jugendtheatern aus Schweden oder den Niederlanden zeigten Kinderfiguren in Geschichte, die nicht dem Alltag entstammen, sondern durch parabelhafte Überhöhung oder Historisierung eine Distanz zur Lebenswirklichkeit von Kindern schufen.[4] Märchen, Mythen und historische Stoffe dienten als Folie, um innere Konflikte und Wachstumsprozesse darzustellen. Die Stücke beschäftigten sich mit dem Status des Kindes im Verhältnis zu den Erwachsenen und Kindheit wurde als eine Zeit des Leidens gezeigt. Bewusstseinsvorgänge, Gedanken, Emotionen und das innere Erleben der Kinderfiguren rückten in den Mittelpunkt des künstlerischen Interesses (vgl. Hentschel 2007).

Das neu entdeckte Verhältnis zum Publikum: Beziehung statt Erziehung

In den 1960er- und bis zur Mitte der 1970er-Jahre entwickelte sich die Theaterarbeit für junges Publikum in der DDR zu einer eigenständigen Theaterform mit hohem künstlerischen und pädagogischen Anspruch. Die jungen Zuschauerinnen und Zuschauer wurden nicht als Objekte der Erziehung begriffen, sondern als Partner der Künstlerinnen und Künstler, die im gemeinsamen Prozess der Aufführung als Subjekte selbstbestimmt agieren. Ein auf Wahrheit und Partnerschaft mit den jungen Zuschauern gründendes Theater sollte die Kinder zu selbstständigem Denken und schöpferischem Handeln aktivieren (vgl. Hoffmann 2006). Der souveräne junge Zuschauer wurde zunehmend auch mit einem Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit konfrontiert, der die gültigen Prinzipien des sozialistischen Realismus unterlief. Das Kinder- und Jugendtheater legte das Menschenbild der allseits entwickelten sozialistischen Persönlichkeit neu aus, das sich angesichts autoritärer Strukturen des real existierenden Sozialismus in der Wirklichkeit nicht entfalten konnte.

Zu Beginn der 1980er-Jahre stagnierte die künstlerische Entwicklung des Kinder- und Jugendtheaters in der DDR. Nicht mehr die Bedürfnisse der Heranwachsenden standen im Fokus, sondern die künstlerische Qualität, deren Maßstab von den Künstlern selbst bestimmt wurde. In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre, als sich die gesellschaftlichen Widersprüche in der DDR zuspitzten, wandelte sich die gesellschaftliche Funktion des Theaters insgesamt, das sich immer deutlicher als kritische Öffentlichkeit verstand. Auch im Kinder- und Jugendtheater wurde dieser Wandel sichtbar, denn es hatte seinen Platz im Theatersystem der DDR als anerkannte künstlerische Institution gefunden und die jungen Zuschauerinnen und Zuschauer standen wieder im Zentrum der Aufmerksamkeit. Das Kinder- und Jugendtheater begriff sich nun nicht mehr als Teil des staatlichen Bildungssystems, sondern als künstlerischer Partner von Volksbildung und Schule (vgl. Taube 2011, S. 292).

Dieser Paradigmenwechsel zeigte sich in den Spielplänen beispielhaft in zwei Themen von gesellschaftskritischer Sprengkraft. Stücke und Inszenierungen handelten von der Verantwortung des Kollektivs für das Individuum und vom Verhältnis einer kindlich-naiven Weltsicht zu Macht und Autorität. In märchenhaft anmutenden, parabelhaften Geschichten wurde die Würde des Einzelnen und deren Gefährdung durch mangelnde Menschlichkeit des Kollektivs thematisiert und das kritische Potential einer naiven Geisteshaltung als individuelle Widerstandsstrategie gezeigt. Solche Stücke waren Ausdruck der neuen Haltung zum Publikum als gleichberechtigtem Partner der Theater, die 1989 mit dem Titel eines Konzeptionspapiers des Theaters der Jungen Generation Dresden auf die Formel „Beziehung statt Erziehung“[5] gebracht wurde (vgl. Hoffmann 2008). Damit wurde der ideologisch konnotierter Bildungsauftrag von den Künstlerinnen und Künstlern des Kinder- und Jugendtheaters kritisch umgedeutet. Durch das neu definierte Verhältnis zum Publikum und die zunehmende Distanzierung vom pädagogischen System der Volksbildung entstand eine ästhetisch vielfältigere Theaterkunst für junges Publikum in der DDR.

