Explikat

Die Beschreibung des Essens erscheint als eine alltägliche unbedeutende Einzelheit einer Handlung, hinter der sich jedoch ein mehrschichtiges Motiv befindet, das zur Hervorhebung genutzt wird. 

In Fabeln wie auch Sprichwörtern lässt sich die literarische Verarbeitung der Nahrungsaufnahme bis in die Antike zurückverfolgen z.B. "Die großen Fische fressen die kleinen" oder "Fressen oder gefressen werden".

Die jeweilige Bedeutung erschließt sich grundsätzlich aus dem vorliegenden Kontext. Eine genaue Beschreibung der Tischsitten einer Gesellschaft kann die Missstände durch Konzentration auf veraltete Konventionen bedeuten. Die Wiedergabe von Tischgesprächen beim Essen versucht dem Lesepublikum oft belehrende Hinweise auf richtige Umgangsformen zu verdeutlichen. 

Bedeutung in der Literatur

Die Ausarbeitung von Essszenen dient zur Anspielung auf Charaktereigenschaften, zunächst um positiv individuelle Merkmale hervorzuheben. Besonders im 20. Jahrhundert wurde das Individuum durch detaillierte Beschreibung von Essszenen vermehrt abgewertet und der Leser bewusst beeinflusst, diese Charakterisierung anzunehmen. Beispielsweise wird eine Romanfigur als besonders gierig, gefräßig und unersättlich dargestellt. Generell wird allgemein ein zu großes Vergnügen am Essen schnell als Gier und Gefräßigkeit hingestellt. Der Verzicht auf Essen oder zumindest ein maßvolles Verhalten bei Tisch schmeichelt den Charakter und evoziert ein positives Selbstbild. 

Auch der Kannibalismus findet Einzug in die Motivik und wird bevorzugt in Satiren genutzt um auf Missstände der Zeit hinzuweisen. Bereits in den Märchen der Brüder Grimm wird das Motiv der Menschenfresser/in aufgegriffen und ist somit nicht nur Erwachsenen, sondern auch Kindern vertraut. In Märchen wird häufig durch das Verspeisen eines Körperteils eine besondere Fähigkeit vom Verspeisten auf den Esser übertragen. Zum Beispiel verlangt die böse Stiefmutter Schneewittchens Herz und Lunge, um sie zu verspeisen bzw.  um Schneewittchens Schönheit auf sich zu übertragen.  

Hingegen wird das Verweigern von Essen von Autoren genutzt um den Protagonisten positiv hervorzuheben. Zum Beispiel verzichtetet der Meisterdetektiv Sherlock Holmes während seiner Ermittlungen oft auf Nahrung, da ihn das zu sehr vom Wesentlichen ablenken würde. Der Nahrungsverzicht setzt die Nahrungsaufnahme hinab und erhebt den Hungernden auf eine höhere Ebene. Auch Kafka bediente sich des Hungernden (Ein Hungerkünstler). Hungerkünstler waren bereits im Mittelalter bekannt, vor allem hungerten junge Mädchen und Frauen als Beweis ihres Glaubens zu Gott. Wie Kafka in Ein Hungerkünstler darstellte, wurde das Hungern als Kunst und zur Unterhaltung genutzt, um das Publikum zu faszinieren.

Die Verweigerung des Essens aufgrund eines Traumas ist allgemein bekannt und wird häufig in der Literatur verwendet, z.B. bei Liebeskummer oder nach Verlust eines geliebten Menschen. Die Ereignisse, welche das ritualisierte Essverhalten der Menschen unterbrechen, erfahren dadurch eine außergewöhnliche Aufwertung. Sie versinnbildlichen die Verweigerung der eigenen menschlichen Natur. Schneewittchens Biss von dem roten Apfel stellt beispielsweise eine andere Verkörperung der Ursünde Evas dar. Die Aussagen der Zwerge in "Wer hat von meinem Tellerchen gegessen? Wer hat von meinem Becherchen getrunken?" deuteten darauf hin, dass Veränderungen bei einem solch lebensnotwendigen Thema sofort wahrgenommen und durchaus auch sanktioniert werden. 

Eine allgemeingültige Konvention für die Interpretation von Essensbeschreibungen gibt es nicht. Sie ist aus dem jeweiligen Kontext zu schließen. Oft lässt sich die Handlung jedoch in ein Genre einordnen. Besonders häufig sind Darstellungen von Essen in Abenteuer- und Reiseromanen vorhanden. 

Bedeutung in der Kinder- und Jugendliteratur

Das Essensmotiv spielt in der Kinder- und Jugendliteratur eine zentrale Rolle zur Bildung von symbolischen Sinnzusammenhängen. Vorstellungen von einem Schlaraffenland lassen sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen und sind zu Beginn des 19. Jahrhunderts zum Inhalt der Kinderliteratur geworden. Ludwig Bechsteins Fassung von einem Schlaraffenland, die er in seinem Werk Deutsches Märchenbuch festhielt, erhöhte den Bekanntheitsgrad des Schlaraffenlandes immens. Es ist zu einem Symbol für eine Welt geworden, in der keine Normen mehr gelten und es keine Entbehrungen gibt. Im Schlaraffenland wird die Essenslust und Begierde verdeutlicht. 