Auf der Suche nach einer gemeinsamen Identität

Mit der deutschen Vereinigung standen auch die Kinder- und Jugendtheater in den alten und neuen Bundesländern vor der Aufgabe, die innere Einheit herzustellen. Folglich waren die 1990er-Jahre vor allem vom Annäherungsprozess zweier historisch bedingt unterschiedlicher Landschaften des Kinder- und Jugendtheaters bestimmt, bei dem es darum ging, die Vorzüge der westlichen und der östlichen Traditionen zu verstärken, um die strukturelle Entwicklung des gesamtdeutschen Kinder- und Jugendtheaters voranzutreiben. Das hieß, im Osten die eigenständigen Theater zu erhalten, im Westen in jeder größeren Stadt zumindest eine Sparte am Stadttheater einzurichten und die freie Szene bundesweit zu etablieren (vgl. Schöbel 1996, S. 48-59). Aus der historischen Distanz darf das als weitestgehend gelungen eingeschätzt werden. Zwei Drittel der heute existierenden Theater für junges Publikum sind in den drei Jahrzehnten nach der deutschen Einheit entstanden (vgl. Renz 2017).

Neben der strukturellen Entwicklung ging es immer auch um die Suche nach einem gemeinsamen künstlerischen Selbstverständnis. Dabei prallten ästhetische Auffassungen aufeinander und ein Verständnis für die gewachsenen Arbeitsweisen und unterschiedlichen Arbeitsbedingungen der jeweils anderen musste entstehen.

Zu Beginn der 1990er-Jahre war dieses Theater hauptsächlich textbasiertes Schauspieltheater. Die literarische Qualität und das szenische Potential von Theatertexten für junges Publikum wurden als wesentliche Kriterien für die künstlerische Entwicklung des Kinder- und Jugendtheaters begriffen, und in der Förderung des Schreibens erkannte man den Ansatzpunkt zur Erweiterung des Repertoires. Das 1989 auf Initiative der bundesdeutschen ASSITEJ eingerichtete Kinder- und Jugendtheaterzentrum entwickelte ein bundesweit wirksames System der Förderung von Autorinnen und Autoren für das Kinder- und Jugendtheater, das bald seine Wirkung auf den Bühnen der Theater zeigte. Und auch die Einflüsse der Dramatik für junges Publikum aus den europäischen Nachbarländern, der Schweiz und den Niederlanden, aus Italien und aus Skandinavien, die bereits in den 1980er-Jahren künstlerische Impulse zur Entwicklung gegeben hatte, verstärkten sich.

Mit dem Wachsen einer eigenständigen Dramatik für junge Zuschauer wuchs auch das künstlerische Selbstbewusstsein des Kinder- und Jugendtheaters, das sich seiner pädagogischen Konnotation zu entledigen suchte und für sich die uneingeschränkte Anerkennung als Kunst beanspruchte. Das zeigte sich auch in einem differenzierteren Kindheitsbild in den Stücken. Weder sollten die Kinderfiguren vorbildhaft die Welt verändern, noch wurden sie idealisiert. Sowohl ihrem Leiden an der Welt als auch dem Zwang zur Fröhlichkeit wurde ein Ende gesetzt (vgl. Hentschel 2007). Die Stücke waren zunehmend geprägt durch die Dramaturgie des Traumspiels oder auch die epische und episodische Dramaturgie des sich durch italienische und schweizerische Einflüsse entwickelnden Erzähltheaters. Gleichzeitig erschloss sich das Kindertheater andere szenische Ausdrucksformen, deren Assoziationskraft nicht auf der poetischen Mehrdeutigkeit der Texte beruhte, sondern durch körpersprachliche und tänzerische Elemente sowie die Ausdruckskraft von Dingen und Objekten verstärkt wurde.