Generell finden sich in der Kinder- und Jugendliteratur sehr viele pädagogische Einflüsse, z.B. in Wilhelm Buschs Max und Moritz. Die Schadenfreude der beiden Jungen an ihren Streichen, z.B. der Tod der Hühner, veranschaulicht den sorglosen Umgang der beiden mit dem Essen und auch die zwangsläufigen Folge für die beiden Jungen: Sie sterben. Die Zähmung des Verhaltens von Kindern wurde in vielen anderen Romanen veranschaulicht, z.B. Pinocchio und Der Struwwelpeter. Die Handlungen liefern ein anschauliches Bild, wie versucht wird die kindlichen Leser zu beeinflussen. In Hänsel und Gretel war das fehlende Essen der Anlass für die Eltern, ihre Kinder auszusetzen und der Hunger führte diese zu der Hexe, die sie mästete und verspeisen wollte. Pinocchio ist aus Holz und braucht kein Essen, will aber von ganzem Herzen ein "echter" Junge sein. Als er von einem Wal verschluckt wird zeigt sich, dass er nur überlebte weil er aus Holz und somit unverdaulich war. Struwwelpeter gehorchte den Anweisungen beim Tisch nicht und brachte sich dadurch selbst um.

Auch in den aktuellen und sehr populären Abenteuerromanen von Enid Blyton herrscht ein ritualisiertes Essverhalten. Entweder essen die Kinder im Haus und müssen sich bei Tisch artig benehmen, da der Professor die Kinder nicht leiden kann. Die Mahlzeiten sind meistens sehr angespannt und Gespräche werden während des Essens nicht geduldet. Sobald sie sich außerhalb des Hauses befinden, bekommen sie von der Ehefrau des Professors einen Picknickkorb zusammengestellt. Dieser Korb enthält alles was sie sich wünschen können und wird detailliert beschrieben. An dieser Stelle fehlt der moralische Fingerzeig auf die übermäßige Lust am Essen noch größtenteils und die Freude an einer Mahlzeit in einer angenehmen Gesellschaft tritt in den Vordergrund.

In den Harry-Potter-Romanen wird Harry von seinen Verwandten physisch und psychisch drangsaliert. Im zweiten Band schließen ihn die Dursleys in seinem Zimmer ein und führen ihm mittels einer Art Katzenklappe in der Zimmertür Essen zu. Dieses ist oft sehr schlecht, kalt und dazu auch noch zu wenig. Die Ehefrau von Vernon Dursley, Petunia, ist mager - im Gegensatz zu ihrem beleibten Mann. Auch der Sohn Dudley hat überdimensionierte Körpermaße. Dudley wird im vierten Band auf Diät gesetzt und automatisch wird die ganze Familie gezwungen mitzumachen. Von seinen Freunden bekommt Harry Essenspakete geschickt, an dir er mit Genuss und Freude, während der nun sehr mageren gemeinsamen Mahlzeiten, denkt. Sie symbolisieren die Freundschaft zu seinen Freunden und gleichzeitig grenzt ihn dieses Essverhalten von seinen Verwandten ab. 

Die Bedeutung des Grundbedürfnisses nach Nahrung ist von enormer Wichtigkeit und erhält dadurch einen hohen Rang. Selbst Kinder begreifen schnell, was es bedeutet, kein Essen zu bekommen. Der Hunger ist physisch und transportiert hauptsächlich eine negative Bedeutung, z.B. Verzicht, Versagen und Leiden. 

Essen hatte seit jeher eine wichtige Rolle für den Menschen und gilt als besonders beachtenswert. Oftmals lassen sich anhand der Tischsitten bzw. des Umgangs mit dem Essen, Charakterzüge einer Figur ausmachen. Zu viel zu essen bedeutet meist gierig zu sein und zu dick zu sein steht für Faulheit und einen Mangel an Disziplin. Zu anderen Zeiten galt Fettleibigkeit als Symbol des Reichtums und des Status, denn nur wer reich war konnte sich in Krisenzeiten ernähren. Dadurch können Kinder zu Dieben werden, wenn sie nur durch Diebstähle genug zu essen bekommen. Es liefert ihnen einen Deckmantel und lässt sie weniger schuldig erscheinen. Solche Darstellungen von Leid kommen vor allem in Werken zum Tragen, in denen Kindern nicht länger grundsätzlich jedes Problem vorenthalten wird, also nach der Abkehr von der sogenannten Schonraumpädagogik der 1950er Jahre.

Umso subjektiv schöner gestalten sich die Festbankette, Tafelrunden, Picknickkörbe und Familienessen in der Kinder- und Jugendliteratur. Leid und Freude sind für die kindlichen Leser an einem natürlichen Prinzip, wie Hunger und Sättigung, besonders gut nachzuvollziehen. 


Bibliografie

  • Barker, Keith: The Use of Food in Enid Blyton‘s Fiction. London: Springer, 1982 (= Children's Literature in Education, 13).
  • Daemmrich, Horst S. und Ingrid G.: Themen und Motive in der Literatur: Ein Handbuch. 2. Auflage. Tübingen: Francke, 1995.
  • Katz, Wendy R.: Some uses of food in children‘s literarture. London: Springer, 1980 (= Children's Literature in Education, 11).
  • Kiss, Kathrin: Nahrung Zeit. Über das Zusammenspiel zwischen Eßakten und Identität in den Kinderbüchern Pippi Langstrumpf und Momo. In: Z: Zeitschrift für Kultur- und Geisteswissenschaften 4 (1997) H. 13. S. 61-72.
  • Neuhaus, Volker/Weyer, Anselm: Küchenzettel. Essen und Trinken im Werk von Günther Grass. Frankfurt am Main: Peter Lang GmbH, 2007.
  • Spinner, Kasper: Symbolik des Essens in der KJL. In: 1000 und 1 Buch: das österreichische Magazin für Kinder und Jugendliteratur 3 (2004). S. 4-8.
  • Tucker, Nicholas: The Rise and Rise of Harry Potter. London: Springer, 1999 (= Children's Literature in Education, 30).