Im Jugendtheater prägten, neben Klassikeradaptionen, Themenstücke die Spielpläne. Mit Themen aus dem Alltagsleben von Jugendlichen wie Drogen, Gewalt, Sexualität, psychische Störungen und Bindungslosigkeit wurden, in der Gesellschaft als problematisch diskutierte, Aspekte des jugendlichen Daseins bearbeitet und oft ein defizitäres Bild vom jungen Menschen gezeichnet. Es wurden entweder abschreckende Beispiele gezeigt, die vor Gefahren und Risiken warnten oder die Stücke zeigten Lösungswege, mit denen Jugendliche ihr Verhalten ändern sollten. Während das Kindertheater seinen pädagogischen und aufklärerischen Habitus ablegte, rang das Jugendtheater um sein Selbstverständnis und knüpfte, zumindest mit den Themenstücken, an die Tradition des sozial eingreifenden, emanzipatorischen Jugendtheaters an.

Erweiterung der künstlerischen Perspektiven: Darstellende Künste für junges Publikum

Das Theater für junges Publikum hat sich in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts geöffnet und viele Abgrenzungen aufgegeben, die seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zur Betonung seiner Legitimität als Kunstform errichtet wurden. Aus einem, ständig seine Exklusivität betonenden, Spezialtheater ist ein Theater für alle Altersgruppen geworden, mit künstlerischem Fokus auf den Interessen und Bedürfnissen des jungen Publikums. Es stellt nicht mehr die Trennungslinie zum Theater für Erwachsene heraus, die noch in den 1990er-Jahren kulturpolitisch motiviert war. Es grenzt sich nicht mehr vom Theaterspiel der Kinder und Jugendlichen ab, sondern versteht sie als künstlerische Partner der Theaterkünstlerinnen und -künstler. Im Zusammenspiel mit ihnen werden die Jugendlichen, als Experten ihrer Lebenswelt, selbst zu Akteuren auf den Bühnen des Theaters für junges Publikum. In dieser Öffnung manifestiert sich die Bedeutung der jungen Zuschauerinnen und Zuschauer. Sie sind zentraler Bezugspunkt und Orientierungsrahmen der Theaterarbeit, Kommunikationspartner, Feedbackgeber und unverzichtbarer Teil der Aufführung. Darüber hinaus werden Gremien, wie Kinder- und Jugendbeiräte, zur Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an Entscheidungsprozessen, an immer mehr Theatern eingerichtet. Damit wird das junge Publikum als integraler Mitgestalter begriffen und zur Emanzipation und Mitbestimmung befähigt.

Das Theater für junges Publikum in Deutschland erzählt seine Geschichten längst nicht mehr nur mit den Mitteln des Schauspieltheaters, sondern entdeckt auch andere künstlerische Ausdrucksformen. Es ist für vielfältige künstlerische Einflüsse des zeitgenössischen Theaters durchlässiger und dadurch lebendiger geworden. Es bedient sich der ganzen Bandbreite von Ausdrucksmitteln der darstellenden Künste: Tanz, Musiktheater, Schauspiel, Performance, Puppen- und Objekttheater und arbeitet selbstverständlich spartenübergreifend. Zudem öffnet es sich für Theatermacherinnen und -macher außerhalb der Szene des Kinder- und Jugendtheaters, die sowohl für Erwachsene als auch für Kinder und Jugendliche arbeiten und ein Bewusstsein für das jungen Publikum entwickelt haben. Auch dadurch wird die Palette der szenischen Ausdrucksformen erweitert.

Bis Mitte der 2000er-Jahre galt in Deutschland die Überzeugung, dass Kinder unter fünf Jahren die im Theater erzählten Geschichten nicht verstehen und deshalb als Publikum nicht in Frage kommen. Dahinter stand ein Bild vom Kleinkind, das noch kein richtiger Mensch ist und erst ein Mensch werden muss. Doch Künstlerinnen und Künstler in Italien, Frankreich und Skandinavien hatten diese Vorstellung längst widerlegt und spielten schon lange für die jüngsten Zuschauer. Angeregt durch das Bundesmodellprojekt des Kinder- und Jugendtheaterzentrums Theater von Anfang an hat sich das Theater für Kinder von 0 bis 5 Jahren seit gut anderthalb Jahrzehnten auch in Deutschland entwickelt und damit nicht nur ein neues Publikum entdeckt und das Kindheitsbild modernisiert, sondern auch einen Beitrag zur ästhetischen Ausdrucksvielfalt geleistet. Denn in diesem Theater sind Bilder, Töne, Klänge, Bewegungen, Materialität und Körper gleichberechtigte Ausdrucksmittel, wobei die Sprache oder gar Texte eine untergeordnete Rolle spielen (vgl. Taube 2009).

Trotz aller Öffnungen für andere künstlerische Ausdrucksformen ist das Theater für junges Publikum noch immer ein Theater der Autorinnen und Autoren mit einem wachsenden und thematisch vielfältigen Repertoire an Theaterstücken aus dem In- Ausland. Die Autoren begreifen das Theater konsequent als Ort der Auseinandersetzung mit der empirischen Wirklichkeit und schreiben Texte, die sich vielfältiger Methoden der Weltaneignung bedienen – fantastischer oder rationaler, magischer oder symbolischer. Das Theater für junges Publikum thematisiert die Auswirkungen der globalen Menschheitsprobleme auf die individuelle Lebenswirklichkeit des jungen Publikums, ergreift Partei für das Schicksal von Schwachen und Außenseitern, bezieht sich zunehmend auf die kulturelle Vielfalt der Gesellschaft und setzt sich mit Fragen der Inklusion und Barrierefreiheit auseinander. So ermächtigt es Kinder und Jugendliche zu Selbstverantwortung und Selbstbestimmung.

Die gesamte Landschaft des Theaters für junges Publikum in Deutschland wächst, und Jahr für Jahr kommen neue Theater hinzu. Die Theaterkunst für Kinder und Jugendliche ist heute als integraler Bestandteil der Theaterarbeit in Deutschland etabliert und eine souveräne und gesellschaftlich wie politisch anerkannten Kunstform für Kinder und Jugendliche.

Sekundärliteratur

Doderer, Klaus: Geschichte des Kinder- und Jugendtheaters zwischen 1945 und 1970. Konzepte, Entwicklungen, Materialien. Frankfurt/ M. [u. a.]: Peter Lang. 1995.

Hengst, Heinz/ Michael Köhler/ Barbara Riedmüller/ Manfred Max Warmbach: Kindheit als Fiktion, Frankfurt/ M.: edition suhrkamp. 1981.

Hentschel, Ingrid: Das Kind ist gut, das Leben schlecht … oder wer sieht eigentlich durch den Spiegel. Kindheitsbilder im emanzipatorischen Kindertheater. In: Richard, Jörg (Hg): Kindheitsbilder im Theater. Frankfurt/ M.: Haag + Herchen. 1994.

Hentschel, Ingrid: Seismographen von Kindheit. Pädagogische und ästhetische Entwicklungen im Kindertheater. In: Taube, Gerd (Hg.): Kinder spielen Theater. Spielweisen und Strukturmodelle des Theaters mit Kindern. Berlin [u. a.]: Schibri-Verlag. 2007, S. 102-121.

Hoffmann, Christel: Drama und Theater für junge Zuschauer. 1950-1969. In: Mittenzwei, Werner (Hg.): Theater in der Zeitenwende. Zur Geschichte des Dramas und des Schauspieltheaters in der Deutschen Demokratischen Republik. 1945-1968. Berlin (DDR): Henschelverlag. 1972.

Hoffmann, Christel: Theater für junge Zuschauer. Sowjetische Erfahrungen – Sozialistische deutsche Traditionen – Geschichte in der DDR. Berlin (DDR): Henschelverlag. 1976.

Hoffmann, Christel: spiel.raum.theater. Aufsätze, Reden und Anmerkungen zum Theater für junge Zuschauer und zur Kunst des Darstellenden Spiels. Frankfurt/ M. [u. a.]: Peter Lang. 2006.

Hoffmann, Christel (Hg.): Gedacht – Gemacht. Programmschriften und Standpunkte zum deutschen Kinder- und Jugendtheater von 1922-2008. Frankfurt/ M. [u. a.]: Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland. 2008.

Renz, Thomas: Kinder- und Jugendtheater in Deutschland. Erkenntnisse und Herausforderungen. Herausgegeben von der ASSITEJ e.V. Frankfurt/ M.: ASSITEJ e.V.. 2017.

Richard, Jörg: Theater und Jugendkultur. Für die darstellerische Ausdrucksvielfalt des Spiels im Medienzeitalter. In: Schneider, Wolfgang (Hg.): Grimm & Grips 1. Jahrbuch für Kinder- und Jugendtheater 1987/88. Frankfurt/ M.: Verlag der Autoren. 1987. S. 54-64.

Schöbel, Manuel: Was ist das – deutsches Kindertheater? In: Israel, Annett/ Silke Riemann (Hg.): Das andere Publikum. Deutsches Kinder- und Jugendtheater. Berlin: Henschel. 1996.  S. 48-59.

Taube, Gerd: First Steps – Erste Erträge. Zu ästhetischen Eigenarten des Theaters für die Jüngsten. In: Droste, Gabi dan (Hg): Theater von Anfang an! Bildung, Kunst und frühe Kindheit. Bielefeld: transcript. 2009. S. 87-101.

Taube, Gerd: Kinder- und Jugendtheater der Gegenwart. In: Lange, Günther (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Ein Handbuch. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. 2011. S. 290-306.

Taube, Gerd: Die Idee eines zeitgenössischen Kinder- und Jugendtheaters. Weichenstellungen in den Siebzigern. In: kjl&m 67 (2015) H. 1. München: kopead. 2015. S. 32-38.

Water, Manon van de: Der Kampf zwischen Kunst und Pädagogik. Zur historischen Rolle und ideologischen Funktion des Theaters für junge Zuschauer. In: Schneider, Wolfgang/ Gerd Taube (Hgg.): Kinder- und Jugendtheater in Russland. Tübingen: Narr Verlag. 2003. S. 2-22.

Fußnoten

[1] TJuS ist eine Abkürzung für die russische Bezeichnung „Teatr Junogwo Sritelja“ (Theater des Jungen Zuschauers“ bzw. „Teatr Junych Sritelej“ (Theater für junge Zuschauer).

[2] Leipzig: Theater der Jungen Welt, 1946; Dresden: Theater der jungen Generation, 1949/1950; Berlin (Ost): Theater der Freundschaft, 1950; Halle: Theater der jungen Garde, 1952; Erfurt, Kindertheater, 1952; Magdeburg: Theater für Junge Zuschauer, 1969 (vgl. Hoffmann 1976, 111).

[3] Nürnberg: Theater der Jugend an den Städtischen Bühnen Nürnberg, 1949; Dortmund: Kinder- und Jugendtheater an den Städtischen Bühnen Dortmund, 1953; München: Münchner Märchenbühne, 1953, seit 1958 Theater der Jugend; Frankfurt am Main: Theater der Jugend an der Landesbühne Rhein-Main, 1962; Hamburg: Kindertheater am Jungen Theater (heute Ernst-Deutsch-Theater), 1956 und Theater für Kinder, 1967; Berlin (West): Berliner Kammerspiele, 1962 (ab 1966 in eigenem Haus); Kindertheater im Reichskabarett, 1966/seit 1972 GRIPS Theater (vgl. Doderer 1996).

[4] Vertreter des emanzipatorischen Kindertheaters kritisierten am poetischen Kindertheater, dass es ein Theater sei, das den Rückzug des Subjekts aus der Realität betone (vgl. Richard 1987).

[5] Dieser Titel ist identisch mit einer Überschrift der Publikation Kindheit als Fiktion von Hengst u.a. 1981. In dem betreffenden Abschnitt wird die Macht von Erwachsenen über Kinder thematisiert und dieses Herrschaftsverhältnis kritisiert. Dieser Hintergrund macht die historische Tragweite der Neukonzeption deutlich.


Prof. Dr. Gerd Taube, Theaterwissenschaftler, ist seit 1997 Leiter des Kinder- und Jugendtheaterzentrums in der Bundesrepublik Deutschland in Frankfurt am Main und Künstlerischer Leiter der nationalen Biennale des Theaters für junges Publikum AUGENBLICK MAL! in Berlin. Er ist Honorarprofessor am Institut für Jugendbuchforschung der Goethe Universität, Frankfurt am Main mit dem Lehrgebiet Theorie und Geschichte des Kinder- und Jugendtheaters und dramatische Literatur für Kinder und Jugendliche. E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.


Eine Version dieses Beitrags erschien ursprünglich in:

  • Taube, Gerd: Vom Kinder- und Jugendtheater zu den Darstellenden Künsten für junges Publikum. In: : kjl&m 74 (2022) H. 2. München: kopaed. 2022. S. 3-11.

Veröffentlichung mit Erlaubnis des Verlags.